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KRIEG/1798: Kurdische Fronten ... (SB)



Es sind zehntausende Anhänger der Miliz und ihre Familienmitglieder, deren Last allein auf unseren Schultern liegt. Wir haben immer wieder vor Situationen wie der momentanen gewarnt und an die Herkunftsländer sowie die internationale Anti-IS-Koalition appelliert, sich verantwortlich zu zeigen. Der IS ist ein internationales Problem, die Staatengemeinschaft steht in der Pflicht, es anzugehen und aus dem Weg zu räumen.
Abdulkarim Omar ("Außenminister" der kurdischen Selbstverwaltung) [1]


In Gestalt der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten Syriens auf der einen und des Islamischen Staats (IS) auf der anderen Seite treffen zwei Gesellschaftsentwürfe frontal aufeinander, die gleichsam diametral entgegengesetzte Vorstellungen postulieren und praktizieren, wie menschliches Zusammenleben gegen alle Widrigkeiten erkämpft, gestaltet und weiterentwickelt werden könnte. Hier in Umsetzung der Ideen des seit 22 Jahren in türkischer Isolationshaft gefangengehaltenen Abdullah Öcalan kein Streben nach einem eigenen Staat, sondern ein demokratischer Konföderalismus, eine basisdemokratisch organisierte gleichberechtigte Selbstverwaltung aller Bevölkerungsgruppen - dezentral, geschlechtergerecht und ökologisch. Diese Vision einer künftigen Gesellschaft wird seit geraumer Zeit in der Praxis Rojavas überprüft, angewendet und fortentwickelt. Die autonome Verwaltung besetzt Führungspositionen stets mit einer Frau und einem Mann, sämtliche Ethnien und Konfessionen - Araber und Kurden, Assyrer, Chaldäer, Armenier, Tscherkessen und Jesiden - sind vertreten. Mit Kurdisch, Arabisch und Syro-Aramäisch gibt es offiziell drei Amtssprachen. [2] Dort die nach eigener Auffassung ausschließlichen Repräsentanten des einzig wahren Glaubens, in deren Gottesstaat die strenge Auslegung der Scharia die Unterjochung der Frauen wie auch die Ausplünderung, Versklavung, Vertreibung oder Tötung jeglicher Ungläubiger legitimiert. Während also der kurdische Entwurf eine kollektive Ermächtigung der Schwachen und Unterworfenen ins Auge fasst, steht der IS für die blutrünstige Durchsetzung eines reaktionären Patriarchats und eines streng hierarchisch aufgebauten Kalifats, das in Durchsetzung seiner Zwecke vor keiner Greueltat zurückschreckt, sich dieser brüstet und sie zur Einschüchterung jeglicher Gegnerschaft medial verbreitet.

Im Übergang von Kolonialreichen zu neokolonialen Einflusssphären zog der britisch-französische Schulterschluss willkürliche Grenzen im Nahen Osten, welche die kurdische Bevölkerung auf die Türkei, Syrien, Irak und Iran verteilte. Damit rückte die Schaffung eines eigenen Staates de facto in unerreichbare Ferne, wie sich im nachfolgenden Kampf um die verweigerten Autonomierechte deutlich abzeichnete. Die jeweiligen Regierungen fürchteten separatistische Tendenzen und unterdrückten diese mit brutaler Waffengewalt, nicht zuletzt dank der Unterstützung westlicher Mächte wie etwa der Bundesrepublik, die Kriegsgerät an die Türkei lieferte. Öcalan kam indessen zu dem Schluss, dass ein kurdischer Staat nicht nur militärisch und geopolitisch unerreichbar, sondern auch prinzipiell nicht erstrebenswert sei, würde er doch zwangsläufig eine strukturell repressive Staatsgewalt und deren institutionelle Verfestigung etablieren. Auch könne es nicht um einen kurdischen Nationalismus und dessen Durchsetzung gegen andere Nationalismen gehen, vielmehr stehe gerade in dieser zersplitterten und aufgewühlten Weltregion ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben auf der Tagesordnung. Aus Sicht der kurdischen Bewegung werden die bestehenden Ländergrenzen respektiert, jedoch im Sinne einer Konföderation erweiterte Möglichkeiten einer Zusammenarbeit kurdischer Menschen aus allen vier Ländern und die Sicherung deren kultureller Identität und Entfaltungsmöglichkeiten angestrebt.

Wenngleich die kurdische Selbstverwaltung nicht nur der einzig erkennbare potentiell trag- und ausbaufähige Entwurf einer friedlichen Koexistenz in dieser mit einem Flächenbrand zahlreicher Konflikte überzogenen Region ist, sondern sich überdies durch bemerkenswert fortschrittliche Entwicklungsoptionen auszeichnet, wird westlicherseits der Stab darüber gebrochen. Eben weil Rojava in gesellschaftlicher Theorie und Praxis ein antistaatliches, antipatriarchales und basisdemokratisches Gesellschaftsmodell verkörpert, das vermittels der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) seine Anliegen und Errungenschaften wehrhaft zu verteidigen weiß, soll diese Repräsentanz emanzipatorischen Potentials nach dem Willen der westlichen Regierungen von der Bildfläche verschwinden.

Islamistischer Terror unter türkischer Regie

Das gilt um so mehr aus Perspektive der türkischen Regierung. Recep Tayyip Erdogan will die Kurdinnen und Kurden in Syrien erklärtermaßen militärisch unterwerfen, im Zuge einer ethnischen Säuberung vertreiben und an ihrer Stelle syrische Flüchtlinge und arabische Milizionäre ansiedeln. Er ist bestrebt, den kurdischen Widerstand zu brechen, die sozialen Zusammenhänge zu zerstören und die kurdische Kultur zu vernichten. Dieser Gesellschaftsentwurf ist für despotische Regime wie auch erzreaktionäre islamistische Milizen in dieser Weltregion ein verhasstes Feindbild. Zunächst verrichten die mordenden, folternden, vergewaltigenden, raubenden und plündernden islamistischen Banden ihr Werk, die eine Zwangsherrschaft der Scharia errichten. Dann folgt die Administration, um in den okkupierten Gebieten in Nordsyrien Verwaltung, Amtssprache und Schulunterricht zu türkisieren, was den dauerhaften Charakter des expansionistischen Übergriffs unterstreicht.

Erdogan plant, die Grenzen der Türkei zu verschieben, die seiner Ansicht nach 1923 im Vertrag von Lausanne falsch gezogen wurden. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war von dem untergegangenen Osmanischen Reich nicht mehr viel übriggeblieben, was der türkische Präsident in revanchistischer Manier nicht hinnehmen will. Die Rückkehr zu alter Größe spricht als nationalistisches Wunschbild erhebliche Teile der Bevölkerung an, wie im Internet kursierende Karten belegen, die das Land in den vermeintlichen Grenzen von 1920 zeigen. Dies wird von offizieller Seite gefördert, da selbst staatlich kontrollierte Sender gelegentlich solche Schaubilder zeigen, auf denen auch nördliche Teile Syriens und des Iraks zur Türkei gehören. Erdogan bezeichnet einen fast 400 Meilen langen Streifen zwischen Aleppo und Mossul als "türkische Sicherheitszone" und lässt diesen Worten erfahrungsgemäß Taten folgen, sobald er die Stunde für gekommen hält.

Die Türkei griff Ende August 2016 militärisch in den Konflikt in Syrien ein und rückte im Zuge der Operation "Schutzschild Euphrat" mit Panzern, Artillerie und Kampfjets auf syrisches Territorium vor. Wie Erdogan erklärte, gehe es um die "Säuberung des Grenzgebiets von Terroristen", wozu nach seiner Lesart vor allem die kurdischen Streitkräfte gehören. Ihm ging es darum, ein zusammenhängendes Kurdengebiet an der Grenze zur Türkei zu verhindern. Auch im Nordirak mischt die Türkei gegen den Willen der Regierung in Bagdad militärisch mit. So wurden Truppen nahe der Stadt Mossul stationiert, was die irakische Regierung als "Besatzung" bezeichnete. Türkische Streitkräfte griffen in die Kämpfe gegen den IS in Mossul ein, wobei Erdogan verkündete, dass in der Stadt künftig "sunnitische Araber, Turkmenen und sunnitische Kurden" leben sollten - ein Affront gegen den Irak mit seiner mehrheitlich schiitischen Bevölkerung.

Die Türkei hielt den Keil, der die kurdischen Kantone trennte, dauerhaft besetzt und begann sofort, sich das Gebiet zwischen den Städten Asas und Dscharabulus einzuverleiben. Im Januar 2018 gab Erdogan dann den Befehl, Afrin zu erobern, was den türkischen Streitkräften und verbündeten syrischen Milizen binnen zwei Monaten gelang. Im März 2018 entschieden sich die kurdische Selbstverwaltung und ihre YPG/YPJ-Miliz angesichts der militärischen Unterlegenheit zum Abzug, um die Zivilbevölkerung nicht zu gefährden. Mehr als 150.000 kurdische Menschen wurden vertrieben, anschließend Araber und Turkmenen aus anderen Teilen Syriens angesiedelt. Satellitenaufnahmen zeigen die Zerstörung von Schreinen der Alawiten und Jesiden wie auch die Schändung von Friedhöfen und die Umwandlung historischer Kultstätten in Militärposten. Berichten zufolge beherrschen islamistische Milizen Afrin, die aus anderen Landesteilen dorthin gebracht worden sind. Sie setzen ihre Auslegung der Scharia im öffentlichen Leben rigoros durch und verlangen, dass Frauen nur verschleiert und in Begleitung eines männlichen Angehörigen das Haus verlassen dürfen. Parallel dazu gehört die türkische Flagge zum Straßenbild, an den meisten Schulen wird türkisch unterrichtet, während die kurdische Sprache und Identität der Region mehr und mehr getilgt wird. Orte verlieren ihren kurdischen Namen, Kurdisch wird nicht länger unterrichtet, Feiern kurdischer Feste wie Newroz sind verboten. Im Oktober 2019 erfolgte ein weiterer Einmarsch türkischer Truppen und ihrer lokalen Milizen in den Gebieten Sere Kaniye (Ras al Ain) und Gire Spi (Tell Abyad). Die in türkischem Sold stehende Nationale Syrische Armee (SNA), die sich aus Milizionären von al-Qaida, al-Nusra und IS zusammensetzt, drangsaliert seither die Bevölkerung auf grausamste Weise. Zudem kommt es immer wieder zu großflächigen Angriffen auf Wohngebiete in Ortschaften, die an der strategisch wichtigen Autobahn M4 liegen.

Wiederholt hat die Türkei hunderttausenden Menschen in der Region Hasaka das Wasser abgedreht, deren Versorgung am Wasserwerk von Sere Kaniye hängt, wo die türkischen Besatzer den Hahn nach Belieben auf- und zudrehen. Angesichts eines erhöhten Bedarfs für eine angemessene Hygiene zur Corona-Infektionsprävention hat eine reduzierte Wasserversorgung schwerwiegende humanitäre Folgen. Es handelt sich um einen direkten Angriff auf die Gesundheit der Menschen, Erdogan setzt Trinkwasser als Kriegswaffe ein und verhindert Schutzmaßnahmen gegen Covid-19.

Der Anti-IS-Koalition gehörten nicht weniger als 75 Staaten und vier internationale Organisationen an, doch die Hauptlast der Bodenkämpfe trugen kurdische Einheiten, die dabei einen hohen Blutzoll entrichten mussten. Während es nicht zuletzt darum ging, die syrische Nordgrenze zu kontrollieren, um den ungehinderten Nachschub des IS an Kämpfern und Material zu unterbinden, unterlief die Türkei dieses Vorhaben. Während sie offiziell den IS bekämpfte, unterstützte sie ihn unter der Hand mit einer durchlässigen Grenze, Ölgeschäften, Waffenlieferungen und Versorgung verwundeter Kämpfer. Konnte die Kollaboration des türkischen Geheimdienstes MIT mit den Dschihadisten von Journalisten aufgedeckt werden, wurden diese wegen Verbreitung von "Terrorpropaganda" verfolgt. Ende 2014 lehnte es Ankara ab, Unterstützung für die vom IS angegriffene Stadt Kobani passieren zu lassen. Sechs Monate später weigerte sich die Regierung, Grenzübergänge in Orten zu schließen, die als logistische Zentren des IS bekannt waren. In Folge heftiger Einwände des Erdogan-Regimes wurden die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zunächst nur unzureichend mit militärischer Ausrüstung versorgt. Dies hatte zur Folge, dass sie ohne Körperpanzer, Helme und Minenräumgerät ins Gefecht ziehen mussten. Um Erdogan zu besänftigen, verzögerten die USA monatelang den Angriff auf Manbidsch, wo sich der IS festgesetzt hatte. Erst nachdem sich Pläne als undurchführbar erwiesen hatten, Rakka mit Hilfe von der Türkei unterstützter Milizen zu befreien, beschloss Trump im Mai 2017 eine direkte Bewaffnung und Unterstützung der kurdischen YPG/YPJ, die sich als einzige Kraft erwiesen, die gemeinsam mit arabischen Kämpfern größere Verbände aufbauen und den IS zurückschlagen konnte.

Kurdische Selbstverwaltung wird systematisch isoliert

Da die USA ihre eigenen Großmachtinteressen in der Region verfolgen, sind sie kein strategischer Bündnispartner, auf den der kurdische Widerstand dauerhaft vertrauen könnte. Dennoch reicht die Schnittmenge gemeinsamer militärischer Erfordernisse vorerst aus, mit den US-Streitkräften im Sinne eines taktischen Verbündeten zusammenzuarbeiten, zumal die YPG/YPJ ungeachtet ihrer Stärke in Bodenkämpfen ohne Flugzeuge und schwere Waffen den hochgerüsteten türkischen Streitkräften unterlegen sind. Zögen die US-Truppen vollständig ab, wäre eine sofortige Invasion türkischer Verbände und islamistischer Handlanger die zwangsläufige Folge. Die Zerschlagung der SDF und die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung würden dem Eindringen islamistischer Gruppierungen Tür und Tor öffnen, womit Erdogan seinem Traum einer ethnischen Säuberung per Austausch der Bevölkerung einen Riesenschritt näher käme und der kurdische Gesellschaftsentwurf am Abgrund stünde.

Als 2011 in Syrien Proteste ausbrachen, zog sich die Regierung Baschar al-Assads aus dem Nordosten des Landes zurück und überließ die Region der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Seitdem verwalten sich die Kurdinnen und Kurden selbst, wobei ihr Wirkungsbereich enorm gewachsen ist. Kontrollierte die PYD zunächst nur die als Rojava bekannten kurdischen Enklaven entlang der Grenze zur Türkei, so umfasst ihr Gebiet inzwischen den gesamten Nordosten und damit etwa ein Drittel des Landes. Diese Ausweitung verdanken sie ihrem erfolgreichen Kampf gegen den IS, dessen Territorien sie übernahmen. Fast elf Jahre nach Beginn des Syrienkrieges verfügen sie zwar über mehr Selbstbestimmung und geografischen Einfluss als je zuvor, doch ist diese Position unablässig bedroht. Die Selbstverwaltung muss nicht nur die ansässige Bevölkerung versorgen, sondern darüber hinaus auch 1,3 Millionen Flüchtlinge sowie zehntausende gefangene Angehörige des IS, deren Rückführung an der Weigerung der Herkunftsländer scheitert. Unterdessen setzt die türkische Regierung ihre Kriegshandlungen mit unterschwelligen bis direkten militärischen Angriffen fort.

Die Menschen leiden unter Wasserknappheit, Stromausfällen, schmutziger Luft und steigenden Preisen, was insbesondere auf türkische Maßnahmen zurückzuführen ist. Die Türkei hält das Wasser des Euphrat zurück, so dass in Syrien viel weniger ankommt, als die beiden Nachbarstaaten 1987 offiziell vereinbart hatten. Dadurch wird weniger Getreide geerntet und Fisch gefangen, die Wasserkraftwerke produzieren nicht genug Elektrizität. Vielerorts stehen deshalb mit Diesel betriebene Generatoren, deren Lärm und Gestank kaum zu ertragen sind. Von einer solidarischen internationalen Unterstützung, die dringend erforderlich wäre, kann keine Rede sein, wobei die Coronapandemie die ohnehin extrem angespannte Situation dramatisch verschärft. Der Einmarsch türkischer Truppen im Oktober 2019 hat die meisten Hilfsorganisationen vertrieben, so dass es Krankenhäusern und Gesundheitszentren an allem fehlt. Geringfügige Hilfe kommt über die kurdischen Gebiete des Nordirak, die jedoch ihrerseits massiv von türkischen Streitkräften angegriffen werden.

Nach dem Völkerrecht ist die Regierung in Damaskus offizieller Ansprechpartner in Syrien, weshalb UNO oder WHO nur mit den dortigen Behörden zusammenarbeiten dürfen, wenn es etwa um humanitäre Hilfe oder Impfstoff auch im Nordosten geht. Da Assad eine Kontrolle des ganzen Landes anstrebt und Verhandlungen über eine föderale Ordnung oder gar Autonomie der kurdisch kontrollierten Gebiete abgeneigt ist, blockiert dies eine angemessene Versorgung auf diesem Weg. Seitens der Zentralregierung werden dringende Bitten um Unterstützung des Gesundheitswesens ignoriert, Warentransporte mit zusätzlichen Wegezöllen belegt und internationale Hilfslieferungen vorenthalten.

Andererseits hindert die USA und die europäischen Mächte bekanntlich nichts daran, die syrische Regierung zu missachten und zu umgehen, wo dies ihren Interessen dient. Bezeichnenderweise fließen Hilfsgelder in den Nordwesten des Landes, kaum jedoch in die nordöstlichen Gebiete. Wohl existiert eine gewisse Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung, doch geht es dabei in aller Regel nur um den Kampf gegen den IS und keineswegs um dringend benötigte Investitionen in die Infrastruktur. Aus Rücksicht auf die Türkei hält sich die EU mit Entwicklungsgeldern zurück und auch Berlin erlaubt bislang keine Finanzhilfen für die kurdischen Gebiete, sondern fördert lediglich die ehemaligen IS-Regionen in Deir al-Sor, Rakka und Hasaka, obgleich die grenznahen Orte dringend Unterstützung etwa bei der Modernisierung der Erdölindustrie bräuchten. Im Nordosten wird das wenige Öl gefördert, über das Syrien verfügt, welches die Haupteinnahmequelle der Autonomen Verwaltung darstellt. Allerdings gibt es dort keine Raffinerien, um es zu verarbeiten. Das Rohöl wird in hunderten primitiven Öfen erhitzt, um Diesel und Benzin zu gewinnen. Die dabei entstehenden Gase und Ölrückstände verseuchen die Umwelt und gefährden die Gesundheit der Menschen. Offensichtlich ist den westlichen Mächten nicht daran gelegen, die kurdische Selbstverwaltung substantiell zu fördern.

In Deutschland unterstützen verschiedene Vereine der Städtepartnerschaft, Kirchengemeinden und NGOs mit Spendensammlungen humanitäre Projekte in der Region. Dennoch ist dieses Engagement nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um eine Katastrophe zu verhindern, bedarf es internationaler Hilfe, zu der auch die Bundesregierung aufgerufen ist. Diese wird aufgefordert, die Selbstverwaltung in die geplanten Hilfsprogramme zum Schutz von Flüchtlingsregionen vor der Corona-Pandemie mit einzubeziehen und medizinische Ausstattung direkt dorthin zu liefern. Die Türkei müsse ihre Angriffe beenden und die Wasserversorgung wiederherstellen. Auch sei es geboten, die ausländischen IS-Angehörigen mit ihren Familien aus den Lagern zu holen, um eine Reorganisierung des IS zu verhindern.

Gefängnisausbruch des wiedererstarkten IS

Den kurdisch geführten Streitkräften wurde nicht nur die Hauptlast im Kampf gegen den IS aufgebürdet, sondern perfiderweise auch die Verwahrung der Gefangenen. In vierzehn provisorischen Gefängnissen sind zehntausende IS-Mitglieder aus 54 Staaten und ihre Familien inhaftiert. Dabei handelt es sich weniger um Internierungslager als um Minikalifate, in denen noch immer die Ideologie und die Gesetze des IS gelten und brutal durchgesetzt werden. Westliche Staaten haben jedoch die Forderung, ihre Staatsbürger aufzunehmen, stets abgelehnt. Statt dessen brachten sie Ausbürgerungen von Kämpfern ins Spiel, um das Problem allein auf die kurdische Selbstverwaltung abzuwälzen, deren Warnungen vor einem Wiedererstarken des IS ignoriert wurden. Unterhalt und Bewachung der Lager verbrauchen dringend benötigte Ressourcen, während die Camps eine anwachsende Gefahrenlage darstellen.

Zwar galt das Kalifat seit der Niederlage in Baghus im März 2019 als Geschichte, doch konnte der militärische Sieg einen Fortbestand der IS-Ideologie nicht verhindern, wo diese Nährboden fand. In den zurückliegenden Monaten wurden IS-Zellen wieder aktiver, wobei es vor allem in der besonders konservativen Provinz Deir Al-Sor fast täglich zu Angriffen auf die Checkpoints der SDF kam und unter Gewaltandrohung sogar wieder Steuern für die Islamisten eingetrieben wurden. Nach UN-Angaben leiden knapp 60 Prozent der fast 21 Millionen Menschen in Syrien unter "Ernährungsunsicherheit", fast zwölf Millionen haben unter anderem aufgrund von Dürre keinen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Strom. Die dramatisch wachsende Armut und Perspektivlosigkeit führt dazu, dass der IS wieder Zulauf erhält.

Vor wenigen Tagen ist es im größten Gefängnis für IS-Terroristen in der nordsyrischen Stadt Hasaka zum gefährlichsten Versuch eines Massenausbruchs seit der militärischen Niederlage des IS gekommen. Im Gefängnis Sina waren zu diesem Zeitpunkt etwa 5.000 IS-Kämpfer aus rund 50 Ländern inhaftiert. Zur gleichen Zeit griffen die türkischen Streitkräfte Konvois der SDF an, während IS-Schläferzellen zur Unterstützung des Ausbruchs bei Deir ez Zor attackierten, wo die wichtigsten Ölfelder Syriens und das große Gefangenencamp Al Hol liegen. In anderen Regionen Nordsyriens bombardierten türkische Truppen und ihre dschihadistischen Verbündeten mehrere Dörfer. Möglicherweise bestand das zentrale Anliegen des Angriffs darin, Hasaka einzunehmen und einen Korridor zwischen verschiedenen Lagern zu öffnen. Zudem griff der IS in der irakischen Provinz Diyala Militärstützpunkte an, wobei elf Soldaten getötet wurden. Den naheliegenden Verdacht, es habe sich um eine seitens der Türkei orchestrierte konzertierte Aktion gehandelt, verstärkten offenbar Geständnisse gefangengenommener Dschihadisten, die von der Anwesenheit von IS-Anführern in den von der Türkei kontrollierten Gebieten berichteten. [3]

Nachdem zwei Autobomben in der Nähe des Sina-Gefängnisses gezündet worden waren, kam es tagelang zu Gefechten sowohl im Lager selbst als auch in den angrenzenden Stadtgebieten. Dschihadisten brachten den Nordflügel des Gefängnisses zeitweise unter ihre Kontrolle, wobei sie zahlreiche Minderjährige als menschliche Schutzschilde nahmen. Dutzenden Häftlingen gelang die Flucht in die benachbarten Wohnbezirke, wo sie sich verschanzten und hunderte Familien als Geiseln nahmen. In der gesamten Stadt waren Schüsse und Explosionen zu hören, als die SDF ganze Viertel absperrten und die Häuser durchkämmten. Dabei stellte sich heraus, dass eine Reihe von Wohnungen seit längerem Stützpunkte des IS waren. Über 100 Dschihadisten seien aus den türkisch besetzten Gebieten Serekaniye (Ras al Ain) und Gire Spi (Tel Abyad) in das Gebiet gelangt.

Die Menschen in der Provinz, die den Schrecken des IS jahrelang ausgesetzt waren und noch immer unter den Folgen leiden, verließen in Scharen ihre Wohnungen. Nach UN-Angaben sind bis zu 45.000 Menschen geflohen. Die US-geführte Anti-IS-Koalition unterstützte die SDF mit Luftangriffen bei ihrem Vorgehen gegen die Dschihadisten. Da befürchtet wurde, der Aufstand könne auf weitere Gefängnisse übergreifen, wurden auch andernorts die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Die IS-Plattform "Amaq" bekannte sich zu der Aktion und sprach von 800 geflohenen IS-Anhängern. Ob diese Angabe annähernd zutrifft ist vorerst ebenso ungewiss wie die genaue Zahl der beiderseitigen Opfer bei den Gefechten.

Racheakt des türkischen Despoten

In mehreren nordsyrischen Städten fanden unter zehntausendfacher Beteiligung Trauerfeiern für Dutzende Angehörige der SDF statt, die bei der Niederschlagung der IS-Revolte rund um das Sina-Gefängnis gefallen waren. Wenige Stunden später bombardierten türkische Kampfjets die Stadt Derik, während dschihadistische Söldner Dörfer und einen Staudamm in der Scheba-Region beschossen, wo zahlreiche aus dem besetzten Afrin geflohene Kurdinnen und Kurden leben. Salih Muslim, Außenpolitiker der PYD, sieht darin einen Racheakt Erdogans: Die Angriffe "finden statt, weil die Hoffnung des türkischen Staats auf den IS zerschlagen worden ist".

Zudem flog die türkische Luftwaffe schwere Angriffe auf kurdische und jesidische Ziele im Nordirak. Dabei kam es auch dort zu Toten und Verletzten sowie zur Zerstörung ziviler Infrastruktur. Wie das Verteidigungsministerium in Ankara erklärte, handle es sich um den Auftakt zur "Operation Winteradler", die sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) richte. Die Bemühungen zur "Bekämpfung des Terrorismus für die Sicherheit des Landes und der Nation" würden entschlossen fortgesetzt, "bis der letzte Terrorist neutralisiert ist". Neben dem kurdischen wird auch der jesidische Widerstand gegen Unterdrückung und Vernichtung von türkischer Seite unter das Terrorverdikt gefasst, um den Angriffskrieg im Nachbarland zu rechtfertigen. In der von der jesidischen Glaubensgemeinschaft bewohnten Region Sindschar (kurdisch: Sengal) wurden Menschen getötet und Gebäude zerstört. Die Luftschläge richteten sich gegen Stellungen der Verteidigungseinheiten YBS, die nach dem Genozid des IS an den Jesiden 2014 aufgestellt worden waren. Da der Luftraum im Nordirak von den USA kontrolliert wird, muss Washington seinem NATO-Verbündeten grünes Licht für den Überflug und die Angriffe weit im Landesinneren gegeben haben. [4]

Bombardiert wurde auch das rund 250 Kilometer von der Grenze zur Türkei entfernt gelegene und unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende Flüchtlingslager Machmur. Während der Spiegel wahrheitswidrig im Einklang mit Ankaras Propaganda behauptete, in dem Lager hätten "vor allem PKK-Kämpfer Zuflucht" gefunden, leben dort rund 12.000 in den 90er-Jahren aus der Türkei geflohene kurdische Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder. Wie das Presseteam des Camps erklärte, sei schon die kurdische Herkunft der Bewohnerinnen für den NATO-Staat Türkei ein legitimer Grund, sie zu terrorisieren oder zu ermorden. Seit 2017 habe es mehrfach türkische Luftangriffe in Machmur gegeben. "Solange die internationale Gemeinschaft schweigt, wird die Türkei die Region weiter destabilisieren." [5]

Der Westen fordert einen IS 2.0 geradezu heraus

Ausmaß und Dauer der Kämpfe in Hasaka zeugen von einem Wiedererstarken des IS, der mit türkischer Rückendeckung abermals an Einfluss gewinnt, so dass sich zumal in den kaum kontrollierten syrischen und irakischen Wüstengebieten neue Kalifats-Strukturen herausbilden könnten. Der IS wurde zwar erfolgreich zurückgedrängt, ist aber personell und ideologisch nie vollständig verschwunden, was insbesondere als zwangsläufige Folge westlicher Kriegsführung ausgewiesen werden kann. Bombardierung aus der Luft und selbst die weitgehende Zerstörung ganzer Städte beeinflussen zwar die aktuellen militärischen Kräfteverhältnisse, produzieren aber ihrerseits katastrophale Bedingungen für die dort lebende Bevölkerung.

Von kurdischer Seite wurde an zahlreiche Beispiele nachgewiesener Kollaboration des türkischen Staates mit dem IS erinnert. Auch fordert die Selbstverwaltung seit langem eine Rücknahme ausländischer Staatsangehöriger unter den Gefangenen, Unterstützung bei der Errichtung eines sicheren Gefängnisses, die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs vor Ort, Wiederaufbauhilfe im Nordosten des Landes und nicht zuletzt eine Aufhebung des gegen Syrien verhängten Embargos, um die Elendsfolgen für die Bevölkerung zu lindern. Neben einer Bewältigung der drängenden wirtschaftlichen Probleme ist eine Bildungsarbeit vor allem mit jungen Menschen erforderlich, die vom IS beeinflusst und als nächste Generation islamistischer Kämpfer herangezogen werden.

Die NGO Medico International mahnte Unterstützung der Selbstverwaltung im Umgang mit syrischen und irakischen Kämpfern an, sei es durch ein internationales Tribunal oder den Aufbau des Rechtssystems der Selbstverwaltung. Um dies völkerrechtlich abzusichern, sei eine offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung als staatliche Entität unabdingbar. All dies könne die Bundesregierung, die für eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik stehen möchte, anstoßen. Leider habe sie es bislang nur geschafft, das noch in der Opposition von den Grünen kritisierte Irak-Mandat der Bundeswehr zu verlängern, das auch den Einsatz von Tank- und Aufklärungsflugzeugen in Syrien beinhaltet. Ein Hauptargument von Außenministerin Baerbock für die Verlängerung war das Wiedererstarken des IS in der Region. Der Kompromiss, den Einsatz auf den Irak zu beschränken und in Syrien keine Einsätze mehr zu fliegen, scheine aus heutiger Perspektive noch absurder, so Medico International.

Wie der eingangs zitierte Omar im Namen der Selbstverwaltung kritisierte, würfen die Vorfälle in Hasaka ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit und teilweise auch die mangelnde Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, sich dem IS-Terror entschieden entgegenzustellen und ihre Pflichten hinsichtlich der inhaftierten Dschihadisten zu erfüllen. Der Westen fordere durch seine Weigerung, Verantwortung für die ausländischen IS-Gefangenen und ihre Angehörigen zu übernehmen, einen IS 2.0 geradezu heraus. Für IS-Mitglieder ist die Grenzmauer zwischen der Türkei und Nordsyrien durchlässig. Deshalb ist es ist nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu Anschlägen des IS im Westen kommen wird. Womöglich könnte dies eine Warnung sein, die noch am ehesten geeignet ist, ein gewisses Entgegenkommen der westlichen Mächte wachzurufen.


Fußnoten:

[1] https://www.heise.de/tp/features/Gefaengnisausbruch-in-Nordsyrien-Kommt-der-IS-2-0-6339384.html

[2] https://www.spiegel.de/ausland/kurden-in-syrien-die-is-bezwinger-und-ihr-traum-von-der-eigenstaendigkeit-a-fe4708df-62c4-40bf-9ce6-fff9f655ee0e?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

[3] https://www.jungewelt.de/artikel/419295.nordsyrien-hasaka-in-aufruhr.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/419851.kampf-gegen-pkk-nato-luftterror-gegen-kurden.html

[5] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkische-Luftangriffe-auf-Ziele-im-Nordirak-und-in-Nordsyrien-6345676.html


7. Februar 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


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