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KRIEG/1703: London - gespaltene Zunge, gespaltener Sinn ... (SB)



Die ebenso engen wie kontroversen Beziehungen der Bundesrepublik zur Türkei haben dazu geführt, daß der Angriff der türkischen Streitkräfte und ihrer dschihadistischen Söldner auf den kurdischen Kanton Afrin im Nordwesten Syriens einen gewissen Widerhall in den deutschen Medien findet. In der britischen Presse und Öffentlichkeit war das bislang weit weniger der Fall, was sich nun jedoch zugunsten einer deutlicheren Wahrnehmung ändern könnte. Ausgelöst wurde dies durch den Tod der 26 Jahre alten britischen Internationalistin Anna Campbell, die in den Reihen der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ gekämpft hat. Daß nun auch ihr Vater Dirk Campbell in mehreren Interviews über die Beweggründe seiner Tochter gesprochen hat, sorgt für eine breitere Diskussion über die Verhältnisse in den Kurdengebieten wie auch die Beteiligung junger ausländischer Aktivistinnen und Aktivisten an den Kämpfen.

Anna Campbell, die ursprünglich aus Lewes in East Sussex stammte, war im Mai 2017 nach Rojava gereist. In einer von der britischen Zeitung Guardian on Sunday veröffentlichten Erklärung teilte die Kommandeurin und Sprecherin der YPJ, Nesrin Abdullah, mit, Campbell habe zunächst die obligatorische vierwöchige militärische Ausbildung absolviert. Darin werden Grundkenntnisse der kurdischen Sprache, des Waffengebrauchs und der Gefechtstaktik, aber auch der egalitären und feministischen Prinzipien der YPJ vermittelt. Danach wurde Campbell einer Infantriedivision zugeteilt, die aus kurdischen und internationalistischen Kämpferinnen bestand. Sie erhielt den Kampfnamen Helin Qerecox und wurde an die Front entsandt, wobei sie die ersten Monate in Deir ez-Zor kämpfte, der letzten Hochburg des Islamischen Staats in der Region. Nachdem der IS weitgehend besiegt war, standen die ausländischen Kämpferinnen vor der Entscheidung, entweder nach Hause zurückzukehren oder sich der Verteidigung gegen die türkischen Angriffe anzuschließen.

Wie Abdullah berichtete, habe die Genossin Helin nach Beginn des Angriffs auf Afrin Ende Januar darauf bestanden, sich dort der Verteidigung anzuschließen. Um sie zu schützen und von ihrem Entschluß abzubringen, sei ihr das zunächst nicht gestattet worden. Sie habe jedoch inständig auf ihrem Wunsch beharrt und erklärt, sie werde entweder nach Hause zurückkehren und dem Leben als Revolutionärin entsagen oder nach Afrin gehen. Da sie jedoch die Revolution niemals preisgeben würde, gehe sie auf jeden Fall nach Afrin. Sie habe sogar ihr blondes Haar schwarz gefärbt, um nicht den Verdacht zu erwecken, eine westliche Aktivistin zu sein. So hätten ihre Kommandeurinnen schließlich eingewilligt, sie nach Afrin gehen zu lassen.

Helin Qerecox war den Angaben zufolge am 16. März mit ihrer Einheit in einem Konvoi unterwegs, als das Fahrzeug von einer türkischen Rakete getroffen wurde. Nesrin Abdullah:

Ihr Märtyrertum ist ein großer Verlust für uns. Mit ihrer weltoffenen Seele und ihrem revolutionären Geist, der die Macht der Frauen unterstrich, hat sie in all ihrem Tun ihren Willen ausgedrückt. Im Namen der YPJ wollen wir der Familie unser tiefstes Beileid aussprechen. Wir versprechen, den Pfad, den sie einschlug, weiterzugehen. Für uns als YPJ wird die Genossin Helin stets das Symbol einer wegweisenden Internationalistin bleiben. Wir werden ihren Hoffnungen und Überzeugungen alle Ehre machen und ihren Kampf für die Frauen und für unterdrückte Gemeinschaften unnachgiebig fortsetzen. [1]

Der Aktivist und Kovorsitzende der Kurdistan Solidarity Campaign Mark Campbell fügte dem hinzu, das kurdische Volk habe Anna tief ins Herz geschlossen, da sie in seiner finstersten Stunde Seite an Seite mit ihm gestanden habe.

Nach Informationen des Guardian sind in Syrien damit bisher insgesamt acht britische Staatsangehörige ums Leben gekommen, die an der Seite der Kurdinnen und Kurden gekämpft hatten. Bei Anna Campbell handelt es sich demnach um die erste Frau. [2]

Ihr Vater Dirk Campbell beschrieb sie als eine "wunderbare und liebevolle Tochter, die alles dafür gegeben habe, die Welt zu schaffen, an die sie glaubte". Anna sei "sehr idealistisch, sehr ernsthaft, sehr aufrichtig gewesen und habe ihr Leben dem Kampf gegen "ungerechte Macht und Privilegien" gewidmet. Als Menschenrechts- und Umweltaktivistin habe sie seit langem für ihre Überzeugungen eingestanden. Er erinnere sich an eine vermeintlich unbedeutende, aber beispielhafte Begebenheit aus ihrer Kindheit, als sie im Alter von elf Jahren in der Schule eine Hummel vor anderen Kindern geschützt habe, die das Tier quälen wollten. Sie habe das so entschieden getan, daß sich alle über sie lustig gemacht hätten. Doch das habe sie nicht gekümmert, da nichts und niemand sie abhalten konnte, das zu tun, woran sie glaubte. Und sie sei der festen Überzeugung gewesen, daß es von Grund auf falsch sei, was die Türkei mache.

Diese Passion, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen, führte vieles von dem fort, wofür ihre Mutter Adrienne gestanden habe, die in der südenglischen Aktivistenszene wohlbekannt und vor fünf Jahren einem Krebsleiden erlegen war. Er habe nicht versucht, Anna aufzuhalten, weil sie seiner Erfahrung nach nicht aufzuhalten war, sobald sie sich zu etwas entschlossen hatte. Sie sei nach Rojava gereist, um dort zum Aufbau einer Welt der Gleichheit und Demokratie beizutragen, in der jeder Mensch das Recht hat, seine Interessen zu repräsentieren.

"Ich wusste, dass sie sterben könnte", zitiert der Sender BBC aus dem Gespräch mit Dirk Campbell. Er sei erschüttert über den Tod seiner Tochter - und zugleich "sehr stolz" auf sie. Im Nachhinein denke er, er hätte womöglich mehr tun müssen, um sie von ihrer Reise nach Syrien abzubringen; aber er wisse auch, dass sie ihm das nicht verziehen hätte. Dem Guardian sagte Dirk Campbell, zum Abschied habe er ihr noch im Scherz gesagt: "Es war schön, dich kennengelernt zu haben." Und dabei sei ihm klar gewesen, daß er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Anna sei bei der Verteidigung gegen die türkische Invasion gestorben.

Anna Campbells Tod beim türkischen Angriff auf den Konvoi hat in der britischen Öffentlichkeit erstmals in größerem Umfang den Blick für die Errungenschaften in den kurdischen Kantonen Nordsyriens wie auch die Greueltaten der türkischen Streitkräfte und der mit ihnen verbündeten Dschihadisten geöffnet. Viele Menschen bekannten, daß sie davon bislang wenig oder gar nichts gewußt hätten. Daß Dirk Campbell bei aller Trauer über den Tod seiner Tochter uneingeschränkt zu ihr steht, hat für Anteilnahme, aber unvermeidlich auch Kontroversen gesorgt. So fehlt es nicht an Vorwürfen, er habe als Vater unverantwortlich gehandelt. Da er aber nicht nur überzeugend darlegt, daß er Anna nicht aufhalten konnte, sondern sich darüber hinaus zu ihrem Handeln bekennt, läßt er keinen Spalt, in den die Diskreditierung und Bezichtigung ihre Krallen schlagen könnte. Dies wird die Kontroverse nicht beenden, könnte aber durchaus geeignet sein, einer offenen und zugewandten Diskussion Platz zu verschaffen.

Auch mehrere Deutsche sind im Kampf an der Seite der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG getötet worden. Günther Helstein etwa, der 2016 bei Shadadi fiel, oder Kevin Jochim aus Karlsruhe und Martin Guden. Im Nacken aller internationalistischen Heimkehrer aus den Kriegsgebieten hängt das Damoklesschwert des Terrorismus-Vorwurfs. Wenngleich die PKK in Deutschland als terroristische Organisation eingestuft wird, ermittelt die Bundesanwaltschaft derzeit nicht grundsätzlich gegen UnterstützerInnen der YPG/YPJ. Aus Karlsruher Kreisen ist zu hören, daß von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werde, ob ein sogenanntes "Staatschutzinteresse" vorliege. Es habe bislang Ermittlungsverfahren im "niedrigen zweistelligen Bereich" gegeben, Anklage sei aber noch in keinem Fall erhoben worden. [3]

Während der Staatsschutz in der Bundesrepublik also vorerst in solchen Fällen sein Arsenal noch halbwegs im Köcher hält, um es bei Bedarf abzufeuern, setzen die britischen Behörden unmittelbar auf rigorose Strafverfolgung. Wie um dem Tod Anna Campells, der viele Menschen berührt und bewegt, jede Wirkung zu nehmen, wird die Parole ausgegeben, jegliche Heimkehrer aus dem Kriegsgebiet stünden unter Terrorverdacht, gleich auf welcher Seite sie gekämpft haben. Die Wehrhaftigkeit der Kurdinnen und Kurden war gefragt, solange die Furcht vor der vermeintlichen Unbesiegbarkeit des IS den Diskurs der westlichen Mächte erschauern ließ. Kaum haben die YPG/YPJ ihre Schuldigkeit getan, ist die Verteidigung ihrer Gebiete, in denen so viele drangsalierte Jesidinnen, Alevitinnen, Araber und Christen Schutz vor Verfolgung gesucht und gefunden haben, obsolet. Krasser könnte der Widerspruch zwischen der Klarheit und Entschiedenheit Anna Campells und der Doppelzüngigkeit oportunistischer Staatsräson kaum sein.


Fußnoten:

[1] www.theguardian.com/world/2018/mar/19/briton-kurds-anna-campbell-dies-fighting-turkey-syria-afrin

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-britin-anna-campbell-in-afrin-getoetet-mitglied-der-ypj-a-1198908.html

[3] www.dw.com/de/als-freiwilliger-bei-der-ypg/a-43050951

3. April 2018


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