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KRIEG/1799: Türkei zwischen den Stühlen ... (SB)



"Mit Herrn Selenskyj, aber auch mit Herrn Putin werden wir unsere Freundschaft bewahren."
Recep Tayyip Erdogan [1]

"Den Westen und Russland gegeneinander auszuspielen gilt als eines der Hauptprinzipien der Außenpolitik Ankaras."
Stiftung Wissenschaft und Politik [2]


Recep Tayyip Erdogans lang gehegter Traum, unter seiner Führung werde die 1923 gegründete türkische Republik das hundertste Jahr ihres Bestehens im Rang einer Großmacht feiern, mag wie eine aberwitzige Fantasmagorie anmuten. Dennoch hieße es, die machthungrige Skrupellosigkeit des Despoten und seine Fähigkeit, die geopolitische Schlüsselstellung der Türkei zu nutzen, um überlegene Mächte gegeneinander auszuspielen, sträflich zu unterschätzen, sähe man ihn zwischen allen Stühlen sitzen und dem Untergang geweiht. Stürzen kann ihn nur die Bevölkerung seines Landes, deren Lebensverhältnisse allerdings schlechter denn je unter seiner Herrschaft sind. Um diese zu sichern und fortzuschreiben, setzt er auf Krieg, dessen Zerstörungsgewalt einen neuen Zyklus der Unterwerfung und Verfügung einläuten soll. Drohen eskalierende gesellschaftliche Widersprüche die Klammer des staatlichen Zwangsregimes zu sprengen, schwören Feindbildproduktion und Kriegseuphorie die Menschen auf Rettung aus allen Nöten per waffenstarrendem Marschtritt ein.

Während die türkische Kriegsführung im Norden Syriens und des Iraks unvermindert anhält, ist es nun eine andere, nicht von ihm vom Zaun gebrochene militärische Auseinandersetzung, aus der Erdogan als Sieger hervorzugehen trachtet. Schien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch die Türkei in den Abgrund zu stürzen, die gute und essentielle Beziehungen zu beiden Konfliktparteien unterhält, setzt der türkische Präsident in höchst bedrängter Lage abermals zu einem Drahtseilakt an, der ihn in einen Krisengewinner zu verwandeln verspricht. Die Entwicklung der zivilen und militärischen Produktivkräfte in Rechnung gestellt, ist die weitaus schwächere Türkei abhängig von den EU-Staaten, der NATO, den USA, Russland und teilweise auch von der Ukraine. Dass dabei unter dem Strich kein nachrangiger Vasall und bloßer Befehlsempfänger herauskommt, zeugt von erheblichen Schnittmengen der jeweiligen Staatsräson mit den von Erdogan machiavellistisch ausgesteuerten Interessen türkischer Regierungspolitik, die sich allseits unverzichtbar zu machen versteht.

Der Einwand, wer sich nicht für eine Seite entscheiden könne, werde mit Handlungsunfähigkeit bestraft, wird Erdogans opportunistischer Kaltblütigkeit nicht gerecht. Seine Handlungsfähigkeit resultiert ganz im Gegenteil daraus, dass er fortgesetzt aus dem Ruder läuft, um sich auf halbem Wege zurückhalten zu lassen, da der vollständige Verlust der Türkei als NATO-Mitglied oder umgekehrt aus russischer Sicht als Stachel im Fleisch des transatlantischen Bündnisses als gravierendster Störfall eingestuft wird, dem alle sonstigen Ausfälle und Unwuchten des türkischen Machthabers nachgeordnet werden. Als Mann fürs Grobe an der Flanke von NATO und EU, der fliehende Menschen fernhält, widerständige Bestrebungen niedermacht und dschihadistische Halsabschneider rekrutiert, hat er sich seit Jahren bewährt, ohne jemals mit ernstzunehmenden Sanktionen behelligt worden zu sein. Wenngleich seine Repression keinen tatsächlichen oder herbeifantasierten Widersacher verschont und dabei weit über die von ihm ohnehin nicht akzeptierten Landesgrenzen hinausgreift, weiß er sich gebraucht und kann darauf setzen, dafür nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Bellende Hunde beißen nicht

Nachdem das NATO-Mitglied Türkei am 20. Januar 2018 militärisch in Nordsyrien eingefallen war und den Kanton Afrin besetzt hatte, übernahmen die meisten internationalen Medien unreflektiert die türkische Propaganda. Eine Berichterstattung über das Leid der Bevölkerung durch die türkischen Bombardierungen, die Russland durch die Öffnung des syrischen Luftraums über Afrin möglich gemacht hatte, fand damals nicht statt. Die Regierungen der USA, der EU-Staaten und Deutschlands wie auch die Medienlandschaft in diesen Ländern hüllten sich weitgehend in Schweigen. Die massenhafte Vertreibung der überwiegend kurdischen Bevölkerung Afrins durch die als Handlanger der Türkei fungierenden dschihadistischen Milizen, die umgehend ein Regime der Scharia errichteten, fand kaum Erwähnung. [3]

Als türkische Streitkräfte im Herbst 2019 erneut in Nordsyrien einmarschierten und die Gebiete um Serekaniye und Gire Spi besetzten, gaben sich die westlichen Regierungen allenfalls "beunruhigt" oder "besorgt", obwohl in einem UN-Bericht auch in dieser Region massive Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen wurden. Der NATO-Staat Türkei hatte keinerlei Strafmaßnahmen wegen eines Verstoßes gegen das Völkerrecht zu fürchten, was ebenso für seine Kriegführung im Norden des Iraks gilt. Luftangriffe und Truppenpräsenz in den beiden Nachbarländern wie auch die Türkisierung grenznaher Gebiete in Syrien, die auf eine dauerhafte Okkupation schließen lässt, werden von den westlichen Mächten in stillschweigender Kollaboration unterstützt, zumal die von der türkischen Regierung angestrebte Vernichtung des kurdischen Gesellschaftsentwurfs und Widerstands offensichtlich auch in Berlin und Brüssel favorisiert wird. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags zogen indessen bereits 2018 in Zweifel, dass die als "Operation Olivenzweig" bezeichnete türkische Invasion im nordsyrischen Kanton Afrin und dessen Besetzung mit dem Völkerrecht vereinbar sei. Von Unkenntnis auf höchster politischer Ebene kann also definitiv keine Rede sein.

Welch ein bemerkenswerter Kontrast zu den überschäumenden Tiraden und der permanenten Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine! Angesichts dieses Waffengangs zeigte sich Deutschlands grüne Außenministerin Annalena Baerbock am 4. März 2022 lächelnd mit ihrem türkischen Amtskollegen Cavusoglu und schrieb dazu in einem vielbeachteten Tweet: "Nach unzähligen Telefonaten in den letzten Wochen haben wir uns am Rande des Nato-Treffens endlich persönlich sprechen können: vielen Dank, Mevlut Cavusoglu, für unsere starke deutsch-türkische Partnerschaft! In der Russland-Krise stehen wir zusammen."

Erdogans islamisch-reaktionäre AKP ist Seniorpartnerin in einer Koalition mit der ultranationalistischen MHP, deren Anhänger auch als "Graue Wölfe" bekannt sind. Auch aggressiver Antifeminismus gehört zum Repertoire dieser Regierung, die im März 2021 den Austritt aus der Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt beschlossen hat. Sie verkörpert eigentlich alles, wofür die Grünen in Deutschland nicht stehen wollen und was sie zu bekämpfen vorgeben. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung heißt es indessen auf Seite 154 in verklausulierter Ambivalenz: "Die Türkei bleibt trotz besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen ein wichtiger Nachbar der EU und Partner in der Nato."

Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, betonte im aktuellen Zusammenhang, dass das Völkerrecht für alle gelten müsse: "Gespräche zu einer Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg sind grundsätzlich und allerorten zu begrüßen, auch in Antalya. Das beharrliche Schweigen der Bundesregierung zu den Völkerrechtsbrüchen und dem Besatzungsregime des Nato-Partners Türkei in Syrien zeigt aber unverhohlen, dass das ganze Gerede um eine sogenannte wertebasierte Außenpolitik nichts als Heuchelei ist und der Verkleidung der eigenen geopolitischen Interessen dient. Das Völkerrecht wird dann hochgehalten, wenn es passt." [4]

Wertebasierte Außenpolitik - eine Frage der Deutungsmacht

Dass es bei der vielzitierten wertebasierten Außenpolitik um die selektive Durchsetzung expansiver Ambitionen samt der dafür unverzichtbaren Deutungsmacht geht, belegte auch der Antrittsbesuch des Bundeskanzlers in Ankara. Olaf Scholz war voll des Lobes über seinen Gastgeber, den er gar nicht erst mit tadelnden Fragen nach den Menschenrechten in der Türkei belästigt hatte. Ein Treffen mit Oppositionellen und Vertretern der Zivilgesellschaft, wie es in einem solchen Fall beinahe obligatorisch ist, um zumindest den Anschein eines kritischen Blicks zu wahren, stand praktischerweise nicht auf dem Programm. Den leicht erregbaren Präsidenten zu verärgern, war nicht angesagt, ging es aus Perspektive deutscher Regierungspolitik doch vordringlich darum, im Hype um den großen Friedensstifter am Bosporus nicht abgehängt zu werden.

Nachdem sich die Außenminister Russlands und der Ukraine, Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba, unter der Vermittlung Erdogans am 10. März erstmals in Antalya getroffen hatten, schickten mehrere europäische Staaten sowie die NATO umgehend ihre Spitzenvertreter in die Türkei, um sich über den Hergang des Treffens informieren zu lassen. Erdogan und sein Außenminister Cavusoglu hatten im Rahmen des "Antalya Diplomacy Forum" bereits mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg, mit dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, sowie mit zahlreichen Außen- und Verteidigungsministern der EU und anderer Länder gesprochen, darunter sogar Vertretern der Taliban aus Afghanistan. Die Bundesregierung hatte jedoch bis auf ihren Botschafter in Ankara niemanden in offizieller Mission zu dem Treffen geschickt. "Über 2500 ausländische Gäste folgten der Einladung, aber leider nur wenige aus Deutschland", kritisierte Ex-Außenminister Sigmar Gabriel genüsslich als Heckenschütze, der unter anderem für ein Treffen mit seinem "lieben Bruder", dem türkischen Außenminister Cavusoglu, angereist war.

Scholz hatte also einiges nachzuholen, zumal Erdogan ungeachtet fehlender konkreter Ergebnisse des Treffens in Antalya von einem "diplomatischen Triumph" sprach und sogar US-Präsident Joe Biden die türkischen Vermittlungsversuche gelobt hatte: "Der Präsident ist sehr dankbar für die Rolle, die die Türkei spielt", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, nach einem Telefonat zwischen Biden und Erdogan. Beide hätten "ihre nachdrückliche Unterstützung" für die Ukraine bekräftigt und die Notwendigkeit eines sofortigen Endes der russischen Aggression betont. [5] Nach seinem fast dreistündigen Treffen mit Erdogan pries auch der Bundeskanzler die diplomatischen Bemühungen der Türkei und dankte dem Präsidenten, mit dem er hinsichtlich eines schnellen Waffenstillstands in der Ukraine völlig einig sei. Die Konflikte mit Armenien, die Repression gegen kurdische Menschen im In- und Ausland oder die Freilassung des seit 2017 inhaftierten Unternehmers Osman Kavala, die das Auswärtige Amt noch im Januar offiziell gefordert hatte, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Scholz mahnte lediglich hinterher an, dass die Deutsche Welle weiterhin frei und unabhängig in der Türkei berichten müsse. Die Stimmung war herzlich und Erdogan betonte mehrfach, dass man ein neues Kapitel aufschlagen wolle. Scholz nannte er einen "Freund und Verbündeten der Türkei" und genoss es sichtlich, allseits umgarnt und als Schlüssel zur Beendigung des Krieges gerühmt zu werden. Auch mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin hatte er sich persönlich darauf verständigt, diese Vermittlerrolle einzunehmen.

Im Kontext neo-osmanischer Großmachtfantasien

Erdogan, der mit seiner Vision türkischer Expansion und Weltgeltung nationalistischen Treibstoff zum Befeuern seiner Hybris generiert, akzeptiert die aktuellen Grenzen seines Landes nicht. Die Türkei schließe Gebiete in Syrien, im Nordirak, in der Ägäis, auf dem Balkan wie auch im Mittelmeer, wenn nicht gar in Libyen ein, die dem osmanischen Reich oder der türkischen Republik geraubt worden seien. Und das sind keine bloßen Hirngespinste eines revanchistischen Geistes, sondern längst in Angriff genommene "Korrekturen" des beanspruchten Territoriums, wie die Präsenz in Syrien und im Irak, die Offensive zur See oder die Intervention im libyschen Konflikt wie auch in Bergkarabach zeigen.

"Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert. Unsere Gründungsväter wurden außerhalb dieser Grenzen geboren", unterstrich er kurz nach dem gesteuerten Putschversuch im Juli 2016. Damit spielte er auf den Widerstand gegen den Vertrag von Lausanne an, der unter anderem die heutigen Grenzen der Türkei festlegte. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war von dem untergegangenen Osmanischen Reich nicht mehr viel übriggeblieben, was Erdogan nicht hinnehmen will. Die Rückkehr zu alter Größe spricht als nationalistisches Wunschbild erhebliche Teile der Bevölkerung an, wie im Internet kursierende Karten belegen, die das Land in den vermeintlichen Grenzen von 1920 zeigen. Dies wird von offizieller Seite gefördert, da selbst staatlich kontrollierte Sender gelegentlich solche Schaubilder zeigen, auf denen auch nördliche Teile Syriens und des Iraks, darunter die Städte Aleppo und Mossul, zur Türkei gehören.

Der türkische Präsident sieht das untergegangene Osmanische Reich als seinen politischen Bezugsraum, in dem er Einfluss zurückgewinnen will. Dazu gehört auch die Ukraine, denn die südlichen Teile des jetzigen Kriegsgebiets standen einst unter türkischer Herrschaft. Bis heute sind die Krimtataren eine Minderheit in der Ukraine. Die 1783 vom Zarenreich eroberte Krim war einer der ersten territorialen Verluste des Osmanischen Reiches und hat für die Türkei einen hohen Symbolwert. Zum Ärger des Kreml kritisierte Ankara mehrfach die russische Annexion der Krim 2014 und pochte immer wieder auf die Unabhängigkeit der Ukraine.

Die Türkei ist an einer Beibehaltung des Status Quo in der Region interessiert, da Ankara eine unabhängige Ukraine als Gegengewicht zu Russland sieht. Andererseits hat die türkische Regierung kein Interesse daran, dass die NATO über einen Beitritt der Ukraine regional stärker wird. Indem Erdogan nun als Friedensstifter in dieser Region auftritt, demonstriert er für seine Landsleute, dass er Gestaltungsmacht in der alten Einflusssphäre zurück gewinnt. Er ist keineswegs ein Friedensstifter, dessen Glaubwürdigkeit aus einer von Eigeninteressen ungetrübten Position als neutraler Vermittler herrührt. Sein Einfluss entspringt ganz im Gegenteil dem Umstand, dass für seine oszillierenden Ambitionen unerhört viel auf dem Spiel steht, weshalb er es auch in diesem Konflikt darauf anlegt, als lachender Dritter zu profitieren.

Kriegsherr von wachsender Waffengewalt

Erdogan sieht die Türkei als bedeutende Regionalmacht mit einer eigenständigen Außenpolitik. Zum Verdruss der NATO-Partner hat er 2017 das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft. Auch arbeiten die beiden Regierungen im Syrien-Konflikt derart eng zusammen, dass das gute türkisch-russische Verhältnis in der EU und den USA die Sorge verstärkt, Ankara wende sich vom Westen ab. Washington will der Türkei wegen des Streits um die russischen S-400 keine Kampfjets des Typs F-35 liefern. Zudem hat Ankara das Problem, dass Exporte eigener Rüstungsgüter wie Kampfhubschrauber in Konfliktregionen schwierig oder unmöglich werden, wenn sie mit westlichen Komponenten wie Motoren ausgestattet sind. Deshalb sucht die Türkei andere Lieferanten, wofür sich die Ukraine anbietet. So könnte der Motor für ein geplantes türkisches Kampfflugzeug, das statt der amerikanischen F-35 an die Luftwaffe gehen soll, aus der Ukraine kommen.

Diese soll auch einen neuen türkischen Marschflugkörper mit einem Antrieb ausstatten sowie den Motor für den türkischen Kampfpanzer Altay bauen. Deutsche Firmen waren nämlich nach dem gescheiterten Putsch 2016 und den anschließenden Massenverhaftungen von Oppositionellen in der Türkei aus dem Panzerprojekt ausgestiegen. Die geplante Kooperation in der Rüstungsbranche schließt neben Lieferungen ukrainischer Gasturbinen und Triebwerke für türkische Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge auch eine gemeinsame Produktion von Kampfdrohnen inklusive Wartungs- und Trainingszentrum in der Ukraine ein. [6] Diese Drohnen baut bislang die Firma von Erdogans Schwiegersohn Selcuk Bayraktar. Die Bayraktar TB2 hat sich bei Kriegseinsätzen in Syrien, Libyen und Berg-Karabach nach Einschätzung internationaler Experten außerordentlich bewährt und wurde bereits in Länder wie Aserbaidschan, Äthiopien, Marokko, Tunesien, aber auch in die Ukraine exportiert.

Schon 2018 hat Kiew 20 Bayraktar TB2-Drohnen gekauft und teils gegen die "Volksrepubliken" im Donbass zum Einsatz gebracht. Nun ist die Ukraine zum Schauplatz eines neuen weitreichenden Drohnenkrieges geworden, in dem beiderseits unbemannte Luftfahrzeuge verschiedener Größen und mit unterschiedlichen Fähigkeiten eingesetzt werden. Die Angriffe der Langstreckendrohnen des Typs Bayraktar TB2 sollen dem russischen Militär empfindliche Schäden beigebracht haben. Inzwischen scheint die Türkei reichlich Nachschub in die Ukraine geschickt zu haben. Dies legen jedenfalls Tracking-Webseiten nahe, die in den letzten Wochen mehrere Transporte vom türkischen Flughafen Tekirdag, dem Sitz des Drohnenherstellers Baykar, nach Polen dokumentierten.

Die Bayraktar-Drohnen spielen auch im Informationskrieg eine wichtige Rolle, da die in Einsätzen aufgenommenen Videos medienwirksam verbreitet werden. Die ukrainische Regierung hat die Bedeutung der TB2 für den Überlebenswillen ihrer Truppen erkannt und bietet über eine App das Online-Spiel "Bayraktar" an, in dem die türkische Drohne gegen russische Panzer, die mit dem Symbol "Z" markiert sind, geflogen wird. Das Ministerium für digitale Transformation bezeichnet dies als "digitales Beruhigungsmittel", das die "Moral der Bürger" stärken soll. Unterdessen verbreitete sich in Sozialen Medien ein ukrainisches Loblied auf die TB2, das die russischen Angreifer als feige "Orks" schmäht und im Refrain "Bayraktar, Bayraktar" skandiert.

Anders als in den Einsätzen der Bayraktar TB2 im von der Türkei unterstützen Krieg um Berg-Karabach wird die Drohne im Ukraine-Krieg westlicherseits positiv konnotiert. Im Gegenzug für diese Aufrüstung verlangt Erdogan eine Aufhebung von Exportbeschränkungen, die einige westliche Staaten gegen die türkische Drohnenindustrie verhängt hatten. [7]

Das gesamte Handelsvolumen zwischen der Türkei und der Ukraine betrug 2021 fünf Milliarden US-Dollar, Ankara ist der größte ausländische Investor in der Ukraine. Anfang Februar besuchte Erdogan seinen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Kiew und unterzeichnete ein Freihandelsabkommen. Neben den genannten Rüstungsgütern ist dabei insbesondere die Lieferung von Weizen und Sonnenblumenöl aus der Ukraine von Bedeutung für die Türkei, wovon noch die Rede sein wird.

Schon die Lieferung von Kampfdrohnen an Kiew, die gegen pro-russische Separatisten im Osten des Landes eingesetzt wurden, belastete zwangsläufig das russisch-türkische Verhältnis. Wiederholte Einwände und Warnungen aus Moskau veranlassten Erdogan keineswegs zum Einlenken, doch bot er sich bereits im vergangenen Jahr als Vermittler an, um die Wogen zu glätten. Er lud Putin und den ukrainischen Präsidenten Selenskyj in die Türkei ein, was der russische Staatschef jedoch ablehnte. Anfang Februar bezeichnete Erdogan bei seinem Besuch in Kiew einen möglichen Angriff Russlands als "nicht realistisch" und als falschen Schritt. Wenige Tage später sandte er eine inoffizielle Delegation nach Moskau. Der Kreml reagierte zwangsläufig zurückhaltend, begrüßte aber zuletzt Gespräche der Türkei mit der Ukraine.

Hunger nach importiertem Weizen und Sonnenblumenöl

Die Türkei war in der Vergangenheit landwirtschaftlich autark und belieferte sogar Europa mit Nahrungsmitteln, doch stellte der 2002 an die Macht gekommene Erdogan dieses Verhältnis mit seiner Wirtschaftspolitik auf den Kopf. Er gab fruchtbares Agrarland zur Bebauung und Ansiedlung von Industrie frei. Diese vermeintliche Modernisierung des Landes führte dazu, dass die Türkei heute Weizen importieren muss, damit Brot gebacken werden kann. Die Einfuhr von rund einer Million Tonnen Weizen im Jahr 2002 hat sich bis 2020 in etwa verzehnfacht. Mit dem Niedergang der Wirtschaft und dem Wertverlust der türkischen Lira stieg der Brotpreis dramatisch und durch die Verschärfung der Krise zwischen der Ukraine und Russland explodierte er geradezu. Da zwei Drittel der Weizenimporte aus Russland stammen, wuchsen seit Kriegsbeginn die Schlangen vor den Ausgabestellen für subventioniertes Brot weiter an.

Ein weiterer unverzichtbarer Bestandteil der türkischen Küche ist Sonnenblumenöl. Als der Anbau von Sonnenblumen und die Ölproduktion zurückgingen, öffnete die Türkei ihre Pforten für die Einfuhr weit. Der Preis dafür stieg im letzten Jahr stärker als der für Gold und seit Kriegsbeginn erhöhte sich der Literpreis im Schnitt noch einmal um das Vierfache, weil 65 Prozent der diesbezüglichen Importe aus Russland und der Ukraine kommen. Überall im Land bilden sich Schlangen vor den Supermärkten, kaufen die Menschen die Regale leer.

Der Regierung gelang es nicht, die Preissteigerungen zu bekämpfen, doch bekämpft sie anstelle dessen jene, die darüber berichten oder solche Berichte verbreiten. Polizeipräsidien leiten Ermittlungen ein, die staatliche Zensurstelle für die Medien verwarnte die Websites, Rundfunk- und Fernsehanstalten, keine Spekulationen über Lebensmittelpreise anzustellen. Vielmehr solle man die Verlautbarungen der jeweiligen Institutionen veröffentlichen. Andernfalls werde es zu gesetzlichen Maßnahmen kommen, versucht das Regime eine drohende Hungerrevolte durch Einschüchterung zu bannen. [8]

Engste energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland

Lange Schlangen bilden sich in der Türkei auch vor Tankstellen, da der Literpreis binnen eines Jahres um das Dreifache stieg und der Treibstoff allein seit Neujahr gut dreißig Mal verteuert wurde. Die Leute stellen sich abends vor den Tankstellen an, um die möglicherweise um Mitternacht in Kraft tretende Preiserhöhung zu vermeiden. Wegen Energieknappheit war das Land Ende Januar gezwungen, der Industrie drei Tage lang Strom und Gas abzustellen. Ähnlich wie in Deutschland basiert die Energieversorgung auch in der Türkei vorwiegend auf russischen Rohstoffen, da ein Drittel des Gases und knapp ein Fünftel des Öls von dort kommt. Vor zwei Jahren eröffneten Erdogan und Putin die neue Gas-Pipeline "Turkstream", deren Rohre quer durchs Schwarze Meer über die Türkei nach Europa führen, wofür beträchtliche Transitgebühren anfallen. Vergangenes Jahr ging dann der Abzweiger "Balkan Stream" in Betrieb, der von der Türkei und Bulgarien über Serbien nach Ungarn führt, wo russisches Gas in weitere europäische Netze eingespeist werden kann.

Energiepolitisch setzt Erdogan auf die russische Karte, das erste türkische Atomkraftwerk wird komplett vom russischen Staatskonzern Rosatom gebaut. An der türkischen Südküste in Akkuyu bei Mersin entsteht unter russischer Federführung derzeit das neue Vorzeigestück türkischer Modernität, der erste Block soll noch dieses Jahr in Betrieb gehen. Nach Fertigstellung wird das AKW rund zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs abdecken, was in etwa dem Verbrauch der Millionenmetropole Istanbul entspricht.

Außergewöhnlich an diesem Projekt ist insbesondere, dass Russland es nicht nur baut, sondern auch alles bezahlt und das AKW hinterher betreibt. Das AKW Akkuyu gilt damit als erstes Projekt in der globalen Atomindustrie, das nach dem Betreibermodell "Build - Own - Operate" errichtet wird. Die Akkuyu Project Company ist zu 100 Prozent Rosatom, die Kosten werden auf rund 20 Milliarden Dollar geschätzt und es ist vertraglich vereinbart, dass der russische Anteil auch in Zukunft nicht unter 51 Prozent fallen darf. Rosatom bringt auch das Uran in die Türkei und die Atompartnerschaft sieht sogar vor, dass die Russen der Türkei eine Uran-Anreicherungsanlage bauen. Erdogan könnte darin auch eine Option sehen, sich irgendwann den Zugang zu einer eigenen Atombombe zu eröffnen, worüber er durchaus schon laut nachgedacht hat.

Rettungsanker Tourismus droht wegzubrechen

Neben Weizen, Sonnenblumenöl und Erdgas importiert die Türkei aber auch Touristen aus Russland und der Ukraine, wobei Deutschland an zweiter Stelle zwischen den beiden genannten Herkunftsländern rangiert. Nach dem Rückgang des Tourismus aus dem Westen gewannen russische und ukrainische Gäste noch einmal an Bedeutung für die türkische Wirtschaft. Im vergangenen Jahr waren 4,7 Millionen Touristen aus Russland eingereist und für 2022 wurden ursprünglich zehn Millionen Touristen aus diesen beiden Ländern erwartet. Das letzte Wirtschaftspaket Erdogans beruhte darauf, das Bilanzdefizit anhand des Tourismus auszugleichen. Die hoffnungsgetragene Kalkulation mit den Devisen, die in den Sommermonaten auf diese Weise ins Land fließen sollten, durchkreuzte der russische Angriff am 24. Februar.

Um so mehr sorgt Ankara zumindest dafür, dass die Türkei sogar für sanktionierte Oligarchen zum neuen Refugium wird. Reihenweise legen Jachten reicher Russen in Marmaris und Bodrum an. Auch die zwei Superjachten des russischen Milliardärs Roman Abramowitsch im Gesamtwert von 1,3 Milliarden Dollar haben in der Türkei angedockt, wobei die "Eclipse" sogar eigens aus der Karibik in die sicheren Häfen Erdogans floh. Russische Oligarchen sind nach den Worten des Außenministers Mevlüt Cavusoglu in der Türkei derzeit ausdrücklich willkommen, womit die Sanktionen der EU explizit unterlaufen werden. Und anders als in der EU können russische Besucher an vielen türkischen Geldautomaten mit ihren heimischen Bankkarten weiterhin Geld abheben, was für einen gewissen Zustrom sorgen dürfte.

Zu erwähnen ist aber auch die beträchtliche Tätigkeit türkischer Baufirmen in Russland, wobei das Gesamtvolumen solcher Bauprojekte bald die Marke von 100 Milliarden Dollar erreicht. Vom Lakhta Center in Sankt Petersburg bis zum Federation Tower in Moskau, zwei der höchsten Gebäude in Europa, reicht die türkische Baupräsenz im Partnerland. Diese florierenden Wirtschaftsbeziehungen möchte Erdogan auf keinen Fall gefährden, da ein Wegfall der Geschäfte mit Russland und der Ukraine die Türkei in ihrer labilen Lage empfindlich träfe.

Mit leeren Händen jongliert es sich besser

Mag Recep Tayyip Erdogan angesichts der rasanten Talfahrt der türkischen Wirtschaft und der dramatisch erodierenden Lebensverhältnisse im Lande mit nahezu leeren Händen dastehen, so versteht er es offenbar um so besser, auch mit drei Bällen zu jonglieren. Er scheint NATO, Russland und die Ukraine derart gegeneinander auszuspielen, dass ihm niemand in die Parade fährt und er einen für ihn unverzichtbaren Anteil der Kriegsbeute einfahren kann. Der türkische Präsident verurteilte die russische Intervention und bekannte sich zur NATO, der er sogar empfahl, entschlossener gegen Moskau vorzugehen. Bei der Suspendierung der russischen Mitgliedschaft im Europarat enthielt sich die Türkei jedoch als einziges Mitglied und sie beteiligte sich als einziger NATO-Staat auch nicht an den Sanktionen des Westens gegen Russland. Zwar wendete die türkische Regierung den Vertrag von Montreux an, der es ihr gestattet, im Kriegsfall den einzigen Schifffahrtsweg vom Mittelmeer ins Schwarze Meer zu sperren. Doch durften russische Kriegsschiffe die Meerenge weiterhin passieren, sofern sie zu ihrem registrierten Heimathafen gelangen mussten. Damit war dieser Schritt eher unspektakulär und als Zeichen zur Unterstützung der Ukraine lediglich symbolischer Natur. So kann Erdogan nun im Gestus des streitschlichtenden Sultans den Rat erteilen, man möge Putin einen "ehrenvollen Abzug" aus der Ukraine ermöglichen. Es sei an der Zeit zu sagen, "jetzt musst du der Architekt des Schrittes sein, der zum Frieden getan werden muss".

Im Februar und damit noch unbeeinflusst vom Krieg in der Ukraine brach die Inflation in der Türkei weiterhin Rekorde. Sie stieg offiziellen Angaben des Statistikamts zufolge auf 54,55 Prozent, unabhängige Experten bezifferten sie sogar auf 123 Prozent. Die Menschen im Land, von denen 87 Prozent aussagen, kein Auskommen mehr zu finden, neigen Umfragen zufolge in zunehmendem Maße dazu, der Regierung aus AKP und MHP die Rechnung für die verheerenden Verhältnisse zu präsentieren. Am 28. Februar hatte ein Bündnis aus sechs ansonsten sehr unterschiedlich ausgerichteten Oppositionsparteien in Aussicht gestellt, das von Erdogan eingesetzte Präsidialsystem nach Sultansart wieder durch eine parlamentarische Ordnung und die Polarisierung durch Versöhnung zu ersetzen. Dieser Block der von der kemalistischen CHP angeführten Opposition liegt auch ohne die kurdischen Stimmen bereits knapp in Führung, so dass die Regierung nach den Wahlen im Juni 2023 absehbar wechseln müsste.

Dass die Kriegsfolgen auch die türkische Wirtschaft endgültig zerrütten und somit einen Regierungswechsel unvermeidlich machen, ist zwar nicht auszuschließen, aber keinesfalls zwingend. Erdogan wird, zumal im Jubiläumsjahr, das seinen Siegeszug krönen soll, nichts unversucht lassen, das Blatt wie so oft gewaltsam zu wenden. Er hat in der Vergangenheit durch Repression gegen die Opposition und Manipulation des Urnengangs die wichtigsten Wahlen zu seinen Gunsten entschieden oder deren Ergebnisse nachträglich auszuhebeln versucht. Auf regulärem Wege abwählen lassen wird er sich gewiss nicht, wobei die Wahl seiner diesbezüglichen Mittel maßgeblich vom Ertrag seiner Mission als Friedensstifter abhängen dürfte.

Regierungsnahe Kommentatoren in der Türkei preisen Erdogan bereits als prägende Figur einer neuen Weltordnung, in der die USA und Europa an Einfluss verlieren. Dieser Anflug von propagandistisch befeuertem Größenwahn mag grandios überzogen anmuten, lässt aber umgekehrt auch nicht zwangsläufig darauf schließen, dass der türkische Machthaber längst am Ende ist. Gelingt es ihm, sich als erfolgreicher Vermittler international in Szene zu setzen, könnte ihm dieser Triumph durchaus den nötigen Schub verleihen, an der Heimatfront das jederzeit glimmende Feuer türkischen Nationalstolzes zu entfachen, alle realen Sorgen der Menschen der patriarchalen Einheitsfront wahren Türkentums zu unterwerfen und eine angestachelte Mehrheit um sich zu versammeln, die seiner eisernen Faust zujubelt und allen Gegnern Vernichtung androht. Wer diese Wendung für ausgeschlossen erklärt möge nur bedenken, wie die angesichts der Wirtschaftskrise, Klimakatastrophe und Corona-Pandemie in Depression verfallende deutsche Mehrheitsgesellschaft wie aus dem Nichts in kriegsbegeisterte Euphorie ausgebrochen ist, die jede noch so monströse Aufrüstung und Waffenlieferung in Hochstimmung versetzt, wenn es gegen den Angriffskrieger Putin und den Erzfeind Russland geht.


Fußnoten:

[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/scholz-in-der-tuerkei-ploetzlich-wird-erdogan-zum-gefragten-partner/28162910.html

[2] https://www.n-tv.de/politik/politik_person_der_woche/Keine-Sanktionen-Erdogan-baut-mit-Putin-lieber-ein-AKW-article23230964.html

[3] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Lost-in-der-Ukraine-Krise-6529398.html

[4] https://www.heise.de/tp/features/Putins-Krieg-und-Erdogans-diplomatischer-Triumph-6546130.html

[5] https://www.handelsblatt.com/politik/international/tuerkei-scholz-trifft-erdogan-doch-der-antrittsbesuch-steht-unter-neuen-vorzeichen/28158694.html

[6] https://www.jungewelt.de/artikel/421707.krieg-in-der-ukraine-balanceakt-in-ankara.html

[7] https://www.golem.de/news/herumlungernde-gefechtskoepfe-neuer-drohnenkrieg-in-der-ukraine-2203-164255-3.html

[8] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/ukraine-krieg-wie-putins-angriff-erdogan-in-bedraengnis-bringt-17864485-p3.html


4. April 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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