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KRIEG/1694: Kurdistan - militärische Endlösung für Lebensform und Kultur ... (SB)



Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hält offenbar die Zeit für reif, zum Generalangriff auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien zu blasen. Daß ihm der Sinn nach einem Vernichtungsfeldzug steht, kommt in seiner martialischen Ankündigung unverhohlen zum Ausdruck: "Jetzt ist es soweit, das Projekt der separatistischen Terrororganisation, einen Syrien-Terrorkorridor zu errichten, vollkommen zunichte zu machen." Mit "separatistischer Terrororganisation" meint er die kurdische Arbeiterpartei PKK und die mit ihr verbündeten Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) in Syrien, welche die Regionen Afrin und Manbidsch kontrollieren. Die Türkei werde den im August 2016 begonnenen Militäreinsatz "Schutzschild Euphrat" in Nordsyrien auf die Regionen Afrin und Manbidsch ausweiten "und danach Sicherheit und Ruhe entlang der gesamten Grenze bringen". [1]

Erdogan droht mit einer Friedhofsruhe, die den kurdischen Gesellschaftsentwurf vernichten soll, der angesichts blutiger Kämpfe und tiefgreifender Zerwürfnisse in dieser Weltregion der einzig erkennbare und bereits praktizierte Weg eines Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Ethnien und verschiedener Glaubensüberzeugungen auf Grundlage einer emanzipatorischen Entwicklung ist. Als demokratischer Föderalismus strebt er keine eigene Staatsgründung an, sondern setzt die Überwindung staatlicher Gewalt, patriarchaler Herrschaft und kapitalistischer Ausbeutung auf die Tagesordnung. Aus Sicht des Erdogan-Regimes sind das Todsünden, die mit Unterwerfung jeglichen Widerstands, Zerstörung der Lebensform und Auslöschung der Kultur im Zuge einer militärischen Endlösung zu bestrafen sind.

Mit dem Militäreinsatz "Schutzschild Euphrat" war die Türkei 2016 mit von ihr unterstützten Rebellen in die nordsyrische Region um Dscharabulus einmarschiert. Ausgewiesenes Ziel dieser Operation war es, die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS), die Ankara zuvor selbst unterstützt hatte, von der türkischen Grenze zu verdrängen. Der Angriff galt jedoch insbesondere den YPG/YPJ, indem er zunächst einen Korridor zwischen den kurdisch kontrollierten Gebieten besetzte. Der türkische Präsident hatte in der Vergangenheit immer wieder mit einem Militäreinsatz in den syrischen Kurdengebieten gedroht. Daß er eine langfristige Besetzung der eroberten Gebiete anstrebte, zeichnete sich frühzeitig ab. Ortseingangsschilder in türkischer und arabischer Sprache, Schulen, in denen die Kinder schon ab der ersten Klasse türkisch als erste Fremdsprache lernen, oder die Garantie türkischer Behörden, daß alle Schulabschlüsse aus Nordsyrien in der Türkei anerkannt würden und die Absolventen sich problemlos an türkischen Universitäten bewerben könnten, zeugen von einer langfristig angelegten Okkupation. [2]

Ankara vereinbarte mit den Regierungen in Moskau und Teheran, die Rebellen des Dschihadistenbündnisses Haiat Tahrir al-Sham (HTS) aus der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib zu vertreiben und dort anschließend eine sogenannte Deeskalationszone zu errichten, in der eine Waffenruhe zwischen syrischen Regierungstruppen und Rebellen gilt. Beim HTS handelt es sich um einen Zusammenschluß verschiedener islamistischer Milizen, das von Kämpfern der ehemaligen Nusra-Front dominiert wird, die früher zu al-Qaida gehörte. Das türkische Militär eröffnete eine Offensive in dieser Grenzprovinz und errichtete Armeestützpunkte. Aus Sicht der AKP-Regierung war die Vereinbarung zu Idlib nur ein Mittel zum Zweck: Zwischen dem türkisch kontrollierten Gebiet um al-Bab und der Provinz Idlib liegt die kurdische Enklave Afrin, die von den YPG/YPJ kontrolliert wird. Die Offensive war daher insbesondere der Absicht geschuldet, Afrin in die Zange zu nehmen.

Angesichts einer aktuellen Offensive der syrischen Regierungstruppen in der Provinz Idlib eskalieren derzeit die Spannungen der Türkei mit Rußland und dem Iran. Ankara rief die Verbündeten des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Damaskus zum Stopp der Offensive zu bewegen, die nach Auffassung der türkischen Regierung die geltende Deeskalationszone verletzt. Die am 25. Dezember gestarteten Angriffe seien nicht nur eine Luftoffensive, das Regime habe eine andere Absicht und dringe nach Idlib ein, erklärte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. In der Tat sieht die Schutzzone eine Waffenruhe zwischen Rebellen und Regierungstruppen vor. Allerdings gilt diese nicht für die Dschihadisten der Fateh-al-Scham-Front, die große Teile von Idlib kontrolliert. Mit Unterstützung der russischen Luftwaffe rücken die syrischen Regierungstruppen im Südosten von Idlib vor und haben bereits zahlreiche Dörfer erobert.

Das türkische Außenministerium bestellte den iranischen und den russischen Botschafter ein, um ihnen das "Unbehagen" der Türkei über die "Verletzung der Grenzen der Deeskalationszone in Idlib" zu übermitteln. Dieser Streit signalisiert eine erneute Zunahme der Spannungen innerhalb des Trios, dessen Zusammenhalt brüchig ist, zumal die Türkei zunächst die Rebellen unterstützt und sich erst in der Folge Rußland angenähert hat, das mit dem Iran den Erzfeind Erdogans in Damaskus unterstützt. So gab der russische Experte Alexej Malaschenko gegenüber AFP zu bedenken, daß die aktuellen Spannungen nicht überraschen könnten. Rußland, die Türkei und der Iran hätten jeweils eigene Interessen, die nicht völlig in Einklang zu bringen seien. Allerdings habe auch keiner der drei Staaten Interesse an einem Bruch, sagte Malaschenko. Sie seien daher "zum Konsens verdammt".

Der nächste Streit zeichnet sich jedoch längst ab. Rußland hat die Konfliktparteien für den 29. und 30. Januar zu Gesprächen in Sotschi eingeladen, doch sorgte die Teilnehmerliste für Kontroversen, weil die Türkei eine Einladung der syrischen Kurdenpartei PYD strikt ablehnt. Verschärft werden die Spannungen zwischen Ankara und Moskau noch durch jüngste Drohnenangriffe auf russische Militärbasen in Syrien, die laut dem Verteidigungsministerium in Moskau aus Idlib kamen. Es rief den türkischen Generalstab und Geheimdienst auf, weitere Drohnenangriffe aus dieser Provinz zu verhindern. [3]

Der Okkupation des gesamten nordsyrischen Grenzgebiets und der Zerstörung des kurdischen Aufbaus in dieser Region durch die türkischen Streitkräfte sind vorerst noch Grenzen gesetzt. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Unterstützung der YPG/YPJ durch US-amerikanische Militärberater und Waffenlieferungen, die Erdogans Vernichtungsdrang Grenzen setzt. Auch Washington verfolgt in diesem Konflikt seine eigenen Interessen und ist bestrebt, sich in Nordsyrien mit Stützpunkten festzusetzen. Das Zweckbündnis mit den Kurdinnen und Kurden ist von beschränkter Dauer und entspringt keinesfalls Sympathien für deren Anliegen. Verfügten sie nicht über die entschiedensten und erfolgreichen Bodentruppen im Kampf gegen den IS, hätten die USA sie vermutlich längst Erdogan zum Fraß vorgeworfen.

In der Gemengelage des horrenden Schlachtfelds Syrien, auf dem Groß- und Regionalmächte ihre nicht selten zweischneidigen Klingen kreuzen, verteidigen die Kurdinnen und Kurden ihr Leben wie auch den Aufbau einer anderen Gesellschaft. Ihr Entwurf der Demokratischen Moderne als zeitgemäßer Gegenentwurf zur Hegemonie der Kapitalistischen Moderne hat sich auf die Fahne geschrieben, den Grundwiderspruch zwischen Demokratie und Staat, der die Menschheitsgeschichte leidvoll durchdrungen hat, durch die Selbstermächtigung des Menschen auf die Ebene einer gesellschaftlichen Befreiung zu heben. Dies soll erreicht werden durch eine Stärkung der Kommunen und den Aufbau einer politisch selbständigen Zivilgesellschaft. Über Räte, Kooperativen und regionale Netzwerke der Zusammenarbeit sollen konföderale Strukturen geschaffen werden, ohne auf einen Staat angewiesen zu sein. Der Frontalangriff auf die Kurdinnen und Kurden, den die türkische AKP-Regierung bereits im eigenen Land praktiziert und nun auf das gesamte nordsyrische Grenzgebiet ausweiten will, ist mithin von außerordentlicher Tragweite. Er zielt auf die Eliminierung einer gesellschaftlichen Entwicklung ab, die beispielhaft und bahnbrechend für den gesamten Nahen Osten sein könnte.


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/recep-tayyip-erdogan-tuerkei-will-militaereinsatz-in-syrien-ausweiten-a-1186925.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-willkommen-in-der-tuerkischen-besatzungszone-a-1172804.html

[3] www.24matins.de/topnews/pol/tuerkei-fordert-von-russland-und-iran-stopp-der-offensive-in-idlib-67787

10. Januar 2018


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