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KRIEG/1684: Kanonenfutter gesucht - Wehrpflicht kehrt zurück (SB)



Das Gefüge der Großmächte ist so instabil wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die US-Regierung droht Nordkorea, und damit implizit dessen Nachbarland China, mit Krieg. Washington verwickelt Deutschland in handelspolitische Auseinandersetzungen. Die europäischen Mächte bezichtigen Rußland der Aggression und sprechen von der Gefahr eines großen Krieges in dieser Weltregion. Mitteleuropa könnte zum Schlachtfeld und unter millionenfachen Opfern verwüstet werden. Kanonenfutter wird dringend gesucht, da der im Zuge der Militarisierung rasch wachsende Bedarf an Soldaten nicht gedeckt werden kann. Galt die Berufsarmee zwischenzeitlich als das Nonplusultra moderner westlicher Streitkräfte, so ruft akuter Rekrutenmangel die Rückkehr zur Wehrpflicht auf den Plan.

Schweden ist kein Mitglied der NATO, hat aber ein Partnerschaftsabkommen mit dem nordatlantischen Bündnis geschlossen. Nachdem 2010 die Wehrpflicht durch eine Freiwilligenarmee ersetzt worden war, wurde die jüngst beschlossene Rolle rückwärts mit der verschärften Sicherheitslage im Baltikum, vor allem aber mit einem Mangel an fähigem Nachwuchs begründet. Neben etwa 20.000 aktiven Soldaten hat das Land noch einmal so viele im Heimatschutz. Um diese Stärke zu halten, werden jährlich 4000 Rekruten benötigt. In den vergangenen Jahren hatten sich aber im Schnitt nur etwa 2500 Freiwillige gemeldet.

Unterstützt von der Opposition, setzt die rot-grüne Minderheitsregierung nun auf eine Mischung aus Pflicht und Freiwilligkeit. Etwa 100.000 junge Männer und Frauen der Jahrgänge 1999 und 2000 müssen zunächst einen Fragebogen ausfüllen, worauf etwa 13.000 von ihnen in die engere Auswahl kommen und ab 2018 zusammen mit Freiwilligen in einer Gesamtstärke von 4000 Rekruten pro Jahrgang die militärische Grundausbildung durchlaufen sollen. Umfragen zufolge befürworten 72 Prozent der Bevölkerung die Wiedereinführung der Wehrpflicht, nur 16 Prozent haben sich gegen ausgesprochen. [1]

In Frankreich will der Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron die Wehrpflicht wieder einführen und die militärische Aufrüstung vorantreiben. Nach seinen Vorstellungen sollen die Streitkräfte nicht nur für umfassende Kriege im Ausland, sondern auch für Einsätze im Inland gerüstet sein. Macron erklärt: "In den internationalen Beziehungen bricht eine neue Epoche an, und Krieg ist wieder ein mögliches Ergebnis der Politik." Er fordert für Frankreich unabhängige Kapazitäten, um Militäraktionen "zu planen, zu beschließen und durchzuführen". Der allgemeine Wehrdienst im Militär und in der nationalen Gendarmerie werde alle jungen Männer und Frauen eines Jahrgangs erfassen, also etwa 600.000 junge Menschen pro Jahr, die den Wehrdienst innerhalb von drei Jahren nach ihrem achtzehnten Geburtstag ableisten sollen.

Presseberichten zufolge würden sich die Erstkosten für die Einführung der Wehrpflicht auf fünfzehn Milliarden Euro belaufen und später auf drei Milliarden Euro jährlich. Macron plant bereits Sparmaßnahmen im Haushalt, da die anfallenden Kosten durch soziale Angriffe auf die Bevölkerung finanziert werden sollen. Die Aufrüstungspläne richten sich aber nicht nur in finanzieller Hinsicht zugleich nach innen. So schlägt Macron die Schaffung eines "Planungs- und Operationszentrums für das Inland" und die Zusammenarbeit mehrerer Ministerien vor. Auch will er eine gemeinsame Datenbank der französischen Geheimdienste aufbauen. Diese Maßnahmen sollen den Ausnahmezustand ergänzen, den die Regierung im November 2015 ausgerufen und seither verlängert hat.

Wie aus dem Strategiepapier des Europäischen Instituts für Sicherheitsstudien mit dem Titel "Perspektiven für die Europäische Verteidigung 2020" aus dem Jahr 2014 hervorgeht, stelle der "Konflikt zwischen ungleichen sozioökonomischen Klassen der globalen Gesellschaft die größte Bedrohung für die Sicherheit Europas dar. Mit Art. 222 des Lissabon-Vertrags wurden die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von Militär und paramilitärischen Einheiten in EU-Krisenstaaten geschaffen. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU werden militärische und polizeiliche Zuständigkeiten zunehmend verschränkt und Kapazitäten zur Bekämpfung von Aufständen aufgebaut. [2]

Auch in Deutschland wächst die Truppenstärke erheblich langsamer, als in den ambitionierten Plänen der Verteidigungsministerin vorgesehen. Anfang Mai 2016 hatte Ursula von der Leyen verkündet: "Die Zeit des Schrumpfens ist vorbei." Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges solle die Bundeswehr zusätzliche Soldaten bekommen, die Personalstärke in den nächsten fünf Jahren um rund 7000 Soldaten aufgestockt werden. Ausgangspunkt dieser "Trendwende Personal" war die Zielmarke von 170.000 Berufs- und Zeitsoldaten bis Ende 2016, worauf ab Januar 2017 aufgesattelt werden sollte. Als die Ministerin ihre Trendwende ausrief, fehlten jedoch mehr als 3000 Soldaten bis zu diesem Meilenstein. Die Ministerin rief deshalb die Initiative "170.000 plus" ins Leben, die das Ziel verfolgte, das Minus bis zum Jahresende 2016 mindestens auszugleichen.

Entsprechende Quoten wurden an die Karrierecenter weitergereicht, ein Etat für Kopfprämien für die Verlängerung von auslaufenden Zeitsoldatenverträgen wurde aufgelegt, die Vorgabe der Bereitschaft für bundesweite Verwendbarkeit gelockert. Diese Maßnahmen fruchteten nicht: Ende des Jahres 2016 fehlten noch immer gut 2000 Soldaten, die Initiative hatte ihr Ziel verfehlt. Das Heer hält die Maßnahme für kontraproduktiven Aktionismus und beklagt einen tatsächlichen Mangel von rund 15.000 Soldaten allein in der größten Teilstreitkraft. Das Ministerium klammert sich an jeden Hoffnungsschimmer wie die Webserie "Die Rekruten" auf YouTube, deren Klickzahlen enorm sein sollen. Ob darüber mehr Rekruten angeworben werden können, ist jedoch ungewiß. Inzwischen werden Quereinsteiger, Schulabbrecher ohne Hauptschulabschluß und Ausländer aus der Europäischen Union als neue Zielgruppen der Personalwerbung ausgemacht. Zudem sollen mehr Frauen Soldatinnen und Karrieren flexibler geplant werden. [3]

Trotz des Personalmangels der Streitkräfte ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland kein Thema - zumindest nach offizieller Lesart. Alle vier Bundestagsfraktionen sind dagegen, Ursula von der Leyen versicherte noch im August 2016, die Aussetzung habe der Bundeswehr gutgetan. Was fehlende Rekruten betrifft, erklärt Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, dieses Problem gebe es so nicht. Eine Wehrpflicht mache nur Sinn, wenn sich die sicherheitspolitische Lage drastisch verschärfe, hält er zugleich die Hintertür offen. Das eigentliche Problem sei ein Fachkräftemangel, den man gezielt angehen müsse, hinzu käme ein zu geringer Anteil an Frauen.

Wie Bartels vorrechnet, hätten die 28 EU-Länder gemeinsam anderthalb Millionen Soldaten, die 22 NATO-Mitgliedstaaten unter ihnen stellten davon 1,4 Millionen. Damit sei der europäische Arm der NATO deutlich größer als die US-Armee und auch als die russischen Streitkräfte. Es komme nun darauf an, die Kleinstaaterei in der Verteidigungspolitik zu beenden und die Kooperation auszubauen. Nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, das eine verstärkte europäische Zusammenarbeit in Militärfragen stets blockiert habe, sollte ein neuer Anlauf genommen werden. [4]

Daß für die Bundesergierung entgegen anderslautenden Beteuerungen die mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht durchaus ein Thema ist, belegt die im Herbst von Innenminister Thomas de Maizière vorgestellte "Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)". Diese sieht als Generalplan für den Ernstfall den Einsatz von Zivilisten, massive Eingriffe in den Arbeitsmarkt und Warenverkehr und eben auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht vor. Wenngleich diese seit dem 1. Juli 2011 ausgesetzt ist, bleibt der Pflichtdienst weiterhin im Grundgesetz verankert und könnte mit einem einfachen Gesetz wieder eingeführt werden. Daher heißt es in dem Notfallplan: "Es ist zu prüfen, inwieweit diese Regelungen noch sachgerecht sind."

Neben der Notversorgung der Bevölkerung soll der Plan sicherstellen, daß die Bundeswehr aktionsfähig bleibt. Daher sieht der Entwurf eine zivile "Unterstützung der Streitkräfte" vor. Die mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht taucht als Formulierung unter anderem in einem Passus auf, wo es um "die schnelle und sichere Zustellung von Postsendungen mit besonderer Bedeutung für die Bundeswehr (beispielsweise Einberufungs- und Leistungsbescheide bei Wiederaufleben der Wehrpflicht)" geht. An anderer Stelle ist davon die Rede, daß "Verpflichtungen in ein Arbeitsverhältnis" bei Männern "unter anderem an das Bestehen der Wehrpflicht gebunden" seien. [5]

Die Notstandsverfassung, die unter anderem bei akuter Kriegsgefahr in Kraft gesetzt werden kann, ermöglicht eine weitreichende Einschränkung zahlreicher Rechte und den Umbau der gesamten Infrastruktur. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht, von der aus Akzeptanzgründen in dem zivilen Sicherheitskonzept nur beiläufig die Rede ist, steht für einen solchen Fall zweifellos auf der Agenda möglicher Zwangsmaßnahmen.


Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/ausland/wehrpflicht-schweden-101.html

[2] https://www.wsws.org/de/articles/2017/03/22/macr-m22.html

[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article160444489/Von-der-Leyen-findet-einfach-nicht-genug-Soldaten.html

[4] http://www.zeit.de/politik/2016-09/bundeswehr-wehrpflicht-deutschland-hans-peter-bartels-rekrutierung

[5] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-08/zivilschutzkonzept-bundesregierung-wehrpflicht-bundeswehr-sicherheit

23. März 2017


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