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INTERVENTION/002: Pakistan - USA fürchten mögliche Folgen der NATO-Luftangriffe (IPS)



IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. November 2011

Pakistan: '35.000 Tote für euren Krieg!' - USA fürchten mögliche Folgen der NATO-Luftangriffe

von Jim Lobe und Ashfaq Yusufzai

Letztes Geleit für getötete pakistanische Soldaten in Peshawar - Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Letztes Geleit für getötete pakistanische Soldaten in Peshawar
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Washington, Peshawar, 29. November (IPS) - Nach den NATO-Luftangriffen auf zwei pakistanische Militärposten an der Grenze zu Afghanistan sind die USA bemüht, den politischen Schaden der Übergriffe zu begrenzen. Doch wird es für die Regierung in Pakistan zunehmend schwierig, den Ruf der Bevölkerung nach einem Ausstieg aus dem "Krieg der Amerikaner" gegen den internationalen Terrorismus zu ignorieren.

Pakistan hat nach dem Vorfall, der mindestens 24 pakistanischen Soldaten das Leben kostete, die beiden Grenzübergänge geschlossen, über die 40 Prozent des Nachschubs für die in Afghanistan stationierten NATO- und ISAF-Truppen abgewickelt werden. Niemand weiß, wann oder ob überhaupt die Übergänge wieder geöffnet werden. Pakistans Innenminister Rehman Malik ließ verlauten, die Abriegelung sei möglicherweise von Dauer.

Pakistan hat Washington ferner dazu aufgefordert, den Luftwaffenstützpunkt Shamsi in Belutschistan binnen 15 Tagen zu räumen. Der US-Geheimdienst CIA konnte die Basis lange Zeit für den Start und die Wartung der bewaffneten Drohnen nutzen, die gegen Taliban-Einheiten auf beiden Seiten der Grenze eingesetzt wurden aber auch Zivilisten das Leben kosteten.

US-Regierungsvertreter äußerten die Sorge, Pakistan könnte den Vorfall zum Anlass nehmen, um seine Teilnahme an der internationalen Außenministerkonferenz am 5. Dezember in Bonn über die Zukunft Afghanistans nach dem ISAF-Abzug 2014 abzusagen.


Überflugrechte gefährdet

Ebenso fürchtet Washington, dass die Regierung in Islamabad die für den Afghanistan-Einsatz wichtigen Überflugrechte für US-Kampfflugzeuge und -bomber aus der Golfregion widerrufen könnte. "Sollte sie sich dazu entschließen, wäre der Bruch riesengroß", meinte Shuja Nawaz, Leiterin des Südasienzentrums beim Atlantikrat der Außenminister der zwölf Atlantikpaktstaaten in Washington.

Der Expertin zufolge drängen Pakistans Opposition und Soldaten die politische und militärische Führung zu Vergeltungsmaßnahmen für die Luftangriffe vom 26. November. Bisher ist unklar, wie und warum es zu den Luftangriffen kam. Nicht näher genannte Regierungsvertreter Afghanistans und der ISAF hatten gegenüber Journalisten erklärt, die Luftangriffe seien erfolgt, nachdem Soldaten der beiden pakistanischen Grenzposten die in der Nähe patrouillierenden US-Kommandos und afghanischen Truppen unter Beschuss genommen hätten.

Pakistanische Regierungsvertreter weisen die Anschuldigung jedoch entschieden zurück. Die getöteten und verletzten Soldaten seien die Opfer einer nicht verursachten Aggression, hieß es aus Islamabad. Die NATO-Luftangriffe seien trotz der Bitte pakistanischer Offiziere, das Feuer unverzüglich einzustellen, fast zwei Stunden fortgeführt worden, heißt es.

"Anfangs hatten wir geglaubt, dass es sich bei den Angreifern um Taliban handelte. Als wir zum Gegenschlag ausholen wollten, mussten wir erkennen, dass wir von Hubschraubern bombardiert wurden", berichtete Amirzeb, der bei dem Anschlag eine Bauchverletzung erlitt.

Zusammen mit 14 Kameraden wird Amirzeb derzeit im Militärkrankenhaus von Peshawar, der Hauptstadt der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, behandelt. Er hätte niemals gedacht, von der NATO unter Beschuss genommen zu werden. "Dieser Angriff hat uns völlig überrascht. Uns kam sogar der Gedanke, dass die Taliban die Hubschrauber gekapert hätten."

Was die pakistanischen Soldaten erbost, ist der Umstand, dass sie als Mitstreiter der USA selbst zur Zielscheibe der NATO-Übergriffe werden. Für die meisten Pakistaner sind NATO und USA zwei Seiten derselben Medaille.

Die NATO hat den Zwischenfall als "tragisch und unbeabsichtigt" bezeichnet und eine umfassende Untersuchung angekündigt. Zudem drückten US-Außenministerin Hillary Clinton und Pentagon-Chef Leon Panetta in einer gemeinsamen Mitteilung den Angehörigen der Opfer ihr Beileid aus und unterstrichen die "Bedeutung der US-pakistanischen Partnerschaft".


Beziehungen am Gefrierpunkt

Doch die Übergriffe haben die ohnehin gespannten bilateralen Beziehungen auf einen vorläufigen Tiefpunkt gebracht. Belastet hatte das Verhältnis zwischen beiden Ländern bereits der Umstand, dass Washington einem CIA-Vertragsmitarbeiter, der für die Ermordung zweier Pakistaner in Lahore verantwortlich gemacht wird, diplomatische Immunität gewährte. Angeblich waren die beiden Pakistaner im Auftrag des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI dem CIA-Mann auf der Spur gewesen.

Auch der Einsatz der US-amerikanischen Marinesondereinheit im pakistanischen Abbottabad, dem Sitz der wichtigsten Militärakademie des südasiatischen Landes, vom 2. Mai, in dessen Verlauf der Al-Kaida-Chef Osama bin Laden erschossen wurde, hat weiter Benzin ins Feuer gegossen - vor allem weil die pakistanische Seite über den Sondereinsatz nicht informiert worden war.

Als eine weitere Beleidigung wurde im Oktober in Pakistan die Äußerung des damaligen US-Generalstabschefs Mike Mullen aufgefasst, dass das Haqqani-Terrornetzwerk, eine besonders gefährliche Fraktion der afghanischen Taliban, als ein "veritabler Arm" des ISI zu betrachten sei. Die Haqqani-Gruppe wird unter anderem für einen Anschlag auf die US-Botschaft in Kabul verantwortlich gemacht.

Hochrangige Regierungsvertreter einschließlich Clinton und Panetta hatten zwar versucht, den Vorwurf abzuschwächen. Doch Mullens Beschuldigung hat viele US-Politiker in der Ansicht bestätigt, dass Pakistan trotz der geleisteten US-Militärhilfe von fast 30 Milliarden US-Dollar in den letzten zehn Jahren mit den USA in Bezug auf Afghanistan ein doppeltes Spiel treibt.

Der Aufruf verschiedener US-Abgeordneter einschließlich einiger republikanischer Präsidentschaftskandidaten, die Hilfe für Pakistan zu kürzen oder zu streichen, hat die bilateralen Beziehungen weiter verschlechtert. Gleichzeitig begründeten einige Demokraten den Abzug der fast 100.000 US-amerikanischen Soldaten aus Afghanistan mit einem Loyalitätsdefizit von Seiten Pakistans.

Doch nicht die US-Regierung, auch Islamabad steht unter wachsendem Druck, die Zusammenarbeit zu überdenken. "Die Entrüstung der pakistanischen Armee ist allgegenwärtig", meinte Shuja Nawaz. "Sie wird von den Oppositionsparteien als politischer Knüppel instrumentalisiert, um auf die Regierung einzudreschen. Sowohl der (ehemalige Ministerpräsident) Nawaz Sharif als auch Imran Khan sind der Meinung, dass Pakistan aufhören sollte, einen 'Krieg der Amerikaner' zu führen."

Sharif, Parteichef der 'Pakistan Muslim League-N', und auch der ehemalige Kricket-Star Khan wollen die Nachfolge von Staatspräsident Asif Ali Zardari antreten. Die nationalistische und US-feindliche Haltung hat Khans Chancen, Pakistans nächster Präsident zu werden, spürbar erhöht.

"Wir haben 35.000 Menschen einschließlich 5.000 Soldaten für den US-geführten Krieg gegen den Terrorismus geopfert. Die Soldaten, die auf dem Heimatboden für die USA in den Krieg ziehen, sollten für ihren Mut belohnt und bestimmt nicht getötet werden", sagte Arbab Asmatullah Khan, von Imran Khans 'Tehreek-e-Insaaf'-Partei.

"Unsere Machthaber sollten gegenüber den USA hart bleiben und nicht erlauben, dass uns NATO und ISAF von Afghanistan aus angreifen", meinte Ajmal Hussain, ein Journalist aus der Unruhe-Agentur Bajaur gegenüber IPS. Bajaur ist eine von sieben Agenturen (Verwaltungseinheiten) in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) nahe der afghanischen Grenze.


Als Verbündete nicht respektiert

Auch in der Bevölkerung wird der Ruf nach einem Ende der pakistanischen Beteiligung am US-Krieg immer lauter, zumal sich immer mehr die Ansicht durchsetzt, dass Washington im Kampf gegen den Terrorismus den Tod der eigenen Verbündeten billigend in Kauf nimmt.

"Die Zeit ist reif, dass Pakistan vom Weg des US-Krieges gegen den Terrorismus abkommt. Die NATO und die USA wissen unsere Anstrengungen nicht zu schätzen und erkennen unsere Verluste nicht an", meinte Islam Gul, Student an der Fakultät für internationale Beziehungen der Universität von Peshawar.

"Pakistan sollte keine Angst vor den USA haben und jede Form der Zusammenarbeit beenden. Sobald Pakistan den USA die Unterstützung entzieht, werden die Selbstmord- und Bombenanschläge aufhören", zeigte sich Khushee Akhtar aus Peshawar überzeugt.

Die Glaubensgruppe 'Jamaat Islami' hatte die pakistanische Regierung auf einer Protestkundgebung am 26. November aufgefordert, den USA die Stirn zu bieten. "Pakistans Atomwaffen sind nutzlos, wenn sie nicht zum Schutz unserer Soldaten eingesetzt werden können. Den USA sollte eine Lektion erteilt werden, damit sie künftig solche, mit der UN-Charta nicht zu vereinbarenden Anschläge unterlassen", sagte der Jurist Israrullah vor Demonstranten.

"Pakistan sollte sich an der iranischen Außenpolitik ein Vorbild nehmen und die Bevölkerung vor in- und ausländischen Bedrohungen schützen. Die (pakistanische) Marionettenregierung ist dafür verantwortlich, dass Zivilisten und Soldaten sterben mussten", erboste sich Tahir Shah, ein College-Dozent. "Wir lassen uns von den USA herumkommandieren, demütigen und ins Unheil stürzen, wie die Anschläge auf unsere Truppen gezeigt haben."


Gegenseitiges Misstrauen

Das fundamentale Problem zwischen beiden Ländern ist nach Ansicht von Bruce Riedel der Mangel jeglichen Vertrauens. "Die Beziehung zwischen USA und Pakistan zerbricht", warnte der pensionierte CIA-Analyst und Südasienexperte der US-Denkfabrik 'Brookings Institution'. "Die pakistanische Armee hat Vorstellungen, die sich mit unseren nicht decken. Was den Krieg in Afghanistan angeht, trennen uns Welten. Das vergiftet alles."

Riedel hatte Washington im letzten Monat aufgerufen, im Umgang mit der pakistanischen Armee eine Containment-Politik zu verfolgen und die Militärhilfe drastisch zu kürzen. Gleichwohl sprach er sich für eine Fortsetzung des Engagements gegenüber Islamabad aus, in der Hoffnung, dadurch die zivilen Kräfte im Lande zu stärken. Es wäre falsch, sich nicht zu engagieren, zumal Pakistan dabei sei, das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt anzulegen, sagte der Experte.

Nach Ansicht von Shuja Nawaz wären beide Länder gut beraten, ihre Ko-Abhängigkeit vor allem in einer Zeit zu erkennen, in der der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan bevorstehe. Washington brauche die Zusammenarbeit mit Pakistan, um die Taliban und andere Fraktionen, die unter dem Einfluss Islamabads stehen, an den Verhandlungstisch zu bringen, sagte sie. Eine Ansicht, die auch Außenministerin Clinton bei verschiedenen Treffen mit pakistanischen Regierungsvertretern vertreten hat.

Auch wenn die USA zunehmend die Route ihres Nördlichen Verteilungsnetzes - von Europa über Russland und Zentralasien bis nach Afghanistan - nutzen - der Transport über Pakistan ist weniger kostspielig. Riedel zufolge ist Pakistan nicht nur politisch und militärisch auf die USA angewiesen, sondern auch weil das Land Washington als Fürsprecher bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds benötigt, um an Darlehen und Kredite zu kommen. "Beide Seiten brauchen sich", meinte er. "Doch der Druck an den Heimatfronten nimmt zu." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2011