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APPELL/009: Keine Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland (IALANA)


IALANA Deutschland e.V. - Vereinigung für Friedensrecht
Deutsche Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms
Presseerklärung vom 25. März 2025

IALANA fordert: Keine Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland


Die USA und Deutschland haben am 10. Juli 2024 am Rande des Washingtoner NATO-Gipfels erklärt, zur Stärkung der Abschreckung Russlands ab 2026 weitreichende, konventionelle US-amerikanische Waffensysteme wie Raketen des Typs Standard Missile 6 (SM 6), Marschflugkörper des Typs Tomahawk und hypersonische (die fünffache Schallgeschwindigkeit übertreffende) Waffen in Deutschland zu stationieren.[i] In der gemeinsamen Erklärung wird das operative Konzept der Stationierung, die Anzahl und die Reichweiten der genannten Systeme nicht erläutert. Nach Medienmeldungen sollen diese Mittelstreckenraketen im Falle eines befürchteten Atomkriegs die - Westeuropa bedrohenden - Atomraketen Russlands konventionell zerstören. Die Reichweiten der Systeme werden angegeben: Tomahawk-Marschflugkörper 1.700 km, die noch in der Entwicklung befindliche SM6 1.600 km mit 6.200 km/h und die ebenfalls noch zu entwickelnde hypersonische Dark Eagle bei einer Geschwindigkeit von etwa 21.000 km/h mit mindestens 2.500 km. Die Vorwarnzeit beim Dark Eagle wird 6 Minuten betragen.

  • Die Bundesregierung hat es unterlassen, die Öffentlichkeit zuvor über die geplante Stationierung zu informieren. Eine öffentliche Diskussion über die Stationierung konnte es deshalb in Deutschland nicht geben. Anders als beim NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 gibt es keine gemeinsame Entscheidung der NATO-Partnerländern, keine Debatte und keinen Beschluss des Bundestags. Bei der deutsch-US-amerikanischen Verlautbarung handelt sich erklärtermaßen nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, sondern nur um eine "gemeinsame Erklärung". Das entspricht der Nuklearstrategie der NATO, die ebenfalls nicht auf Vertrag, sondern nur auf Absprachen der Nato-Mitgliedsländer beruht. Sie ist laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. 11. 2001 weder ein förmlicher noch ein konkludent zustande gekommener Vertrag.[ii]
  • Mit der Stationierung der Mittelstrecken-Raketen stellt sich die existentielle Frage der Auslösung eines Nuklearwaffen-Kriegs und der Beteiligung Deutschlands daran. In derartigen Fällen erfordert die Wesentlichkeitsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts [iii] zwingend ein förmliches Gesetzgebungsverfahren. Diese Doktrin wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und besagt, dass der Gesetzgeber staatliches Handeln von grundlegender Bedeutung durch ein förmliches Gesetz legitimieren muss. Grundlage der Theorie ist die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes sowie der im Demokratieprinzip verankerte Parlamentsvorbehalt. Danach dürfen Regierung und Verwaltung nur tätig werden, wenn sie dazu durch ein formelles Gesetz ermächtigt worden sind. Alles, was für die Ausübung der Grundrechte wesentlich ist, unterliegt dem Vorbehalt des Gesetzes.[iv] Weil der Einsatz von Mittelstreckenraketen zur Abwehr von Atomraketen einen Atomkrieg auslösen könnte, an dem Deutschland beteiligt wäre, ist in dieser existentiellen Frage die Zustimmung des Bundeskanzlers zur Raketen-Stationierung ohne Gesetzgebungsverfahren verfassungswidrig.[v] Im Außenverhältnis zu den USA dürfte die Erklärung jedoch völkerrechtlich wirksam sein, weil der Bundeskanzler als Regierungschef gemäß Art 7 Abs. 2 des Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge kraft seines Amtes als berechtigt galt, derartige Erklärungen für Deutschland abzugeben. Die Erklärung kann jedoch beim Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig angefochten werden.
  • Die anderen NATO-Staaten sind an der bilateralen Entscheidung nicht beteiligt worden. Damit verstoßen Deutschland und die USA gegen den NATO-Vertrag. In dessen Präambel haben sie sich verpflichtet, "ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen." In Art. 4 NATO-Vertrag haben sich die Partnerstaaten verpflichtet, sie würden "einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind." Die unterlassene Absprache mit den Verbündeten lässt den Schluss zu, dass zumindest einige Partnerländer nicht mit der Stationierung einverstanden sind.
  • Da die US-Raketen nicht im Rahmen des strategischen Konzeptes des NATO-Bündnisses stationiert werden sollen, stellt sich die Frage nach der Verantwortung für Einsatzentscheidungen. Es ist davon auszugehen, dass die Einsatzbefehle - wie bei der nuklearen Teilhabe - von der US-Regierung gegeben werden und die Bundesregierung - wenn die Zeit dafür ausreicht - Gelegenheit zur Stellungnahme erhält. Die mit der Stationierung verbundene Übertragung von Hoheitsrechten auf die USA darf gemäß Art. 59 Abs. 2 GG nur durch ein Bundesgesetz erfolgen. Auch deshalb ist die gemeinsame Erklärung verfassungswidrig.[vi]
  • Der Einsatz der in Deutschland stationierten konventionellen Mittelstreckenraketen dürfte mit dem Grundgesetz kaum vereinbar sein. Denn im Falle einer atomaren Auseinandersetzung macht es militärisch keinen Sinn, die russischen Atomraketen erst nach ihrem Start anzugreifen. Militärisch sinnvoll ist der Einsatz der Raketen nur, wenn er den Start der russischen Atomraketen verhindern kann. In diesem Fall würde Deutschland jedoch russisches Staatsgebiet angreifen, ohne zur Verteidigung berechtigt zu sein. Eine "präventive Verteidigung" ist weder mit Art. 51 UN-Charta noch mit einer gewohnheitsrechtlichen Entsprechung vereinbar.[vii] Auch die sogenannte präemptive Verteidigung im Falle eines vermuteten bevorstehenden russischen Angriffs wäre eine Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts und würde das Gewaltverbot der UN-Charta untergraben. Gemäß Art. 51 UN-Charta ist Selbstverteidigung nur gegen einen unmittelbar drohenden Angriff er-laubt.[viii]
  • Hinweise darauf, dass die für die Stationierung in Deutschland vorgesehenen Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüstet werden sollen, gibt es derzeit nicht.[ix] Wenn das der Fall wäre, würde Deutschland den Zustand herstellen, der 1979 durch die sog. Nachrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles entstand. Die seinerzeit dadurch ausgelösten massenhaften Proteste der bundesdeutschen Bevölkerung trugen dazu bei, dass einige Jahre später mit dem INF-Vertrag alle atomaren Mittelstreckenraketen abgerüstet wurden.
  • Die Stationierung der Mittelstreckenraketen stellt potentielle Gegner vor unlösbare Probleme. Denn nach dem Start einer Rakete ist für die gegnerische Abwehr nicht erkennbar, ob diese einen nuklearen oder einen konventionellen Sprengkopf trägt. Auch vor Ort lässt sich die Art der Bewaffnung nur durch lokale Vor-Ort-Inspektionen sicherstellen.[x] Für die russische Raketenabwehr ist damit die Gefahr einer Fehleinschätzung erheblich. Sie könnte zu einer unbeabsichtigten Eskalation und zum atomaren Schlagabtausch führen.
  • Aus russischer Sicht bedrohen die für die Stationierung vorgesehenen Mittelstreckenraketen wegen ihrer großen Reichweite und der kurzen Vorwarnzeiten Ziele in Russland. Wegen der zu erwartenden Gegenstationierung russischer Raketen erhöht sich aufgrund der kurzen Vorwarnzeiten von wenigen Minuten die Gefahr eines Atomkrieges erheblich. [xi]
  • Die Begründung der Bundesregierung, die Stationierung schließe eine "Fähigkeitslücke", ist falsch und dient der Irreführung der Bevölkerung. Schon jetzt ist es möglich, wichtige operative Ziele in Russland durch von Flugzeugen abgefeuerten Luft-Boden-Raketen zielgenau abzudecken.[xii] Zudem sind die atomaren Trident-Raketen auf den 14 Booten der Ohio-Klasse der US-Marine in der Lage, an jedem beliebigen Ort der Welt zielgenaue Atomschläge durchzuführen. Die Stationierung der konventionellen Mittelstrecken-Raketen lässt befürchten, dass diese dazu dienen sollen, Deutschland enger an die USA zu binden und in deren Konflikte einzubinden.

Die beabsichtigte Stationierung setzt eine neue Aufrüstungsspirale in Gang und verändert wegen der kurzen Vorwarnzeiten das strategische Gleichgewicht erheblich. IALANA fordert die Bundesregierung auf, ihre Zustimmung zu der von den USA beabsichtigten Stationierung zurückzunehmen und innerhalb der NATO auf Dialogangebote an Russland hinzuwirken, damit Abrüstungsverhandlungen zur Beendigung der immer riskanter werdenden nuklearen Abschreckung beginnen.

Die beabsichtigte Stationierung dient der Vorbereitung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges und ist geeignet einen Atomkrieg auszulösen. IALANA hat wiederholt dargelegt, dass nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 8. Juli 1996 jeder Einsatz von Atomwaffen und auch deren Androhung völkerrechtswidrig sind. Das hat auch für Waffen zu gelten, deren Einsatz zwangläufig einen Atomkrieg auslösen. Militärische Verteidigung ist nur mit Waffen erlaubt, die dem humanitären Völkerrecht entsprechen. Ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung sind die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten bislang nicht nachgekommen.


Anmerkungen

[i] Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland; WD 2 - 047/24; Wolfgang Richter, Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland, Friedrich Ebert Stiftung, Juli 2024

[ii] BVerfG Urteil vom 22.11.2001 - 2 BvE 6/99- Rdnr. 131

[iii] BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126); 83, 130 (142, 151 f.); 95, 267 (307).

[iv] BVerfGE 47,46 ff Ziffern III, 3,5

[v] Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat sich in seiner Stellungnahme (WD 2 - 3000 - 047/24) zu den Rechtsgrundlagen der gemeinsamen Erklärung nur sehr vage geäußert: Die Rechtsgrundlagen "dürften somit auch hier wohl der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag" sein. Falsch ist seine Feststellung, dass sich die geplante Stationierung "im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen" dürfte. Das Gegenteil ist der Fall.

[vi] Der NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979, auf den der Wissenschaftliche Dienst Bezug nimmt, ist im Gegensatz zu der gemeinsamen Erklärung der USA und der BRD eine gemeinsame Absprache aller NATO-Mitglieder

[vii]i Heintschel von Heinegg in Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. §  52 RdNr.18; Michael Bothe in Wolfgang Graf Witzthum, Völkerrecht, 8. Abschnitt, RdNr. 19

[viii] Michael Bothe aaO RdNr. 19 mit weiteren Nachweisen

[ix] Moritz Kütt, W&F 4/24 S. 48 ff

[x] Moritz Kütt aaO

[xi] Wolfgang Richter aaO S. 14

[xii] Ottfried Nassauer, Nukleare Teilhabe - überholtes Konzept ohne Funktion, Bits.de 18.4.2020; Wolfgang Richter aaO. S. 13

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Quelle:
Presseerklärung vom 25. März 2025
IALANA Deutschland e.V. - Vereinigung für Friedensrecht
Deutsche Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms
Geschäftsstelle: Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: +49 30 2065-4857, Telefax: +49 30 2065-4858
E-Mail: info@ialana.de
Internet: www.ialana.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. März 2025

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