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OFFENER BRIEF/036: An den Ministerpräsidenten Platzeck (Hans Fricke)


Zu Ihren Äußerungen zum Einigungsvertrag im "Spiegel"

Von Hans Fricke, 1. September 2010


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Platzeck,
es tut gut, im Jubelchor der heutigen "Volksparteien" und angesichts der selbstzufriedenen Gesichter der Herren Schäuble, de Maiziere, Krause und andere auf großformatigen Pressefotos anlässlich des vor 20 Jahren unterzeichneten Einigungsvertrages Ihre Stimme der Vernunft und Sachlichkeit zu vernehmen. Ihr Mut, im Spiegel die Dinge beim Namen zu nennen, den Anschluss der DDR auch öffentlich als Anschluss zu bezeichnen, die westdeutsche "Anschlusshaltung" und die gnadenlose Deindustrialisierung Ostdeutschlands für viele gesellschaftliche Verwerfungen im Osten nach 1990 verantwortlich zu machen und daran zu erinnern, dass selbst die gegen die DDR gerichteten "Bürgerbewegungen" einheitlich den Beitritt ihres Landes nach Artikel 23 des Grundgesetzes abgelehnt hatten, und einer Fusion gleichberechtigter Partner nach Artikel 146 des Grundgesetz inklusive Ausarbeitung einer neuen gemeinsamen Verfassung den Vorzug gaben, verdient Respekt. Diese mutigen Äußerungen und Ihre Kritik, dass selbst die kleinste symbolische Geste in Richtung Osten fehlte und den Ostdeutschen das Gefühl vermittelt worden sei, "sie müssten alles wegwerfen, es war alles Stasi und alles ideologieverseucht", ruft erwartungsgemäß die gleiche aufheulende Meute von Journalisten und Politikern gegen Sie und die historische Wahrheit auf den Plan, die bereits über den letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere herfielen, als er sich kürzlich erlaubt hatte , in der Passauer Neuen Presse zu erklären, die DDR sei "kein vollkommener Rechtsstaat", aber auch "kein Unrechtsstaat" gewesen.

Diese unerträgliche Atmosphäre der Unfehlbarkeit und Selbstzufriedenheit angesichts offenkundigen Versagens der Politik und des öffentlichen Niedermachens aller Kritiker an der sogenannten Wiedervereinigung und des Prozesses der Einheit macht jede sachliche Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Entwicklung beider deutschen Staaten und verfehlter Politik während der vergangenen 20 Jahre unmöglich. Dabei sollte doch das gestern aus Anlass des 20.Jahrestages des Einigungsvertrages veröffentlichte Ergebnis eines "Sozialreports" der Volkssolidarität den jubelnden Journalisten und Poltikern erneut zu denken geben. Danach hat gut jeder zweite Deutsche die "Wiedervereinigung" bis heute nicht akzeptiert, neun Prozent der Ostdeutschen wollen ihre DDR wiederhaben und elf Prozent der Westdeutschen wünschen sich die Mauer zurück.

Es sollte nicht vergessen werden, dass es noch immer Millionen Zeitzeugen gibt, die ihren Kindern ein differenziertes Bild vom Leben im ersten deutschen Staat vermitteln, in dem nicht nur tägliche Existenzsorgen etwas waren, das niemand mehr kannte.

Mich als 79jährigen parteilosen ostdeutschen Zeitzeugen hat der Geschichtsrevisionismus, mit dem wir seit 20 Jahrenr Tag für Tag konfrontiert werden, und die aggressive "Erinnerungsorgie", die wir in den beiden Jubiläumsjahren 2009 und 2010 anstelle eines sachlichen und wahrheitsgemäßen Rückblicks erleben, veranlasst, meine persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen in dem zur diesjährigen Leipziger Buchmesse im GNN-Verlag erschienenen Band "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken - (ISBN987-3-89819-341-2) zu veröffentlichen, auf das ich mir mit den beigefügten Anhängen erlaube, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken.

Mit freundlichen Grüßen
Hans Fricke
Rostock


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2010