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KRIEG/1565: NATO justiert in Chicago die Kosten und Lasten ihrer Kriegszüge (SB)




Krieg und Frieden als alternierende und nicht selten im fließenden Übergang miteinander verschmelzende Verlaufsformen fortgeschriebener Herrschaftsverhältnisse haben vor allem eines gemein: Die Ausbeutung, Drangsalierung und Vernichtung von Menschen als Kernstück und Inbegriff von Wertschöpfung und Machterhalt. Daß die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten das Heft in der Hand haben, dokumentiert eine soeben in Berlin vorgestellte Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der zufolge der 2001 ausgerufene "Antiterrorkrieg" im Irak, in Afghanistan und Pakistan rund 1,7 Millionen Menschenleben gekostet hat [1]. Mehr als eine Million Tote allein im Irak sowie weit über 100.000 in Afghanistan und Pakistan zeugen von der Fähigkeit und Bereitschaft der vorwiegend westlichen Mächte, unter Führung der USA kapitalistische Verwertung und imperialistische Expansion um jeden Preis, den man anderen aufbürden kann, zu forcieren. Das größtmögliche Potential, diese Umlastung auf die Spitze zu treiben, ist die Überlebensversicherung und Ideologieschmiede der Eliten, die in ihrem Schlepptau die Bevölkerungen der Metropolen zumindest an den Fleischtöpfen schnuppern lassen, um Kollaboration zu generieren.

Wenngleich Krieg ob seiner unmittelbaren Zerstörungsgewalt die schrecklichste aller Bedrohungen darstellt, griffe man zu kurz, ihm dichotomisch den Frieden als erstrebenswertes Positivum gegenüberzustellen. Wie die horrende und steigende Rate der weltweiten Hungertoten und Unterernährten, der in tiefstem Elend lebenden und in unablässigen Flüchtlingsströmen umherirrenden Menschenmassen belegt, nimmt das Leiden und Sterben historisch beispiellose Ausmaße an. Das Raubsystem duldet weder Ausweg noch Alternative und erzwingt Unterwerfung im Leben wie im Tod. Daß die Kriegsführung auf einem Niveau, das selbst die NATO-Partner heillos überfordert, ungeheuer aufwendig und kostspielig ist, liegt auf der Hand, ist doch gerade der uneinholbar anmutende Vorsprung militärischer Macht das Fundament, die eigene Ökonomie zu Lasten der restlichen Welt zu befeuern. Aus Perspektive Washingtons und der westeuropäischen Hauptstädte ist diese Suprematie unverzichtbar und jede Anstrengung wert, da Hauen und Stechen nur Stärke oder Schwäche, Triumph oder Vernichtung, aber keine Koexistenz kennt.

Der von Politik und Militär der Vereinigten Staaten für notwendig erachtete Vorsprung im Kontext des atlantischen Bündnisses verschärft jedoch zwangsläufig den Widerspruch, daß mangelnde Fähigkeiten der Verbündeten, sich an der gemeinsamen Kriegsführung zu beteiligen, strategische Kapazitäten der USA binden. Der US-Botschafter bei der NATO, Ivo Daalder, beklagte jüngst vor dem Council of Foreign Relations in Washington dieses Mißverhältnis am Beispiel des Libyenkriegs. Der Einsatz sei militärisch erfolgreich und zugleich kostengünstig gewesen, da er die US-Steuerzahler nur mit einer Milliarde Dollar belastet habe. Andererseits habe dieser Krieg aber auch gezeigt, daß die europäischen NATO-Staaten in diversen Bereichen, darunter dem Auftanken von Kampfjets in der Luft, der Aufklärung und den Nachrichtendiensten, auf die USA angewiesen seien [2].

Da Washington die Verbündeten braucht, sie aber zugleich auf Abstand halten will, soll auf dem NATO-Gipfel, der am Sonntag und Montag in Chicago unter immensen Sicherheitsvorkehrungen über die Bühne geht, ein neues Konzept namens "Smart Defense" beschlossen werden. Ausgehend davon, daß der US-Militärhaushalt seit dem 11. September 2001 massiv und durchgängig gestiegen ist, während die europäischen NATO-Partner ihre Militärausgaben gekürzt haben, fordern die USA stärkere finanzielle Unterstützung ein. Da jedoch alle westlichen Staaten in tiefen Haushaltskrisen stecken, will man künftig teures militärisches Gerät zusammen anschaffen und nutzen. So sollen die Kosten angefangen von der Luftaufklärung über den baltischen Staaten und der Anschaffung von NATO-eigenen Drohnen über die Lagerung von Munition bis hin zu Meerespatrouillen, an denen die Bundeswehr besonders stark beteiligt ist, in Projekten organisiert werden, die stärker von anderen Mitgliedsländern finanziert werden.

Diese Aufgabenverteilung ist im Prinzip nicht neu und wurde schon in der Vergangenheit immer wieder justiert, als es beispielsweise galt, die deutsche Beteiligung am Irakkrieg zumindest offiziell auf einen finanziellen Tribut zu beschränken. Wie dieses Beispiel zeigt, geht es bei solchen Rollenzuweisungen nicht nur um militärische Kapazitäten, sondern insbesondere auch politische Befindlichkeiten und deren Veränderung in Richtung einer Kriegsbeteiligung mit eigenem Kontingent. Die aktuelle Beschlußlage auf dem Gipfel in Chicago muß mithin im Kontext fortgesetzter Waffengänge und Besatzungsregimes wie insbesondere in Afghanistan sowie der Freisetzung von Kapazitäten für die nächsten Angriffskriege bewertet werden.

Präsident Barack Obama möchte bei seinem auch aus innenpolitischen Gründen in Chicago abgefeierten NATO-Gipfel das fiktive Ende des Afghanistankriegs mit dem Abzug der Kampftruppen Ende des Jahres 2014 besiegeln. Er will zugleich den Verbleib US-amerikanischer Spezialverbände für weitere acht Jahre in Afghanistan sicherstellen und damit die Okkupation letztlich unbefristet fortsetzen. Um dieses Paket zu schnüren, sind neben den NATO-Mitgliedern 22 weitere Staaten, darunter auch Pakistan und Afghanistan, nach Chicago geladen. Beschlossen werden soll eine neue Mission, die sich nach 2014 mit der Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte befaßt. Vom Umfang her wesentlich kleiner als die ISAF und in ihrer Zusammensetzung obskur soll diese Truppe die Ernte des Krieges dauerhaft einfahren und das Besatzungsregime de facto fortsetzen.

Zugleich muß das afghanische Marionettenregime Hamid Karsais auch nach 2014‍ ‍mit derzeit geschätzten vier Milliarden Dollar Militärhilfe pro Jahr gestützt werden, damit sein ohnehin begrenzter Einfluß nicht vollends schwindet. Etwa die Hälfte dieser Summe wollen die USA übernehmen, den Rest sollen die Verbündeten aufbringen. Um Geld geht auch im Streit mit Pakistan, wobei man damit rechnet, daß die Aufhebung der Blockade für den NATO-Nachschub nach Afghanistan während des Gipfels bekanntgegeben wird. Vor wenigen Tagen vereinbarten die politischen und militärischen Führer Pakistans, die Transporte wieder aufzunehmen, sobald die Höhe der Transitkosten mit den USA geklärt seien. Allerdings hat das Repräsentantenhaus in Washington nun beschlossen, die Auszahlung von 650 Millionen Dollar an Pakistan so lange zu sperren, bis der Kriegsnachschub wieder läuft. Dabei wird die Zurückhaltung von Geldern, bei denen es sich um vertragliche Verpflichtungen der USA aufgrund der Beteiligung Pakistans am sogenannten Krieg gegen den Terror handelt, als Mittel der Erpressung genutzt. [3]

Da der russische Präsident dem unmittelbar vorausgegangenen G-8-Gipfel ferngeblieben und nicht zum NATO-Gipfel geladen ist, wird dessen von Obama beschworene Harmonie nicht durch Dissonanzen wie etwa Einwände Moskaus gestört. So kann man ungestört die Raketenabwehr als Vorzeigeprojekt der "Smart Defense" präsentieren und zugleich wie im Vorfeld des Gipfels unverfroren behaupten, eine Umzingelung Rußlands sei nicht geplant. An der Ausweitung des Militärbündnisses hielten die USA natürlich fest, unterstrich Celeste Wallander aus dem Pentagon bei einem Expertentreffen, das vor wenigen Tagen in Washington stattfand.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.jungewelt.de/aktuell/rubrik/titel.php

[2]‍ ‍http://www.taz.de/Nato-Gipfel-in-Obamas-Heimatstadt/!93638/

[3]‍ ‍http://www.jungewelt.de/2012/05-19/028.php

19.‍ ‍Mai 2012