Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KRIEG

KOLLATERAL/013: Aserbaidschan - Vergessener Krieg, Bergkarabach ist noch weit vom Frieden entfernt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. März 2013

Aserbaidschan: Ein vergessener Krieg - Bergkarabach ist noch weit vom Frieden entfernt

von Enzo Mangini


Bild: © Enzo Mangini/IPS

Oberst Arswik auf der Straße nach Baku
Bild: © Enzo Mangini/IPS

Stepanakert, Bergkarabach, Kaukasus, 5. März (IPS) - Ein Panzer aus Sowjetzeiten rollt über die schlammige Straße in Richtung Front. Es ist wieder ein nebliger Tag in der Ebene östlich der Grenze zu der winzigen und früher autonomen Region Bergkarabach, die eingezwängt zwischen Armenien und Aserbaidschan liegt.

Die Hauptstadt Stepanakert mit etwa 50.000 Einwohnern befindet sich 30 Kilometer weiter westlich und die aserbaidschanische Kapitale Baku 400 Kilometer entfernt im Osten, während die armenische Hauptstadt Eriwan 350 Kilometer weiter in Richtung Westen liegt. In der Region leben vorwiegend Armenier.

Die Stadt Agdam, in der früher 30.000 Menschen lebten, liegt in Trümmern. Sie wurde bei Kämpfen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern zu Zeiten der Sowjetunion zerstört. 1936 übergab der damalige Diktator Josef Stalin Bergkarabach an die damals zum Sowjetreich gehörende Republik Aserbaidschan. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verlangten die Einwohner der Region eine größere Autonomie von Aserbaidschan.


Armenier in Bergkarabach sehen sich von Aserbaidschan unterdrückt

Vor rund 20 Jahren machten Armenier 75 Prozent der etwa 190.000 Menschen in dem 11.500 Quadratkilometer großen Gebiet tief im Kaukasusgebirge aus. Moskau liegt etwa 2.400 Kilometer weiter nördlich. Die Armenier beschuldigten die Regierung in Baku, sie zwangsweise zu Aserbaidschanern machen zu wollen, und wollten sich dem unabhängig gewordenen Armenien anschließen. Als sie dann die unabhängige Republik Nagorny Karabach (Bergkarabach) ausriefen, schickte Aserbaidschan Panzer in das Gebiet.

Zwischen 1992 und 1993 wurden 70 Prozent der Fläche von Bergkarabach von aserbaidschanischen Truppen eingenommen. Die Armenier setzten zum Gegenangriff an, eroberten fast alle verlorenen Gebiete zurück und errichteten auf dem Staatsgebiet von Aserbaidschan eine mehrere Kilometer lange Pufferzone. Aserbaidschan behielt eine kleine Provinz im Norden unter Kontrolle.

Bei den Gefechten wurden um die 30.000 Menschen getötet. Insgesamt rund eine Million Einwohner, die etwa zu gleichen Teilen aus den beiden Staaten kamen, wurden vertrieben. Der Krieg ist bis heute nicht offiziell beendet worden, noch immer befinden sich Soldaten an der 1994 gezogenen Waffenstillstandslinie.

"Keine Fotos bitte", verlangt der Leutnant der Streitkräfte von Bergkarabach auf dem Weg zur Waffenstillstandslinie. Er grüßt den befehlshabenden Offizier Oberstleutnant Arswik, einen kräftigen Mann von 45 Jahren mit zwei Goldzähnen und einem Jagdgewehr. "Sie haben Glück. Bei dem Nebel heute werden keine Heckenschützen hier sein", sagt Arswik. "Gestern wurde zwei Mal auf unsere Soldaten geschossen, aber der Feind hat sein Ziel verfehlt. Heute gibt es zwar keine Heckenschützen, aber gehen Sie trotzdem besser in Deckung."

Arswik deutet auf eine Straße vor ihm. "Dort lang geht es nach Baku. Wir bleiben weiter hier, wie schon in den vergangenen 19 Jahren seit dem Waffenstillstand. Wir sind nicht daran interessiert, aserbaidschanisches Territorium zu erobern. Wir werden aber unsere Stellungen halten, solange es nötig ist - keinen Tag länger."


Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg

Die Schützengräben erinnern an den Ersten Weltkrieg: Lehmwände, die mit Zementbrocken bedeckt sind, und ein kleines Gebäude aus Beton, wo die Soldaten nach der Nachtwache schlafen. In einer Ecke stehen AK-47-Sturmgewehre und andere Waffen neben einem Herd, auf dem ein Kessel steht. Außen verlaufen Drähte, an denen leere Blechdosen befestigt sind. "Wenn sie kommen, hören wir sie", sagt Arswik. "Wir haben zwar auch modernere Geräte, aber diese Dosen leisten uns einen guten Dienst."

Wie der Oberstleutnant erklärt, bleiben Rekruten zwei Jahre lang in der Armee. "Wenn wir angegriffen werden, greift jedermann in Bergkarabach zu den Waffen. So wie wir es 1991 taten."

Die Soldaten, die kaum dem Teenageralter entwachsen sind, vermitteln den Eindruck von Effizienz. Die Waffen sind gereinigt, die Munition ist einsatzbereit, sie tragen warme Winteruniformen und neue Stiefel. Die meisten von ihnen würden lieber nach Arbeit suchen oder studieren. Sie sind die erste Generation einer Republik mit 150.000 Einwohnern, die ein eigenes Parlament, einen Präsidenten und Ministerien besitzt und Visa ausgibt. Doch niemand hat diesen Staat bisher anerkannt.

Die Wirtschaft existiert ausschließlich von dem Geld, das Bewohner der Region aus anderen Ländern schicken. Ausländische Direktinvestitionen oder Hilfszahlungen kamen hier bisher nicht an. Der einzige Weg nach Bergkarabach führt über eine Gebirgsstraße, die in 2.500 Metern Höhe über den Tamerlan-Pass durch Armenien führt.


Einziger Flughafen geschlossen

Die örtlichen Behörden wollen den einzigen Flughafen am Rande von Stepanakert wiedereröffnen, der seit 1992 geschlossen ist. Aserbaidschan hat jedoch damit gedroht, jedes Flugzeug abzuschießen, das in Bergkarabach landen will. Viele Arbeitskräfte ziehen nach Armenien, weil sie dort mehr verdienen. Das Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet etwa 200 US-Dollar.

Bis auf Mitglieder der britischen Nichtregierungsorganisation 'The Halo Trust', die Minen räumen, halten sich keine ausländischen Helfer in der Region auf. Seit dem Ende des Krieges 1994 sind mehr als 350 Menschen durch Minen oder Cluster-Munition verletzt oder getötet worden. Nach Schätzungen des Halo Trust wird es noch weitere fünf Jahre dauern, bis die Räumungsarbeiten abgeschlossen sein werden. In den vergangenen zwei Jahren wurde die Zahl der Einsatzkräfte jedoch von 280 auf 140 halbiert.

Die Friedensbemühungen der diplomatischen Task-Force 'Minsk Group', die 1992 von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gegründet wurde und unter dem gemeinsamen Vorsitz der USA, Frankreichs und Russlands steht, stagnieren seit 2011. Der damalige russische Staatspräsident und derzeitige Regierungschef Dimitri Medwedew vermittelte ein Treffen zwischen dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew und seinem armenischen Amtskollegen Sersch Sargsjan in der russischen Stadt Kasan. Die Zusammenkunft endete ohne Ergebnis, und beide Seiten wiesen sich erneut gegenseitig die Schuld zu. Sargsjan wurde am 18. Februar als Präsident der 3,5 Millionen Armenier wiedergewählt.

Der Konflikt um Bergkabarach dauert indes an. In diesem politischen Schwebezustand bauen die Bewohner der Region ihre vom Krieg schwer beschädigte Hauptstadt Stepanakert und die Dörfer in den Bergen wieder auf. Inmitten der Konfrontation zwischen den verfeindeten Nachbarn haben sie keinen Anteil an dem raschen Wandel von Aserbaidschan, das sich zur Europäischen Union hin orientiert. Auch die positiven Auswirkungen des Erdölbooms in Aserbaidschan kommen bei ihnen nicht an. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.halotrust.org/
http://www.ipsnews.net/2013/03/in-arms-in-a-forgotten-war/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. März 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2013