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KRIEG/1766: Syrien - Kulminationspunkt für einen internationalen Krieg ... (SB)



Wir werden Idlib nicht aufgeben und dem Regime überlassen, das nicht dazu imstande ist, die Entschlossenheit der Türkei in dieser Angelegenheit zu erfassen (...). Wir werden es unter keinen Umständen zulassen, dass wir eine Extralast schultern, die die Entwicklungen in der Region unserem Land aufbürden. Wir sind entschlossen, Idlib zu jedem Preis sicher für seine Bewohner und die Türkei zu machen.
Recep Tayyip Erdogan in einer Rede vor der AKP-Fraktion [1]

Der türkische Angriffskrieg in Syrien mittels islamistischer Hilfstruppen wie auch regulärer Streitkräfte verschränkt eine Reihe innen- und außenpolitischer Ziele des Regimes zu einem Eroberungs- und Vernichtungszug, der sich in zunehmendem Maße den Rückweg abgeschnitten hat. Erdogan, so steht zu befürchten, wird in bedrängter Lage wie immer die Flucht nach vorn antreten und die nächstgrößere Grausamkeit exekutieren, da er nur um den Preis seines Untergangs zulassen kann, den Würgegriff um oppositionelle Bestrebungen zu lockern und für seine Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sein nationalistischer, rassistischer und repressiver Entwurf hausiert mit der imperialistischen Vision, die Türkei von einem Schwellenland in den Rang der führenden Regionalmacht zu katapultieren, die offensiv und eigenständig zwischen den Großmächten navigiert.

Dieser Lesart zufolge endet die Türkei nicht an den aktuellen Landesgrenzen, sondern schließt Gebiete in Syrien, im Nordirak, in der Ägäis, auf dem Balkan wie auch im Mittelmeer, wenn nicht gar in Libyen ein, die dem osmanischen Reich oder der türkischen Republik geraubt worden seien. Das sind keine bloßen Hirngespinste eines revanchistischen Geistes, sondern längst in Angriff genommene "Korrekturen" des beanspruchten Territoriums, wie die Präsenz in Syrien, die Offensive auf See oder die Intervention im libyschen Konflikt zeigen.

Ein zentrales Moment in den strategischen Plänen des Regimes ist die Verfolgung, Vertreibung und kulturelle Vernichtung kurdischer Existenz im eigenen Land, im Nordirak und in Syrien. Dabei geht es im Kern darum, den kurdischen Widerstand zu brechen und eine gesellschaftliche Entwicklung zu zerstören, die in vielfacher Hinsicht einen Gegenentwurf zu dem auf die aggressive Spitze getriebenen Türkentum Erdogans darstellt, mit dem dieser die Widersprüche der Klassengesellschaft mittels einer völkisch-religiösen, protofaschistischen und kriegstreibenden Agenda zugunsten konsolidierter Herrschaft vorantreiben will.

Der Expansionismus ist natürlich auch ökonomischen Erwägungen geschuldet, da die Energieversorgung der Türkei in hohem Maße von Importen abhängt. Daher stehen die beanspruchten Vorkommen von Erdöl und Erdgas im Mittelmeer wie auch das Vorhaben, zur regionalen Drehscheibe der Weiterleitung russischer Lieferungen zu werden, im Zeichen angestrebter Unabhängigkeit des türkischen Energiesektors. Darunter fällt auch der Bau eines Kernkraftwerks und damit perspektivisch die Verfügung über Atomwaffen, die Erdogan, vorerst noch als Drohgebärde, durchaus ins Gespräch gebracht hat.

Wie jede Kriegsführung stellt auch die türkische zudem einen Versuch dar, sowohl die Krise des einheimischen Kapitals als auch wachsenden Widerstand einer unter sozialem Druck stehenden Bevölkerung offensiv aus dem Feld zu schlagen. Erdogan verdankte die beträchtliche Zustimmung der Wählerschaft im Zuge seines Aufstiegs zur Macht des Präsidialsystems in hohem Maße der größtenteils unzutreffenden Propaganda, er habe den Lebensstandard insbesondere der einfachen Leute beträchtlich angehoben. Was als wachsender Wohlstand tatsächlich eintrat, war eine Folge rasanten Wirtschaftswachstums, das aus befristeten Quellen des Schwellenlandes gespeist war, das sich als Rohstofflieferant oder Werkbank der höherentwickelten Industriestaaten verdingte wie auch das Strohfeuer ungezügelter Bauwirtschaft anheizte. Erdogan setzte sich als guter Sultan in Szene, der paternalistisch Geschenke an sein Volk verteilt. Daß es sich dabei nicht so sehr um Sozialleistungen oder Infrastruktur an der Basis, als vielmehr monströse Großprojekte über, auf und unter dem Bosporus, gigantische Kanäle, triumphale Moscheen und nicht zuletzt einen überdimensionierten Präsidentenpalast handelte, nahmen viele Menschen unter der trügerischen Annahme in Kauf, der Herrscher gebe ihnen auf imposante Weise ihre Würde und Ehre zurück.

Die systemischen Schwächen der nationalen Ökonomie wie auch die internationalen Krisen der Kapitalverwertung ließen die Türkei nicht ungeschoren. In immer schnellerer Taktfolge häuften sich Hiobsbotschaften, das Land stehe am Abgrund einer Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Talfahrt bekamen zuerst und vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile zu spüren, was die Regierung mit verbilligten Grundnahrungsmitteln zu kaschieren versuchte und allenfalls notdürftig kompensieren konnte. So schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Erdogans Rückhalt schwände und er mit legalistischen Mitteln aus dem Amt entfernt werden könnte.

Die Opposition witterte Morgenluft und gewann die Kommunalwahlen in den größeren Städten, insbesondere aber in Ankara und Istanbul. Möglich gemacht hatte diese vermeintliche Wende die Popularität des kemalistischen Kandidaten, vor allem aber die Bereitschaft der pro-kurdischen HDP, zugunsten der CHP auf eigene Kandidaturen zu verzichten und so die oppositionellen Stimmen zusammenzufassen. Die weit verbreitete Hoffnung, damit sei Erdogans Ende eingeläutet, erwies sich als trügerisch, da sie der Gewaltbereitschaft des Präsidenten und seinen Machtmitteln nicht Rechnung trug, aber auch den Zusammenhalt der Opposition überschätzte. Als Erdogan zum Feldzug gegen Afrin rief, um die kurdischen Errungenschaften zu zerschlagen und den Keil tiefer zwischen die nordsyrischen Autonomiegebiete zu treiben, waren die Kemalisten Feuer und Flamme. Der Krieg eint das Volk, oder besser gesagt jene Teile der Bevölkerung, die dieses Konzept für sich reklamieren, weil sie ihr Heil in der Unterwerfung jeglicher Minderheiten und benachbarter Völkerschaften sehen.

So gelang es Erdogan mittels der Kriegszüge, seine Schwäche an der Heimatfront wettzumachen. Wenngleich er auch dabei repressiv zu Werke ging und jede Kritik an diesem Feldzug unter das Terrorverdikt stellte, war es doch vor allem die Bereitschaft der Kemalisten, nach ihrem Wahlsieg mit Hilfe der HDP der kurdischen Bevölkerung umgehend in den Rücken zu fallen, die das Regime wieder in die Offensive brachte. Wer fragt heute noch, ob die armen Leute in Istanbul und anderswo genug zu essen haben oder was Polizei und Armee im Südosten des Landes treiben? Selbst das Schicksal Rojavas scheint inzwischen den westlichen Leitmedien keine Zeile mehr wert zu sein, die gebannt das vermeintliche Schachspiel der Mächte verfolgen, wie es einst Brzezinski als Herrschaftsdiskurs in die Welt gesetzt hat. Während alle zu Geostrategen werden, die mitwetten dürfen, was Erdogan, Putin, Assad und Trump an Zügen ausbrüten, fällt zwangsläufig unter den Tisch, die Kriege und Konflikte als Auseinandersetzungen in Klassengesellschaften und zwischen denselben aufzufassen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.

Erdogans Truppen stehen im Nachbarland und fordern die syrische Armee ultimativ auf, sich aus Idlib zurückziehen, als handle es sich um türkisches Territorium. Ankara unterstützt die schlimmste Sorte islamistischer Milizen, die der Bevölkerung die Scharia aufzwingen. Rund 900.000 Menschen sind vor den Kämpfen auf der Flucht und drängen sich unter extremsten Bedingungen an der Grenze zur Türkei zusammen, die sie nicht ins Land lassen will. Rußland warnt eindringlich vor einer militärischen Konfrontation, die den fragilen Burgfrieden von Astana endgültig zunichte machen würde. Recep Tayyip Erdogans Feldzug hat maßgeblich dazu beigetragen, diese Situation herbeizuführen, aus der es keinen Ausweg ohne kastrophale Konsequenzen zu geben scheint.

"Wollen wir hoffen, dass das schlimmste Szenario nicht Wirklichkeit wird", so der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow. "Wenn dies eine Operation gegen die legitime Regierung Syriens und der syrischen Streitkräfte ist, dann wird es definitiv das schlimmste Szenario sein."

Der türkische Machthaber hat Geister gerufen und gegeneinander ausgespielt, was ihn im osmanischen Größenwahn bestärken dürfte, er habe sie unter Kontrolle. Nun kann er auf die offene Waffengewalt nicht mehr verzichten und steht an der Schwelle, den notdürftig eingedämmten Stellvertreterkrieg in Syrien in die große Konfrontation zu treiben.


Fußnote:

[1] www.heise.de/tp/features/Idlib-Erdogan-droht-mit-militaerischer-Aktion-4664295.html

21. Februar 2020


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