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FLUCHT/026: Jordanien - Mehr Flüchtlinge denn je, Irakische Christen suchen Schutz vor dem IS (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. November 2014

Jordanien:
Mehr Flüchtlinge denn je - Irakische Christen suchen Schutz vor dem IS

von Arij Abukdairi


Der irakische Christ Marvin Nafi lebt nach der Flucht vor dem IS inzwischen in Jordanien - Bild: © Arij Abukdairi/IPS

Der irakische Christ Marvin Nafi lebt nach der Flucht vor dem IS inzwischen in Jordanien
Bild: © Arij Abukdairi /IPS

Amman, 3. November (IPS) - Der Iraker Marvin Nafi hatte das Vorrücken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien über das Internet verfolgt. "Wir konnten uns das gar nicht richtig vorstellen. Das wirkte alles so irreal", sagt der 27-Jährige. Nur wenige Monate später rückten die Islamisten in seiner Heimatstadt Mossul ein, und er und andere Christen mussten fliehen.

Zusammen mit seinen Eltern und beiden Brüdern lebt Marvin Nafi inzwischen in Jordanien.

"Es gibt keinen Frieden, keine Sicherheit", klagt der junge Mann, der mit seiner Familie in der lateinischen Kirche in Marka, einem Viertel in der jordanischen Hauptstadt Amman, untergebracht ist. Er ruft regelmäßig zu Hause an, um sich über die Lage vor Ort zu informieren.

Im Juli hatte der IS eine Order herausgegeben, in der die Christen von Mossul unter Androhung der Todesstrafe aufgefordert wurden, entweder zum Islam überzutreten und eine Steuer zu zahlen oder aber ihre Besitztümer aufzugeben und die Stadt zu verlassen. "In Mossul gibt es keine Christen mehr. Alle, die wir kennen, sind weg. Nur eine Gruppe Älterer, die in einem Betreuungszentrum lebt, ist geblieben und zum Islam übergetreten", berichtet Nafi.

Seit August sind irakische Christen zu tausenden über Erbil, die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, nach Jordanien gekommen. Die Sprecherin des internationalen Hilfswerks 'Caritas', Dana Schahin, berichtet, dass sich 4.000 irakische Christen seit August um Hilfe an das Caritas-Büro in Jordanien gewandt hätten. Die Hälfte wurde in Kirchen untergebracht.


Andrang in den Kirchen

Auch die Gotteshäuser in der Hauptstadt und den nördlichen Städten Sarka und Salt wurden in Flüchtlingslager umgewandelt. In der Kirche von Maraka teilen sich rund 85 Menschen einen 21 Quadratkilometer großen Raum. Frauen, Männer und Kinder schlafen auf dem Boden, wobei Extra-Matratzen als Zwischenwände aufgestellt wurden, um den Menschen ein Mindestmaß an Intimität zu vermitteln. Auf dem Gelände befindet sich eine Cafeteria, in der die Flüchtlinge die Nahrungsmittel zubereiten, die sie von der Caritas erhalten.

"Es ist sehr großherzig von Jordanien, uns aufzunehmen. Das Land tut, was es kann, doch ist die Situation für uns alle hier sehr schwierig", meint die 53-jährige Um George. Vom IS um alles gebracht, was sie besaßen, kamen die meisten Iraker in Jordanien nur mit dem an, was sie am Leib hatten und tragen konnten. "Die Kämpfer des IS haben sogar Kinder nach Geld durchsucht", erzählt Nafis Bruder Ihab. "Wir haben aus Angst um unsere Sicherheit alles abgegeben."

Die jordanische Hilfsorganisation 'Islamic Charity Centre Society' hat Container in den Kirchhöfen aufgebaut. Andere Familien wurden in Mietwohnungen untergebracht, die sie sich mit anderen teilen müssen.

"Wir sind immer noch dabei, die Bedürfnisse dieser vielen Menschen zu ermitteln. Die meisten waren mit nichts aufgebrochen", bestätigt Andrew Harper, Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Jordanien. Seine Organisation registrierte zwischen August und September täglich an die 120 irakische Neuankömmlinge, von denen 60 Prozent angegeben hatten, vor dem IS aus dem Irak geflohen zu sein.

In diesem Jahr hat das UNHRC um die 11.000 Iraker in Jordanien registriert. Die Gesamtzahl beläuft sich nun auf 37.067. Denn das Land hat seit 2003 Heerscharen irakischer Flüchtlinge aufgenommen, von denen viele aufgrund der immer knapper werdenden Ressourcen in desolaten Verhältnissen leben.

"Die irakischen Flüchtlinge sind dringend auf die Hilfe von Gebern und Institutionen angewiesen", meint Eman Ismail vom irakischen Flüchtlingsprogramm der Hilfsorganisation 'CARE International' in Amman. Da sie nicht arbeiten dürfen, leben sie in den ärmsten Vierteln Ostammans und in Sarka. Mit großen Schwierigkeiten bringen sie die Miete für ihre Wohnungen auf und schicken ihre Kinder zur Schule.

Der neue Zustrom irakischer Flüchtlinge im ressourcenschwachen Jordanien, wo auch mehr als 618.500 syrische Flüchtlinge untergekommen sind, setzt die Hilfsorganisationen vor Ort immer weiter unter Druck. "Es gibt hier inzwischen mehr Flüchtlinge als zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg", berichtet Harper. "Jeden Tag kommen neue Herausforderungen hinzu und wir hoffen, dass uns die internationale Gemeinschaft helfen wird."


Die meisten Flüchtlinge wollen in den Westen

Die meisten irakischen Flüchtlinge, mit denen IPS gesprochen hat, gaben an, dass sie am liebsten in einem westlichen Land wiederangesiedelt würden. "Der Nahe Osten ist für uns nicht mehr sicher", sagt die 60-jährige Hanna, die ihren Nachnamen nicht nennen will. "Als Christen werden wir seit 2003 verfolgt."

Doch die Wiederansiedlung sei ein langwieriger und heikler Prozess, gibt Harper zu bedenken. Wie er berichtet, warten seit Jahren tausende Iraker in Jordanien auf ihre Wiederansiedlung.

Marvin Nafi und seine Familie würden am liebsten wieder heimkehren. Doch ihr Hab und Gut wurde vom IS eingezogen, ihr Haus mit roter Schrift als 'Eigentum des Islamischen Staates' ausgezeichnet, wie die Familie von einem Freund erfahren hatte.

Auch wenn die Hoffnung der Nafis, den Irak irgendwann wiederzusehen, immer weiter schwindet, beten sie inständig für den Frieden in ihrem Land. "Wir wünschen uns das Mossul von vor zehn Jahren zurück", sagt Marvin. "Damals konnten wir alle in Frieden zusammenleben." (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/10/iraqi-christians-seek-shelter-in-jordan-after-is-threats/

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IPS-Tagesdienst vom 3. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2014