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KRIEG/1800: Eziden - eine angestammte Welt mit Panzern aus dem Weg geräumt ... (SB)



"Im Nordirak geht die Türkei laut Medienberichten und nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums seit dem 18. April verstärkt gegen Stellungen der PKK vor. Dabei beruft sich die Türkei, wie auch bei früheren Militäreinsätzen gegen die PKK in Nordirak, auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen ..."
Dr. Anna Lührmann (Sprecherin der Bundesregierung) [1]


Was läge einer "wertebasierten und feministischen Außenpolitik" näher, als deren Bannerträgerin sich Annalena Baerbock in Szene setzt, als das Leid kurdischer und ezidischer Frauen und Kinder wie auch deren Verteidigung gegen Unterdrückung und Kriegsgefahr auf die Tagesordnung zu setzen? Wenngleich sich die grüne Politikerin in der Vergangenheit durchaus zum Genozid der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) an den Ezidinnen und Eziden im Sengal und den durch die PKK und die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ freigekämpften Fluchtkorridor geäußert hat, ist heute von dergleichen Krokodilstränen und Lobeshymnen keine Rede mehr. Die grüne Außenministerin schweigt dazu, hat sie doch im Höhenrausch ihres politischen Gipfelsturms andernorts alle Hände voll zu tun, mittels Dämonisierung des Feindes das Feuer der Kriegseuphorie zu schüren und zum Endsieg zu blasen.

Von Unterlassungssünden oder Doppelmoral zu sprechen reicht da nicht hin, erweisen sich westliche Werte und humanitäre Aufwallungen doch noch immer als selektiv eingesetzter Brandbeschleuniger expansiver und interventionistischer Raubgelüste, der das Rudel schützt und die Beute markiert. Zur eigenen Meute gehört aus Sicht der Bundesregierung auch Recep Tayyip Erdogan, der als Verbündeter der westlichen Staaten und potentieller Friedensvermittler im Ukrainekrieg wieder einmal auf Händen getragen wird. Das zeigte sich nicht zuletzt Anfang März bei einem Treffen der Außenministerin mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu, von dem Baerbock begeistert Fotos und verbale Umarmungen auf Twitter unters Volk brachte.

In den Kommandohöhen der Nato-Staaten denkt niemand daran, Erdogan in die Parade zu fahren, mag er auch mit Bomben und Granaten, Giftgas und islamistischen Halsabschneidern im Norden Syriens und des Iraks marodieren und sich in neoosmanischen Großmachtambitionen dauerhaft festsetzen. Und davon abgesehen, dass man das türkische Regime als Flankenschutz beim Durchmarsch nach Osten für unverzichtbar hält und ihm daher in seinem beanspruchten Hinterhof oder Vorgarten freie Hand lässt, ist in den Statuten der Nato wie auch der EU gar nicht vorgesehen, dass ein Mitglied wegen Bruch des Völkerrechts, Verletzung der Menschenrechte oder Kriegsverbrechen ausgeschlossen werden kann. Es ist auch nicht geregelt, was passiert, wenn ein Nato-Mitglied demokratische Werte negiert und ein autoritäres Regime etabliert. Ein Nato-Mitglied kann laut Statut nur selbst die Mitgliedschaft aufkündigen, und eine Änderung der Statuten kann nur einstimmig erfolgen. Sanktionen, wie sie gegen Russland ausgesprochen werden, muss die Türkei als Nato-Mitglied daher ohnehin nicht befürchten. [2] Das nordatlantische Bündnis ist von seiner Grundkonzeption her ein Pakt machtpolitisch aufgerüsteter Staaten, die sich ideologisch für unanfechtbar erklären und folglich Verfehlungen ausschließlich auf Feindbilder projizieren.

In einer mündlichen Anfrage hatte die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) am 27. April nach der Haltung der Bundesregierung zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak gefragt und wissen wollen, ob die Bundesregierung ähnliche Konsequenzen ziehen wird, wie sie sie gegen Russland aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine beschlossen hat. In ihrer eingangs zitierten Antwort übernahm Lührmann unhinterfragt die Sichtweise der türkischen Regierung, der zufolge es sich nicht um Angriffskrieg und Okkupation in den beiden Nachbarländern, sondern militärische Operationen gegen die "terroristische" PKK in Selbstverteidigung handle. Der naheliegende Querverweis auf die nahezu identische Argumentationslinie der russischen Regierung für ihren Angriffskrieg in der Ukraine, die westlicherseits als absurde Verdrehung der Fakten und üble Propaganda empört zurückgewiesen wird, ist müßig. Zwar kam selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestags in Bewertung ähnlicher türkischer Angriffe in der Vergangenheit zu dem Schluss, dass sie nicht mit dem Völkerrecht vereinbar seien. Doch bleibt diese inhaltlich gut begründbare und nachvollziehbare Feststellung folgenlos für deutsche Regierungspolitik, weil es hierbei nicht um Wahrheit sondern um Deutungsmacht in Durchsetzung hiesiger Verfügungsentwürfe geht.

Genozid des IS im nordirakischen Sengal

Am 3. August 2014 begann der Genozid der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" an den Ezidinnen und Eziden im nordirakischen Sengal (arabisch: Sindschar). Damals wurden bis zu 7.000 ezidische Frauen und Mädchen entführt, misshandelt, vergewaltigt und auf Sklavinnenmärkten verkauft. Rund 2.800 von ihnen gelten bis heute als vermisst. Schätzungen zufolge wurden mindestens 10.000 Menschen getötet und mehr als 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben. Zuvor waren die damals für die Region zuständigen Peschmerga mit ihren schweren Waffen abgezogen und hatten damit die Ezidinnen und Eziden schutzlos den Dschihadisten ausgeliefert.

Hingegen hatte die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bereits am 28. Juni ein zwölfköpfiges Guerillateam zur Verteidigung Sengals entsandt. Zwanzig Tage vor dem Angriff des IS nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe sowie einen ezidischen Unterstützer fest, die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Sengal-Berg. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe zehntausende Menschen, die auf den Berg geflohen waren.

Ezidische Jugendliche schlossen sich der Verteidigung an, und nachdem die Guerilla mehrere Tage gegen die Angriffe der Dschihadisten Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Einheiten der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ aus dem nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava zur Hilfe. Gemeinsam kämpften sie einen Sicherheitskorridor frei, über den die auf den Sengal-Berg geflohenen Ezidinnen und Eziden nach Rojava evakuiert werden konnten. Mehr als 200.000 Menschen gelang auf diese Weise die Flucht.

Noch heute leben tausende Menschen auf der Hochebene von Sengal in notdürftigen Zeltstädten. Viele haben Angst, in ihre Dörfer oder Städte zurückzukehren. In der Tiefebene befinden sich laut Schätzungen 81 Massengräber, nur eines von ihnen wurde bisher geöffnet, um DNA-Analysen an den sterblichen Überresten durchzuführen. Noch immer ist für viele Menschen ungeklärt, welche Freunde und Verwandte noch leben, wer entführt wurde oder verschollen ist. Fast 300.000 Ezidinnen und Eziden leben in Flüchtlingscamps in der Region, zehntausende im nordsyrischen Rojava. Die Rückkehrwilligen erhalten keinerlei Unterstützung, sie werden im Gegenteil daran gehindert, nach Sengal zurückzukehren.

In den vergangenen Jahren wurde in der Region eine Selbstverwaltung auf Basis von Frauen- und Volksräten aufgebaut. Sicherheitsaufgaben übernehmen die Asajisch ("Sicherheitskräfte") und ezidische Selbstverteidigungseinheiten (YBS). Alle Institutionen sind genderparitätisch mit einer Doppelspitze besetzt. Doch diese Ansätze einer ezidischen Selbstverwaltung sehen sich immer wieder Angriffen durch die regionalen Autoritäten ausgesetzt. Hinzu kommen Schläge der türkischen Luftwaffe, die nicht nur Stellungen der PKK, sondern gleichermaßen ezidischen Strukturen und Flüchtlingslagern gelten. [3]

Deutsche Regierungspolitik setzt auf die Peschmerga

Die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament erkannten den Völkermord an den Ezidinnen und Eziden als solchen an. Da der IS aufgrund der Anschlagsgefahr auch in Westeuropa als Bedrohung wahrgenommen wurde, schenkten deutsche Politik und Medien damals dem Kampf gegen die Dschihadistenmiliz beträchtliche Aufmerksamkeit. So wurde das grausame Schicksal der Ezidinnen beklagt und die Rettung durch kurdische Einheiten gerühmt, Teile der Konzernpresse erörterten gar die Frage, ob es nicht endlich an der Zeit sei, das PKK-Verbot aufzuheben. Dieses Tauwetter im Umgang mit allen kurdischen Fraktionen war jedoch nicht nur von kurzen Dauer, sondern wurde auch in eine Aufrüstung ausgerechnet der Peschmerga umgemünzt, die Mitverantwortung am Genozid tragen.

Wenngleich die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ die Hauptlast des Bodenkampfs gegen den IS trugen und einen hohen Blutzoll entrichteten, was international registriert und verbal gewürdigt wurde, fokussierte das machtpolitische Kalkül der Bundesregierung deren Gegenpart unter den bewaffneten kurdischen Fraktionen in Gestalt der Peschmerga. Die angesichts der ezidischen Opfer lautstark orchestrierte Klage unterfütterte das deutsche Engagement im Irak samt der Aufrüstung des reaktionären kurdischen Flügels. Ab Herbst 2014 lieferte Deutschland neben leichten Boden-Boden-Panzerabwehrlenkwaffen des Typs Milan Gewehre vom Typ G3 und G36 sowie Maschinengewehre des Typs MG3, die Panzerfaust 3 und Pistolen des Typs P1. Ab August 2016 folgten weitere Waffenlieferungen nach Erbil. Es wurden 70 Tonnen Rüstungsgüter, darunter Sturmgewehre G36, Milan-Raketen und drei gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo 1 geliefert. Hinzu kamen deutsche Ausbilder, die seither tausende Peschmerga im Gebrauch dieser Waffen unterwiesen haben.

Einige der an die Peschmerga gelieferten Waffen, darunter deutsche G36-Gewehre, sollen auf Waffenmärkten der Region aufgetaucht und dem IS in die Hände gefallen sowie gegen rivalisierende ezidische Milizen eingesetzt worden sein. Laut Human Rights Watch ermordeten Angehörige der Peschmerga zwischen dem 28. August und dem 3. September 2017 hunderte gefangene IS-Kämpfer und vergruben die Leichen in einem Massengrab. Auch werfen Menschenrechtsorganisationen den Peschmerga vor, unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den IS systematisch arabische Siedlungen zu zerstören und die Bewohner mit dem Ziel zu vertreiben, die Gebiete kurdisch und ein in der irakischen Verfassung festgelegtes Referendum, das über die Zukunft der Gebiete hätte entscheiden sollen, aber nie durchgeführt wurde, obsolet zu machen.

Nachdem die kurdische Regionalregierung in eklatanter Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses ein Unabhängigkeitsreferendum angekündigt hatte, überrannte die irakische Armee mit verbündeten schiitischen Milizen im Oktober 2017 überraschend Kirkuk. Obgleich die Peschmerga zunächst gut aufgestellt waren, flohen sie bei Beginn der Kämpfe zusammen mit etwa einer halben Million Menschen aus der Stadt. Wie schon beim Massaker des IS im Sengal demonstrierten sie abermals, dass der ihnen anvertraute Schutz der Zivilbevölkerung von nachrangiger Bedeutung für sie ist. Dessen ungeachtet setzt die Bundesregierung auf die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Irak und damit auf den feudal-konservativen Barzani-Clan und dessen Demokratische Partei Kurdistans (KDP) als Bündnispartner in der Region.

Geschichte unablässiger Verfolgung

Ezidische Menschen standen zeit ihrer Geschichte zumeist unter dem Druck ihrer muslimischen Nachbarn, der sich immer wieder in Gewalt entlud und zu Massakern führte. Anders als Christen oder Juden wurde ihnen nach islamischem Recht kein Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums wie auch keine Erlaubnis zur Ausübung ihrer Religion zugestanden. Vielen Muslimen gelten sie bis heute als "Ungläubige" und somit als nicht schützenswert, radikale Islamisten sehen sogar ihre Tötung als heilige Tat an. Das Ezidentum ist eine monotheistische, nicht auf einer heiligen Schrift beruhende, synkretistische Religion, älter als der Islam und das Christentum. Die Mitgliedschaft ergibt sich ausschließlich durch Geburt, wenn beide Elternteile ezidischer Abstammung sind. Eine Heirat von Eziden (beiderlei Geschlechts) mit Nicht-Eziden hat den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge.

Die ezidischen Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei wurden seit dem 16. Jahrhundert von den Osmanen kontrolliert. Ab dem 17. Jahrhundert siedelten sich Eziden, vermutlich bedingt durch die Ausdehnung des osmanischen Reiches, im Gebiet des Höhenzugs Dschabal Sindschar der heutigen Provinz Ninawa im Nordirak an. 1832 und nach 1840 verübten kurdische Fürsten wiederholt Massaker an den Eziden, die erst 1849 unter gesetzlichen Schutz des Osmanischen Reichs gestellt wurden. Sie waren jedoch nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt und standen damit in der sozialen Hierarchie noch hinter Christen und Juden. Immer wieder kam es zu Versuchen, die als "gottlos" geltenden Eziden gewaltsam zum Islam zu bekehren. Unter Sultan Abdulhamid II. verschlechterte sich ihre Lage ab 1876 überdies durch Verpflichtung zum Militärdienst und Steuererhebung beträchtlich. Es kam zu Massakern seitens der Osmanen, doch eine Konversion zum Islam, die diesen Druck milderte, führte zum Ausschluss aus der eigenen Gemeinschaft. 1892 schickte der Sultan einen Sondergesandten mit dem Auftrag, die Eziden notfalls mit Gewalt zu bekehren. Es kam zu Gefechten und nach der Niederlage der Eziden im Jahr 1893 zu einem weiteren Blutbad. 1894 wurden während der vornehmlich an Armeniern und Christen verübten Greueltaten der osmanischen Truppen auch tausende von Eziden getötet.

Aufgrund der Verfolgungen flohen viele Ezidinnen und Eziden im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach Armenien und Georgien, weitere Wellen von Auswanderung und Flucht auch in andere Länder sollten folgen. In den 1970er und 1980er Jahren erklärte die Baath-Partei unter Saddam Hussein die Eziden im Nordirak zu Arabern. Im Zuge dieser Arabisierungspolitik kam es immer wieder zu Vertreibungen, Ortschaften und Ackerflächen wurden entvölkert, rund 400 ezidische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und die Einwohner zur Umsiedlung gezwungen. Durch Räumung und Zerstörung von Ansiedlungen in der Nähe von Bergen, Zwangskonvertierung der ansässigen Menschen und deren Neuansiedlung in künstlichen Städten in den Ebenen hoffte das Regime, möglichen Widerstand zu brechen und Rückzugsräume zu eliminieren. Auch wurden Dörfer zwangsumgesiedelt, um den Bau der Mossultalsperre voranzutreiben. Dadurch verloren die Eziden größtenteils ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, doch wer aufbegehrte, wurde verschleppt, gefoltert und verschwand in vielen Fällen sogar. Eine weitere Folge dieser Kampagne war die systematische Diskriminierung der Eziden, die an öffentlichen Schulen weder Unterricht in ihrer Sprache Kurmandschi noch in ihrer Religion erhielten und unter Anfeindungen durch Muslime litten.

In den letzten 30 Jahren verließen ezidische Menschen aufgrund des türkisch-kurdischen Konflikts in großen Auswanderungswellen die Türkei, aber auch im Irak mussten sie um ihr Leben fürchten. Dort wurden sie seit Ende des Krieges 2003 zur Zielscheibe von Islamisten. Am 14. August 2007 verübten Attentäter aus dem Umfeld der al-Qaida vier Anschläge in den ausschließlich von Eziden bewohnten Dörfern El Khatanijah und El Adnanijah, bei denen mehr als 500 Menschen starben und über 1500 verletzt wurden. Die al-Qaida in Mossul hatte darüber hinaus in einer Fatwa verboten, den Eziden Essen zu geben, wodurch sich die Lebensmittelversorgung in den ezidischen Dörfern dramatisch verschlechterte. Die Zusage der US-Amerikaner und der kurdischen Regionalregierung, bald Lebensmitteltransporte zu schicken, nutzten Attentäter für einen weiteren Anschlag. Diese gegen die Eziden gerichteten Anschläge waren die folgenschwersten seit Beginn des Irakkriegs.

Angesichts des Vormarsches des IS im Sommer 2014 flohen viele Eziden aus Mossul und Umgebung in das kurdische Gebiet um die Stadt Erbil sowie in das Sengal-Gebirge, wo es dann Anfang August zu dem Genozid kam. Der IS erklärte das Ezidentum zu einer "heidnischen Religion aus vorislamischer Zeit" und gab gefangene Frauen und Mädchen "legal" zur Sklaverei frei. Ziel sei die völlige Auslöschung dieser Religion, was durch islamisches Recht gerechtfertigt werde. Wer eine Konversion zum Islam verweigerte, wurde an Ort und Stelle erschossen.

Innere Widersprüche der ezidischen Gesellschaft

Auch für Ezidinnen und Eziden gilt, dass sich Religionszugehörigkeit von der ethnischen Zugehörigkeit unterscheidet. Die überwiegende Mehrheit der Eziden definiert sich ethnisch als Kurden, wobei diese jedoch überwiegend dem sunnitischen Islam angehören oder in geringerem Anteil Aleviten sind. Vor allem in der deutschen ezidischen Diaspora, mit schätzungsweise 200.000 Menschen die größte weltweit, herrscht Uneinigkeit über die ethnische Zuordnung. Eher konservative, traditionelle Eziden verstehen sich oft nicht als Kurden, sondern setzen ihre Religionszugehörigkeit mit ethnischer Zugehörigkeit gleich.

Die Sprache Kurmandschi ist ein nordkurdischer Dialekt, was ebenfalls die enge Verbindung zur kurdischen Ethnie unterstreicht. Nur in zwei ezidischen Dörfern im Nordirak wird Arabisch gesprochen. Im Irak verteilt sich die ezidische Bevölkerung im Wesentlichen auf ein Gebiet nordöstlich der Stadt Mossul und sowie den Höhenzug Sengal westlich von Mossul an der Grenze zu Syrien, aber auch in der Stadt Sengal selbst leben viele Eziden.

Wie die Angehörigen aller Religionsgemeinschaften sind natürlich auch die Eziden keine homogene Gruppe. Während sich traditionelle Kreise strikt an die religiösen Regeln und ihr Kastensystem halten, fordern andere eine Modernisierung dieser Vorgaben. Die in politische und religiöse Repräsentation unterteilte Führerschaft mit ihren Abstammungslinien und Erbfolgen mutet recht archaisch an, was aber aktuelle machtpolitische Intrigen, Einflussnahmen und Auseinandersetzungen keineswegs ausschließt.

In einer politischen Entscheidung beschloss das damalige religiöse Oberhaupt mit dem heiligen Rat, dass befreite ezidische Frauen, die in Gefangenschaft des IS vergewaltigt worden waren, mit einem Reinigungsritual wieder in die ezidische Gemeinschaft aufgenommen werden dürfen. Damit sollten noch immer stattfindende "Ehrenmorde" an diesen Frauen verhindert und sie in ihre Familien reintegriert werden. Diese Entscheidung wurde jedoch nicht von allen Familien akzeptiert, so dass aus der IS-Gefangenschaft befreite Frauen nach ihrem Martyrium überdies in konservativen ezidischen Kreisen als "Verstoßene" gelten, weshalb es neben "Ehrenmorden" immer wieder zu Selbsttötungen kommt. Mit Rücksicht auf die konservativen Kräfte, die um die Identität der Religionsgemeinschaft fürchten, stellten die Geistlichen klar, dass nur die Frauen und ihre durch Eziden gezeugten Kinder wieder aufgenommen werden. Dies hat zur Folge, dass viele Frauen notgedrungen die Vergewaltigung verleugnen, ihre Kinder zurücklassen oder bei ihren Vergewaltigern bleiben und sich im nordsyrischen Flüchtlingslager al-Hol nicht als Ezidinnen zu erkennen geben. Daher forderte die ezidische Überlebende und Nobelpreisträgerin Nadia Murad 2019, dass überlebende Frauen, die gemeinsam mit ihren Kindern in den Irak zurückkehren wollen, von der Gemeinschaft willkommen geheißen, akzeptiert und auf jede erdenkliche Weise unterstützt werden. [4]

Zur Bedrohung von außen durch nach wie vor in der Region präsente IS-Zellen, anhaltende türkische Drohnenangriffe und Erschwernisse seitens der kurdischen Autonomieregierung, die eng mit dem türkischen Geheimdienst MIT zusammenarbeitet, gesellen sich die inneren Widersprüche der ezidischen Bevölkerung, die sie spalten und um so angreifbarer machen.

Streit um die künftige Verwaltung Sengals

Die Eziden sind sich auch untereinander nicht einig, ob die Region Sengal von der irakischen Regierung, der kurdischen Regionalregierung oder unter Autonomie selbst verwaltet werden soll. Und die beiden einflussreichen kurdischen Stämme der Barzanis und Talabanis mischen kräftig mit. Nach dem Überfall des IS im August 2014 schlossen sich die Eziden zur Verteidigung Sengals entweder den Peschmergas Barzanis, den vom Talabani-Clan unterstützten iranischen schiitischen Milizen der Hashd al-Shaabi oder den von der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgebildeten ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBS an. Im gegenwärtigen zentralirakischen Regierungsgefüge verfügen die Eziden über keine eigene Interessenvertretung, nachdem das frühere Ministerium für Religionsangelegenheiten zugunsten dreier neugeschaffener Ressorts für die Angelegenheiten der Schiiten, Sunniten und Christen aufgelöst wurde.

Anfang Oktober 2020 wurde zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung in Bagdad ein weitreichendes und umstrittenes Abkommen geschlossen, wonach die Verwaltung Sengals künftig der kurdischen Regionalverwaltung und die Sicherheit der Region der Zentralregierung obliegt. Der ezidische Autonomierat, der das Gebiet seit sechs Jahren eigenständig verwaltet hatte, wurde weder in die Verhandlungen einbezogen noch soll er an der künftigen Verwaltung des eigenen Siedlungsgebietes beteiligt werden. Gleiches gilt für die ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBS und die schiitischen Hashd al-Shaabi, da künftig die föderale Polizei für Sicherheitsfragen zuständig sein soll. Diese Entscheidung über die Köpfe der Bevölkerung hinweg ruft zwangsläufig Unmut und Sorge auf den Plan, da ihr Schicksal in eben jene Hände gelegt werden soll, deren kampfloser Abzug den Genozid des IS erst möglich gemacht hat. Auch haben in den darauffolgenden Jahren weder die Zentralregierung in Bagdad noch die Regierung der kurdischen Autonomieregion nennenswerte Unterstützung beim Wiederaufbau der Region Sengal geleistet, über die sie nun uneingeschränkt verfügen wollen.

Der sunnitische Barzani-Clan kollaboriert mit der Türkei und ermöglicht die türkischen Angriffe und Geheimdienstoperationen wie beispielsweise die gezielte Ermordung ezidischer Repräsentanten. Die regierende Barzani-Partei KDP argumentiert im Einklang mit Ankara, die PKK solle aus dem Gebiet vertrieben werden, weil sie die Lage im Sengal destabilisiere. De facto hat die PKK jedoch die sich selbst überlassenen überlebenden Eziden im Sengal beim Aufbau ihrer Selbstverteidigungseinheiten unterstützt und sich danach aus dem Gebiet zurückgezogen.

Strategische Offensive Ankaras

Das türkische Erdogan-Regime will zusätzliche Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches zurückgewinnen und eine Vormachtstellung im Nahen Osten erringen. Davon zeugen die Annexionen in Nordsyrien und im Grenzgebiet des Nordiraks, wobei auch die Region Sengal zunehmend zum Schauplatz expansionistischer Kriegsführung wird. Ankara will sich Zugriff auf Erbil und Kirkuk verschaffen, wobei diese Gebiete nicht erobert werden müssen, da die nordirakische Regionalregierung mit ins Boot geholt worden ist. Die kurdische Autonomieregion ist zu über 90 Prozent auf Einfuhren aus der Türkei angewiesen und der Barzani-Clan, der die feudal-konservative KDP wie einen Familienbesitz führt, tätigt Ölgeschäfte auf eigene Rechnung an der irakischen Regierung vorbei mit der Türkei, die im Gegenzug auf die Unterstützung oder zumindest Duldung der kurdischen Regierung im Kampf gegen die PKK setzt. Der türkischen Übergriffe ungeachtet, die sie allenfalls verbal verurteilen kann, verspricht sich auch die irakische Zentralregierung angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage ebenfalls Vorteile von einer Steigerung des Handels mit der Türkei.

Schon 2017 legte Ankara den Plan vor, vom Südosten der Türkei aus Straßen und Eisenbahnlinien östlich an Sengal vorbei nach Mossul und von dort bis nach Bagdad zu bauen. Die USA werden mit der Aussicht eingebunden, die Grenze zwischen Irak und Syrien zu sichern, den iranischen Einfluss einzudämmen und den Handel in Mossul zu fördern. Diverse Gespräche und Konsultationen zwischen dem türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan, dem irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Kazimi, dem kurdischen Präsidenten Necirvan Barzani und dem US-Sondergesandten für Syrien, James Jeffrey, ließen auf ein Reifen dieses konzertierten Vorhabens schließen.

Während die türkischen Angriffe eskalieren, irakisches Staatsgebiet besetzt wird und Militärposten wie Pilze aus dem Boden schießen, sichert sich Ankara durch Handelsversprechen Zustimmung für den Zugriff auf das beanspruchte Territorium. Das strategische Ziel, die Verbindung zwischen der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien und dem Nordirak zu kappen, die Selbstverwaltung im Sengal zu zerschlagen sowie Mossul und Kirkuk in ein türkisches Protektorat zu verwandeln, droht der ezidischen Bevölkerung Unterwerfung an. Das Abkommen zur Verwaltung Sengals gaukelt der internationalen Öffentlichkeit eine bekömmliche Verfahrensweise vor, während seine Durchsetzung nun mit repressiven Mitteln vorangetrieben wird.

Irakische Streitkräfte erhöhen den Druck

Um die Abschottung zu vervollkommnen, bauen die irakischen Streitkräfte seit März diesen Jahres eine 250 Kilometer lange Mauer entlang der Grenze zwischen Sengal und Nordsyrien. In den letzten beiden Jahren hat die Barzani-Regierung im Nordirak mit Hilfe der Türkei 66 Militärstützpunkte auf nur 33 Kilometern an der Grenze zu Nordsyrien errichtet, die auch vom türkischen Geheimdienst MIT und dem türkischen Militär genutzt werden. Panzerfahrzeuge von Spezialeinheiten der Peschmerga werden mit Thermalkameras versehen und in der Region zusammengezogen. Auf dem Nordsyrien zugewandten Berg Bexer wurde eine Startbahn für türkische Aufklärungsflugzeuge gebaut, so dass die Grenze vermittels der KDP-Regierung Barzanis unter türkischer Kontrolle steht. Die Auswirkungen sind in Gestalt verschärfter bürokratischer Hürden für Bürger aus Nordsyrien wie auch verzögerter oder verweigerter Passagen für humanitäre Hilfstransporte, Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in umgekehrter Richtung bereits deutlich zu spüren.

Unterdessen liefert sich die irakische Armee mutmaßlich auf Geheiß der Türkei Gefechte mit den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBS, um sie zu entwaffnen und die Kontrolle über die Region Sengal zu erlangen. Mitte April versuchte die Armee, einen Kontrollpunkt der YBS bei der Stadt Sinune einzunehmen. Dabei wurden zwei Zivilisten und mehrere Personen aus den Reihen der ezidischen und irakischen Sicherheitskräfte verletzt. Zudem flog das irakische Militär Luftangriffe auf YBS-Stützpunkte im Sengal. Die Kämpfe haben eine neue Fluchtbewegung unter den Eziden ausgelöst, tausende Menschen sind bereits in die Autonome Region Kurdistan geflohen. Nun hat die irakische Regierung ultimativ den Abzug der YBS gefordert, ansonsten drohe ein Großangriff. [5]

Kurz vor den Angriffen auf die Region wurden die beiden Journalisten Marlene Förster und Matej Kavcic von irakischen Einsatzkräften festgenommen. Marlene Förster hat einen deutschen Pass, Matej Kavcic einen slowenischen. Die beiden arbeiteten an einem Filmprojekt über die Selbstverwaltungsstrukturen der ezidischen Bevölkerung, offenbar sollte ihnen die Möglichkeit der Berichterstattung über die Angriffe genommen werden. Sie wurden in ein Geheimdienstgefängnis in Bagdad überführt, wo sie seither praktisch ohne Außenkontakt in Einzelhaft festgehalten werden. [6]

Kampf um eine menschenwürdige Gesellschaft

Auch die aktuelle Angriffswelle der Türkei wäre ohne grünes Licht der USA nicht möglich gewesen, die im Nordirak und in Nordostsyrien Militärstützpunkte unterhalten und den Luftraum kontrollieren, was im Falle Syriens auch für Russland gilt. Appelle an eine fiktive internationale Gemeinschaft, der Vertreibung und Vernichtung kurdischer und ezidischer Menschen entgegenzutreten, gehen von der Fehleinschätzung aus, dass dieses Vorhaben der türkischen Regierung und ihrer Handlanger nicht im Interesse der anderen Nato-Staaten läge. Wenn die kurdische und ezidische Selbstverwaltung zerschlagen werden soll, geschieht dies mit Billigung der westlichen Mächte, die türkische Militäroperationen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung akzeptieren.

Der genozidale Hass Recep Tayyip Erdogans, den er in weiten Zügen mit dem IS teilt, welchen er durchweg klammheimlich bis offen unterstützt hat, erklärt sich im Kern aus seiner unversöhnlichen Feindschaft gegenüber dem emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf ohne Staat, mit Basisdemokratie und Rätestruktur, einer Befreiung der Frauen auf allen Ebenen und der Aufnahme von Menschen jeglicher Herkunft, die sich dem Aufbau dieser Gesellschaft anschließen. Für den im islamistischen Patriarchat verwurzelten und dem türkischen Nationalismus huldigenden zutiefst reaktionären Despoten sind dies rote Tücher, die er zerfetzen will. Als mit allen Wassern gewaschener Machtpolitiker kann er diese Freiheitsbewegung nicht dulden, da ihre bloße Existenz unvereinbar mit der von ihm angestrebten Allgewalt ist und diese in Frage stellt.

Erdogan erklärt all seine Gegner kurzerhand zu Terroristen, die er gnadenlos verfolge. Ausländischen Kritikern hält er entgegen, dass jeder Staat seine Terroristen habe, die er ausschalten müsse. Indem er sich so des allseits etablierten Terrorverdikts bedient, beruft er sich auf eine Staatsräson, die sich im Prinzip mit der aller anderen Staaten deckt. Emanzipatorischer und noch dazu bewaffneter Widerstand wird überall als staatsfeindlich verfolgt, weshalb sich Erdogan sicher sein kann, dass seine Drangsalierung kurdischer und ezidischer Menschen auch von anderen Regierungen gebilligt und in ihrem Ziel geteilt wird, selbst wenn dabei auf der Oberfläche bisweilen gewisse Unwuchten auftreten sollten.

Zwischen diesen Mühlsteinen kämpfen kurdische und ezidische Menschen um ihre Existenz und Zukunft, wobei sie im Kalkül zahlreicher Kriegsparteien und bewaffneter Fraktionen allenfalls befristet und nie um ihrer selbst willen auftauchen. Militärische Notwendigkeiten gebieten es, dass sie bisweilen taktische Bündnisse mit Mächten eingehen, die ihre strategischen Gegner sind, weil sie ihre politischen Ziele keinesfalls teilen. In dieser Welt, so scheint es, haben die Kurdinnen und Kurden, Ezidinnen und Eziden letzten Endes nur sich selbst und ihren Kampf um eine menschenwürdige Gesellschaft.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Kriegsschauplatz-Irak-Wo-wertebasierte-und-feministische-Aussenpolitik-aufhoert-7078022.html

[2] www.heise.de/tp/features/Wenn-ein-Nato-Mitglied-sein-Nachbarland-angreift-7066289.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/407833.völkermord-an-jesiden-erinnerung-wachhalten.html

[4] www.heise.de/tp/features/Streit-unter-den-Eziden-4960336.html

[5] www.heise.de/tp/features/Kriegsschauplatz-Irak-Angriffe-der-Armee-auf-das-ezidische-engal-Gebiet-7078649.html

[6] www.jungewelt.de/artikel/425936.medienschaffende-in-haft-festgehalten-im-irak.html


17. Mai 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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