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KRIEG/1518: Siechtum in Sirte - NATO holt zum finalen Schlag gegen Gaddafi-Libyen aus (SB)



Die NATO setzt den "Schutz" der libyschen Zivilbevölkerung unerbittlich weiter fort. Am Dienstag flog sie 105 Einsätze, davon 21 Angriffsflüge, teilweise unter Verwendung schwerer Waffen. Nach einer wochenlangen Belagerung der "Gaddafi-Hochburg" Sirte, bei der den Ärzten die Patientinnen und Patienten wegen Strom- und Sauerstoffmangels sowie schwindender Narkotika, Schmerzmittel und anderer medizinischer Ausrüstung unter dem Skalpell wegstarben, wurde der Bevölkerung nun von den ostlibyschen Warlords eine Frist von zwei Tagen eingeräumt, in der sie die Stadt "freiwillig" verlassen konnte. Wer fortan bei der laufenden Eroberung noch angetroffen wird, muß damit rechnen, für einen Feind gehalten und getötet zu werden. "Wir wollen eine große Zahl ziviler Opfer vermeiden", wird ein Sprecher der Truppen des Nationalen Übergangsrats vom Hamburger Abendblatt (4.10.2011) zitiert. Bedeutet diese Aussage nicht, daß die Belagerer bereits fest mit einer etwas weniger großen Zahl an zivilen Opfern rechnen?

In den NATO-Analysen dürfte der unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevölkerung herbeigebombte Regimewechsel in Libyen als Modellfall für zukünftige Interventionen betrachtet werden. Wenngleich die Verhältnisse in jedem Land anders sind, liefert die "Operation Unified Protector" den Militärs Erkenntnisse von weitreichender Gültigkeit. Erstens: Befreiungsbewegungen lassen sich vollständig okkupieren und für eigene Interessen instrumentalisieren. Zweitens: Mit Hilfe fortgesetzter Luftangriffe, ohne eigene Bodentruppen, können selbst kampfunerfahrene Milizionäre an die Macht gebombt werden. Drittens: Mit hegemonial konkurrierenden Ländern lassen sich auf dem Verhandlungsweg vorübergehende Bündnisse schließen, sofern es ihnen als vorteilhaft verkauft wird.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu, doch ihre Bestätigung durch den Libyenkrieg verschafft der NATO eine Sicherheit, mit der sie in Zukunft weitere Vorwandslagen ausnutzen kann, um die eigenen hegemonialen Interessen durchzusetzen. Nach dem Ende der Blockkonfrontation vor zwanzig Jahren hat sich der westliche Militärpakt neue Aufgaben gestellt und sie gefunden. Hatte der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien noch rund ein Jahr der Vorbereitung bedurft, so konnte die Frist beim Krieg gegen das Gaddafi-Libyen auf wenige Wochen, im engeren Sinn sogar Tage, reduziert werden.

Zeitgleich mit solchen Hegemonialkriegen am Rande Europas und von ähnlichen Motiven getragen baut die NATO-Kernmacht USA ihre Fähigkeit, punktuell Menschen oder Gruppen nach Belieben eliminieren zu können, weiter aus. Von einem Netz an Militärbasen in der Großregion Ostafrika, Arabische Halbinsel und Indischer Ozean werden Drohnen gestartet, mit denen unter Mißachtung der nationalen Souveränität ein Terrorkrieg gegen alle unliebsamen Personen geführt wird. Teils wenig beachtet, teils von großem Hurra der Medien begleitet werden per Knopfdruck mutmaßliche Verdachtspersonen samt ihren mehr oder weniger zufälligen Begleitpersonen umgebracht.

Auch wenn das Gaddafi-Regime durchaus stark repressive Züge besaß, gegen die Widerstand zu entwickeln allemal berechtigt war, liefert die jetzige Lage hierzu nicht den geringsten emanzipatorischen Gegenpart. Zwischen den kriegführenden libyschen Milizen und den friedlichen Demonstranten des arabischen Frühlings in Tunesien und Ägypten könnte der Unterschied kaum größer sein.

Die NATO-Staaten schärfen am Beispiel Libyen ihre Instrumente, mit denen zukünftige "Herausforderungen" in Angriff genommen werden. In einigen Ländern der Erde geschehen schlimmere Dinge, als sie das Gaddafi-Regime angeblich der Bevölkerung angetan hat oder antun wollte, ohne daß der westliche Militärpakt dem auch nur annähernd mit gleichem Engagement begegnete. Die Sicherung des Rohstoffnachschubs, in diesem Fall des Erdöls, erscheint somit als ein plausibleres Motiv als Menschenrechtsverletzungen, weswegen die NATO ausgerechnet in einem Land militärisch interveniert, das sich in den letzten Jahren durchaus auf den Westen zubewegt hat.

Doch der Raub ist strategisch angelegt und geht weiter über die Sicherung von Rohstoffen hinaus. Einiges spricht dafür, daß Gaddafi verschwinden mußte, weil es im Grunde genommen nicht viel bedurft hätte, um aus Libyen einen Vorbildstaat sowohl für die arabische Welt als auch für viele schwarzafrikanische Länder zu machen. Daß der libysche Revolutionsführer in der Vergangenheit Umstürze in Afrika angezettelt oder Potentaten beschützt hat, hätten ihm selbst diejenigen verzeihen können, die einen berechtigten Groll gegen ihn hegen. Denn Gaddafi hatte sich inzwischen stark für die Afrikanische Union und gegen die Abhängigkeit der bislang auf Exportwirtschaft für den Westen getrimmten afrikanischen Staaten eingesetzt. Viele Entwicklungsprojekte, die Libyen angeschoben hat, liegen nun brach. Zugleich bildete das religiös vergleichsweise freizügige Gaddafi-Libyen einen Gegenpol zum Islam, wie er beispielsweise von dem US-Verbündeten Saudi-Arabien gepflegt wird. Auch deswegen geriet Gaddafi zum Sand im Getriebe der Anstrengungen des Westens, trotz oder gerade wegen der an Einfluß gewinnenden Schwellenländer Globalhegemonie zu erlangen.

Gemäß der Ideologie der schöpferischen Zerstörung streben die Kapitalinteressen in Libyen einen Neuaufbau an. Gegenüber ihrer Fähigkeit, sich zu bereichern und unendlichen Mangel zu erzeugen, wird sich das Bereicherungsstreben Gaddafis wie die eines harmlosen Provinzgouverneurs im Verhältnis zur Zentralgewalt ausnehmen. Der Nationale Übergangsrat Libyens, der bereits von großen Teilen der internationalen Staatengemeinschaft als legitime Übergangsregierung anerkannt wird, hat bereits große Teile des Erbes des libyschen Volkes verspielt, noch bevor die Gaddafi-Anhänger die Waffen vollständig gestrichen haben. Eines ist gewiß, die NATO wird sich die bisher mehr als 25.000 Einsatzflüge und den Aufmarsch einer Kriegsflotte im Mittelmeer teuer bezahlen lassen, in welcher Form auch immer. Denn schließlich liegen mit Syrien, Jemen, Eritrea und Iran weitere "Herausforderungen" auf dem Weg zur Konsolidierung einer unipolaren Weltordnung. Wenn nicht schon die Menschenrechte und das Konzept "responsibility to protect" (Schutzverantwortung) existierten, die NATO-Staaten hätten sie erfinden müssen, um ihre Ermächtigungsstrategie, zunächst noch vorexerziert am Rande des eigenen Einflußgebiets, legitimatorisch abzustützen.

5. Oktober 2011