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KRIEG/1770: Afghanistan - ein strategisches Desaster ... (SB)



Das Ziel unseres Einsatzes war und ist ein stabilisiertes Afghanistan, von dem auch für Deutschland und seine Verbündeten keine Bedrohung ausgeht.
Henning Otte (Verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion)

Der weitaus längste Krieg mit deutscher Beteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik ist hierzulande weitgehend in Vergessenheit geraten. Allenfalls wenn im März alljährlich die Verlängerung des Mandats der Bundeswehr in Afghanistan ansteht und das Parlament darüber debattiert, rufen obligatorische Medienberichte einen flüchtigen Seitenblick wach. Bedrängt von Sorgen, die um das eigene Wohlergehen kreisen, taucht nur das im Visier der Gefahrenabwehr auf, was die Überlebensperspektive unmittelbar zu beeinträchtigen droht. Woraus sich der hiesige Lebensstandard speist, der trotz seines Verfalls für immer mehr Menschen und begründeten Abstiegsängsten bis tief in die Mittelschichten hinein immer noch weit in den Schatten stellt, was für die allermeisten anderen Länder gilt, ist keines Gedankens wert, der Konsequenzen nach sich zöge. Für die Kumpanen der Räuberbande, die vielerorts durch Handel und Waffengewalt mordet und plündert, scheint die Welt so weit in Ordnung zu sein, daß man besser nicht daran rührt, sie zu verändern.

Ganz anders sieht es zwangsläufig für die Menschen in Afghanistan aus. Laut einer im Herbst letzten Jahres veröffentlichten Studie des US-Forschungsinstituts Gallup lebt die Bevölkerung größtenteils in Armut und Elend. 85 Prozent der Befragten gaben an, sie litten unter ihrer Lebenssituation. Das ist die höchste Zahl seit Beginn solcher Untersuchungen im Jahr 2001. Nach Einschätzung der Weltbank lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze, die bei einem Dollar pro Tag angesetzt wird. Das Leben sei von Hoffnungslosigkeit geprägt, heißt es in dem Gallup-Bericht. Afghanistan gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Bildungsrate weltweit, da nach Angaben der UNESCO unter den über 15jährigen nur drei von zehn lesen und schreiben können. Jedes vierte Kind muß seinen Eltern bei der Arbeit helfen, statt zur Schule zu gehen, weil die Familien anders nicht überleben können.

Nach den Daten von 2018 war dies das Jahr mit der höchsten Zahl ziviler Opfer seit dem Beginn der Militärintervention von USA und NATO, wovon mehr Kinder denn je betroffen waren. Fast 11.000 Zivilisten wurden getötet oder verletzt, woran auch mit der Regierung verbündete Kräfte einen erheblichen Anteil hatten. Neben Selbstmordanschlägen verursachten Luftangriffe jeweils die größte Zahl an zivilen Opfern. Die Sicherheitslage ist im Laufe der Besatzungszeit immer schlechter geworden.

Dabei wurden Milliarden in die Kriegsführung investiert und weitere Milliarden ins Land gepumpt, um kleine und große Warlords und Statthalter zu alimentieren, die im Interesse rivalisierender Regional- und Großmächte einen Stellvertreterkrieg anheizen. Die Bevölkerung wird von allen mit Füßen getreten, und dabei mischt auch Deutschland kräftig mit, indem Potemkinsche Dörfer diverser Ausbildungs- und Aufbauprojekte vorgehalten werden, deren Finanzierung in den Taschen lokaler Schutzherren oder Marionetten landet. Die Bundeswehr ist nicht am Hindukusch, um Demokratie zu bringen, die Infrastruktur aufzubauen oder die Befreiung der Mädchen und Frauen vom patriarchalen Joch zu befördern. Sie repräsentiert deutsche Interessen mit Waffengewalt, sich Einfluß in der Region zu verschaffen. So war die Lehre aus dem Massaker von Kundus, das auf deutschen Befehl verübt wurde, nicht der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan oder wenigstens eine angemessene finanzielle Entschädigung der Hinterbliebenen. Oberst Klein wurde entlastet und bald darauf zum General befördert, hatte er doch den Beweis erbracht, daß auch die deutsche Truppe handfest kriegführen kann.

Angesichts seiner zentralen geographischen Lage ist Afghanistan Brückenkopf und Drehscheibe des Ringens der Großmächte um geostrategische Positionen, Rohstoffe und deren Transportwege, in jüngerer Zeit auch reichhaltige Vorkommen weltweit begehrter Bodenschätze. Für die westlichen Okkupanten ist das Land ein nach Zentralasien weisender Keil zwischen China und Rußland, den beiden Widersachern in den finalen Schlachten um globale Vorherrschaft. Für Deutschland geht es dabei nicht nur um konkret realisierten ökonomischen Zugewinn, sondern in einer Kette sukzessive ausgeweiteter Kriegsbeteiligungen um günstige Ausgangsbedingungen für den nächstfolgenden Waffengang. Denn wer dabei nicht mitzieht droht auf der Strecke zu bleiben.

Die immer wieder kolportierte Formel, wonach das Engagement der westlichen Mächte gescheitert sei, weil anstelle von Fortschritten nur eine Verschlimmerung der Verhältnisse eingetreten sei, hieße indessen, der Propaganda vorgehaltener Einsatzziele bereitwillig auf den Leim zu gehen. NATO-Staaten haben Afghanistan, den Irak, Libyen und Syrien überfallen, um Staatswesen zu zerschlagen, nicht um sie nach demokratischen Maßgaben zum Wohle der Bevölkerung aufzubauen. Sie sind nach Kabul gekommen, um zu bleiben, wobei sie den Blutzoll auf die einheimischen Sicherheitskräfte umzulasten und ihre Präsenz zu reduzieren, aber keineswegs völlig aufzugeben trachten. Wie an anderen Kriegsschauplätzen haben die US-Streitkräfte auch in Afghanistan eine Kette von Stützpunkten etabliert, die sie dauerhaft mit geringem permanenten Personalbedarf zu betreiben hoffen, so daß ihre Kampftruppen weitgehend abgezogen und andernorts eingesetzt werden können. Die Intervention hat viele Gesichter und keines davon lächelt dem jahrzehntelang drangsalierten Land versöhnlich zum Abschied zu.

Am 7. Oktober 2001 griff die US-Armee Afghanistan mit der fingierten Begründung an, die Taliban müßten gestürzt werden, weil sie Osama bin Laden Zuflucht gewährten und daher zur "Achse des Bösen" gehörten. Die anderen westlichen Mächte ließen sich nicht lange bitten, und auch Deutschland zog unter Kanzler Schröder in "uneingeschränkter Solidarität" mit. [1] Sich vom Bündnis rufen oder drängen zu lassen, gehörte stets zu den bevorzugten Mechanismen des deutschen Strebens nach Vorherrschaft, zumal sich die Kriegsbeteiligung auf diese Weise an der Heimatfront gut verkaufen ließ. Die Bundeswehr führte angeblich gar keinen Krieg, sondern bohrte Brunnen, pflanzte Bäume und sorgte für Mädchenschulen, ein Bundespräsident mußte sogar noch zurücktreten, als er das Offensichtliche offen aussprach, daß deutsche Wirtschaftsinteressen weltweit militärisch gesichert werden müßten. Ein Verteidigungsminister stolperte über Kundus, doch so wurde Zug um Zug die Legitimation deutscher Intervention vorangetrieben. Seit 2015 handelt es offiziell nicht mehr um einen Kampfeinsatz, sondern eine "Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission".

Nun haben die Vereinigten Staaten und die Taliban nach langer Vorbereitung das Abkommen von Doha geschlossen, das als erster wichtiger Schritt zum Frieden in Afghanistan bezeichnet wird. Es soll den Abzug der US-Truppen ebnen und sieht vor, daß binnen 14 Monaten alle ausländischen Streitkräfte das Land verlassen. Im Gegenzug sollen die Taliban garantieren, daß sie Al Quaida und IS bekämpfen, und Friedensverhandlungen mit der Regierung in Kabul beginnen. [2] Angesichts dieser Perspektive, welche die Trump-Administration zusammen mit den Taliban im Alleingang eröffnet hat, könnte die Bundesregierung die Gelegenheit nutzen und ihrerseits den Abzug der Bundeswehr ins Auge fassen, die sich ohne den Schutz der US-Luftwaffe ohnehin nicht halten könnte.

Sollte das Abkommen von Doha Bestand haben, würde auch der deutsche Bundeswehreinsatz am Hindukusch nach über 19 Jahren enden. Bundesaußenminister Heiko Maas wirbt jedoch für einen Verbleib der Truppe in dem umkämpften Land, da die internationale Staatengemeinschaft Afghanistan gerade jetzt nicht allein lassen dürfe. Die SPD-Fraktion im Bundestag will Afghanistan "unterstützen" und sich weiterhin an der NATO-geführten Mission "Resolute Support" beteiligen. Nach dem Willen der Bundesregierung soll das Parlament das Bundeswehrmandat für Afghanistan bis zum 31. März 2021 verlängern. [3] Eingesetzt werden sollen wie bisher bis zu 1.300 Soldaten, derzeit sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums dort rund 1.200 deutsche Soldaten stationiert.

Angesichts des Abkommens von Doha fordern Oppositionsparteien im Bundestag ein überarbeitetes Afghanistanmandat. Das Abkommen sei der erste Schritt auf einem langen, ungewissen Weg, sagte die FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann in der ersten Lesung zur Mandatsverlängerung. Deshalb bedauere sie, daß Deutschland keine "Exit-Strategie" habe. Die Bundesregierung müsse deutlich erklären, wie es mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan weitergehen soll. Auch die Grünen-Parlamentarierin Agnieszka Brugger kritisierte, daß die Regierung trotz neuer Lage ein "völlig unverändertes Mandat" vorlege, und verlangte ebenfalls eine Antwort auf das Abzugsszenario der USA. Hingegen forderten Linksfraktion und AfD, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. [4] Da alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien nichts gegen Kriege mit deutscher Beteiligung haben, solange es nur die "richtigen" sind, ziert Die Linke das Alleinstellungsmerkmal, jegliche Auslandseinsätze abzulehnen. Aus diesem Grund spricht ihr die parteipolitische Konkurrenz die Regierungsfähigkeit auf Bundesebene ab.

Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Henning Otte, erklärte im Bundestag: "Das Ziel unseres Einsatzes war und ist ein stabilisiertes Afghanistan, von dem auch für Deutschland und seine Verbündeten keine Bedrohung ausgeht." Allerdings stehe die Mandatsverlängerung jetzt "unter einem besonderen Stern". Denn "peu à peu läuten wir in verantwortbarer Weise das Ende dieses internationalen Einsatzes ein - sofern die Sicherheit das zulässt". Mit Blick auf einen möglichen Abzug betonte Otte den NATO-Grundsatz: "Gemeinsam rein, gemeinsam raus." Der verteidigungspolitische Sprecher verwies zugleich darauf, daß neue Herausforderungen auf Europa zukämen - vor allem in Afrika und dort speziell in der Sahel-Zone. Von einem grundsätzlichen Rückzug der Bundeswehr aus ihren diversen Auslandseinsätzen oder gar einem Ende militaristischer Ambitionen kann keine Rede ein.


Fußnoten:

[1] www.freitag.de/autoren/lutz-herden/das-ende-vom-lied

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-deal-nato-will-truppen-nur-bei-reduzierung-der-gewalt-abziehen-16664516.html

[3] www.deutsch.rt.com/international/98905-nach-jungster-eskalation-gewalt-haben/

[4] www.evangelisch.de/inhalte/166771/04-03-2020/opposition-kritisiert-afghanistan-mandat-der-bundeswehr

6. März 2020


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