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KRIEG/1569: Bundeswehr 2.0 - Ein totales Spiegelbild der Gesellschaft? (SB)




Soldaten, die sich auf dem Schlachtfeld plötzlich weigern, Kriege zu führen, die nicht die ihren sind, oder gar die Waffe gegen die eigenen Offiziere richten, sind der Alptraum jeder militärischen Führung. Rekruten, die die Gewehre senken, wenn sie im Zuge der Hungerrevolte ihre eigenen Landsleute niedermachen sollen, oder gar die Seite wechseln, stellten das Gewaltmonopol auf den Kopf, das die Gesellschaftsordnung zusammenhält. Eine Berufsarmee muß her, soll die größtmögliche Einsatzbereitschaft auch und gerade angesichts heraufziehender apokalyptischer Krisenszenarien gewährleistet sein. Das gilt auch für die Bundeswehr, die aus historischen Gründen später als die Streitkräfte der Bündnispartner von einer Wehrpflichtigenarmee auf eine Freiwilligentruppe umgestellt wird.

Düstere Zweifel und Hiobsbotschaften begleiteten diesen Umbruch, da die Furcht grassierte, man werde nach dem überstürzten Ende der Wehrpflicht nie die erforderliche Zahl an Freiwilligen finden. Als spärlich gefülltes Sammelbecken all jener, die aus Mangel an Arbeit und sozialer Perspektive in der Verpflichtung den letzten verbliebenen Notnagel sehen, mochte sich die Bundeswehr keinesfalls sehen. Da deutsches Soldatentum augenscheinlich noch immer nicht in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt war, woraus man es nach dem Untergang des Dritten Reichs verdrängt hatte, ging die Truppe in die Offensive. In einer beispiellosen Werbekampagne greift sie all jene Orte an, an denen sie potentiellen Nachwuchs vermutet, und überzieht sie bis hinein in die Schulen mit Propaganda, Hochglanzbroschüren und Roßtäuscherei.

Irgendwie scheint das sogar zu funktionieren, denn wie eine noch nicht veröffentlichte Studie des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr belegen soll, ist der freiwillige Wehrdienst beliebter als erwartet. Verteidigungsminister Thomas de Maizière, anders als sein sich selbst inszenierender Vorgänger ein kühl kalkulierender Technokrat, hatte als Maßzahl für das erste Jahr wohlweislich die weite Spanne von 5.000 bis 15.000 Freiwilligen ausgegeben. Rund 35.000 Personen haben sich in diesem Zeitraum beworben, fast dreimal so viele, wie die Armee schließlich einstellen wollte. 12.461 Soldaten wurden eingestellt, wovon allerdings jeder Vierte den Dienst abbrach, so daß rund 9.000 übrigblieben. Im Schnitt verpflichteten sich die Wehrdienstleistenden für 15 Monate, und ihre Leistungen seien besser als noch zu Zeiten der Wehrpflicht. [1]

Auch das Argument, nur Arbeitslose gingen freiwillig zur Bundeswehr, gilt angeblich als widerlegt. Vor ihrer Zeit beim Militär hatten lediglich 6,8 Prozent der Wehrdienstleistenden keinen Job. 31 Prozent haben Abitur oder Fachabitur, 35 Prozent die Mittlere Reife, 34 Prozent einen Hauptschulabschluß, meist in Verbindung mit einer Berufsausbildung - "ein totales Spiegelbild der Gesellschaft", wie das Verteidigungsministerium zufrieden bilanziert. Was die Abbrecher betrifft, liegen dem offenbar recht unterschiedliche Motive zugrunde, wobei nicht selten falsche Erwartungen den Ausschlag gaben, die sich künftig nivellieren dürften. Zieht man einen gewissen Prozentsatz an Schönfärberei und Zweckoptimismus der bundeswehreigenen Studie ab, bleibt immer noch ein ansehnliches Ergebnis für die Protagonisten äußerer und innerer Kriegsführung.

Die häufigsten Gründe, warum sich Jugendliche für den Freiwilligen Wehrdienst entschieden haben, sind eine Auszeit zwischen Abitur und Studium, das Leben als Soldat kennenlernen oder der Wunsch nach Abwechslung und einem Neustart. Um den Erwartungen entgegenzukommen, mußte sich die Bundeswehr verändern. So habe man versucht, die Wünsche der Freiwilligen nach bestimmten Diensten und Standorten zu berücksichtigen, die Soldaten umgehend über mögliche Karrierewege bei der Armee informiert und nicht zuletzt die Ausbilder in eigenen Kursen auf den neuen Nachwuchs vorbereitet, der fordernder sei und jederzeit wieder gehen könne. Nach Angaben des Wehrbeauftragten sind die Beschwerden über Umgangston und Führungsstil der Vorgesetzten jedenfalls zurückgegangen.

Als jüngst die Steuerpflicht für die Wehrdienstleistenden zur Debatte stand und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble uneingeschränkt zugreifen wollte, rang ihm das Verteidigungsministerium einen Kompromiß ab. Ab 2013 werden auch Wehrdienstleistende der Steuerpflicht unterworfen, wovon jedoch der Grundwehrsold auszunehmen ist. Dieser beträgt derzeit 280 bis 350 Euro monatlich, wozu sich noch ein ebenfalls freigestelltes Taschengeld für den Bundesfreiwilligendienst von bis zu 336 Euro gesellt. [2] Ungern erwähnt werden in diesem Zusammenhang die enormen Aufschläge für den Kriegseinsatz, die für sich genommen vielen Soldaten lukrativ genug erscheinen, um das Risiko des Todes, der Verstümmelung oder einer Traumatisierung einzugehen. Nirgendwo sonst, heißt es, kann man heutzutage auch ohne eine entsprechende fachliche Ausbildung so viel in so kurzer Zeit verdienen wie beispielsweise am Hindukusch.

Noch weniger spricht man über die traumatisierten Kriegsveteranen, die im Falle einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu Dauerpatienten werden. Jeder vierte US-amerikanische Obdachlose, jeder zehnte britische Strafgefangene ist ein Veteran. Über die deutschen "Einsatzrückkehrer", so die offizielle Bezeichnung, weiß man viel weniger, wobei selbst ihre Zahl unbekannt ist. Es müssen deutlich über hunderttausend Menschen sein, die der Bundestag in den vergangenen zwanzig Jahren ins Ausland geschickt hat, und einiges spricht dafür, daß Tausende dieser Soldaten für ihr restliches Leben geschädigt sind. Nach dem Soldatengesetz müßte die Armee nach Beendigung des Dienstverhältnisses für sie sorgen, doch in der Praxis fühlt sich für die deutschen Veteranen niemand verantwortlich. "Wir leben in dieser Frage noch in der Steinzeit", klagte selbst der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus. [3]

Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat Anfang April ein vierseitiges "Diskussionspapier" zur Veteranenpolitik vorgelegt. Wie es darin hieß, gebe es an Sozialleistungen und medizinischer Versorgung nichts auszusetzen, doch sei ein "bundesweit organisierter Tag" als "offizielle Geste der Anerkennung" zumindest "denkbar". Als es daraufhin heftige Kritik setzte - Paul Schäfer von den Linken mutmaßte, der Minister wolle "Kampfeinsätze und Kriegsführung" gesellschaftsfähig machen - vertagte de Maizière kurzerhand die leidige Geschichte. Für zuständig hält sich der Minister ohnehin nicht: "Wir müssten eigentlich zu Veteranentagen, oder wie immer man das nennt, eingeladen werden und sie nicht veranstalten", findet er.

Längst hat Bundespräsident Joachim Gauck die Leitlinie formuliert, daß "eine funktionierende Demokratie" Aufmerksamkeit, Mut und "manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben" erfordere. Der aktuelle Slogan der Bundeswehrführung "Wir. Dienen. Deutschland" wird zwangsläufig auch mit Blut geschrieben. Ob jeder junge Bundesbürger dazu taugt und das verkraften kann, weiß niemand, doch kann man mit Sicherheit davon ausgehen, daß wie die Bundeswehr und ihre Rekrutierungszahl auch die Jugend als solche im Umbruch ist - und das nicht gerade auf gegenläufigem Kurs zur Militarisierung der Gesellschaft. Ein Forscherteam an der Universität Tübingen kommt zu dem wenig schmeichelhaften Ergebnis, daß junge Bundeswehrrekruten in ihrer Charakterentwicklung dauerhaft beeinträchtigt seien. Der Wehrdienst sei nicht nur ein kurzer Knick, der sich wieder herauswächst. Vielmehr hinkten ehemalige Soldaten noch Jahre später ihren Altersgenossen in Sachen persönlicher Reife hinterher. [4]

Wie nicht anders zu erwarten, hält das Verteidigungsministerium die Ergebnisse der Studie für widersprüchlich und die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen Wehrdienst und Charakterbildung für "schwach ausgeprägt". Vermutlich wiesen die Wehrdienstleistenden bereits vor Dienstantritt niedrigere Werte in Sachen Verträglichkeit auf, seien dafür aber stressresistenter und leistungsorientierter als andere. Wie man die Sache auch dreht und wendet, ein weniger düsteres Bild der künftigen bundesdeutschen Gesellschaft kommt dabei nicht heraus.



Anmerkungen:

[1] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-07/studie-freiwilliger-wehrdienst/

[2] http://www.zeit.de/karriere/beruf/2012-05/einkommenssteuer-bundeswehr-freiwillige

[3] http://www.zeit.de/2012/25/Bundeswehr-Veteranen/

[4] http://www.zeit.de/2012/23/C-Wehrdienst

7. Juli 2012