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OFFENER BRIEF/044: Die Wahrheit über Griechenland (Mikis Theodorakis)


Ein offener Brief an die internationale öffentliche Meinung

von Mikis Theodorakis

Die Wahrheit über Griechenland



Eine internationale Verschwörung ist im Gange, deren Ziel die vollständige Zerstörung meines Landes ist. Sie fingen 1975 an mit einem Angriff auf die moderne griechische Kultur und fuhren dann fort, indem sie unsere jüngere Geschichte und unsere nationale Identität in ein Zerrbild verwandelten. Und heute versuchen sie uns darüber hinaus auch noch physisch zu eliminieren durch Arbeitslosigkeit, Hunger und Verarmung. Wenn sich das griechische Volk nicht geeint als ein Volk erhebt, um sie daran zu hindern, ist die Gefahr einer Auslöschung Griechenlands sehr real. Ich siedle das innerhalb der nächsten zehn Jahre an. Nichts wird von uns übrigbleiben, als die Erinnerung an unsere Zivilisation und an unsere Kämpfe für die Freiheit.

Bis 2009 gab es kein ernst zu nehmendes wirtschaftliches Problem. Die größten Verletzungen erlitt unsere Wirtschaft durch die enormen Ausgaben in Verbindung mit dem Kauf von Rüstungsgütern und durch die Korruption von Teilen des politischen, des Finanz- und des Mediensektors. Aber ein Teil der Verantwortung liegt auch bei anderen Ländern - darunter Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten -, die zu unserem wirtschaftlichen Schaden Milliarden von Euros durch den jährlichen Verkauf von Rüstungsgütern verdienten. Dieser ständige Aderlaß hat uns in die Knie gezwungen und erlaubt uns nicht, uns vorwärts zu bewegen, während er zur gleichen Zeit andere Nationen reich gemacht hat. Das gleiche gilt für das Problem der Korruption. Das deutsche Unternehmen Siemens beispielsweise unterhielt eine spezielle Abteilung zur Bestechung griechischer Interessenvertreter, um seine Produkte auf dem griechischen Markt zu platzieren. So wurde das griechische Volk ein Opfer dieses Duos griechischer und deutscher Räuber, die sich auf seine Kosten bereicherten.

Es ist offensichtlich, daß diese beiden Verletzungen hätten vermieden werden können, wenn die Führung der zwei pro-amerikanischen Parteien an der Macht nicht von korrupten Elementen ausgehöhlt worden wäre, die auf exzessive Kredite zurückgriffen, um den Strom des aus der Arbeit des griechischen Volkes stammenden Reichtums in die Kassen anderer Länder zu kompensieren. Die so entstandenen Staatsschulden beliefen sich auf 300 Milliarden Euro, d.h. 130% des BSPs (Bruttosozialprodukt).

Durch diesen Betrug machten die Ausländer, die ich eben erwähnte, doppelten Profit: erstens durch den Verkauf von Waffen und Waren, zweitens durch die Zinsen auf das Geld, das sie den Regierungen geliehen haben und nicht dem Volk. Wie wir gesehen haben, war das griechische Volk in beiden Fällen das eigentliche Opfer. Ein einziges Beispiel wird reichen, um Sie zu überzeugen: Die Zinsen für den Kredit von einer Milliarde Dollar, den Andreas Papandreou 1986 von einem großen europäischen Land erhielt, wuchsen auf 54 Milliarden Euro und wurden erst im Jahr 2010 (!) zurückgezahlt!

Herr Juncker erklärte vor einem Jahr, er habe den durch die exzessiven (und erzwungenen) Ausgaben für den Kauf von Rüstungsgütern - insbesondere aus Deutschland und Frankreich - verursachten finanziellen Aderlaß Griechenlands bemerkt. Und er zog den Schluß, daß die Verkäufer uns auf diesem Weg in eine Katastrophe führten. Dennoch gab er zu, nichts unternommen zu haben, um nicht den Interessen befreundeter Länder zu schaden!

2008‍ ‍gab es die große Finanzkrise in Europa. Daß die griechische Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen würde, war nur logisch. Dennoch blieb unser Lebensstandard, der so hoch war, daß Griechenland unter den 30 reichsten Ländern der Welt rangierte, davon praktisch unberührt. Es kam jedoch zu einem Anstieg der Staatsverschuldung. Aber Staatsverschuldung führt nicht zwangsläufig zu einer Finanzkrise. Es gibt große Länder wie die USA und Deutschland, deren Schulden sich auf Billionen Euro belaufen. Der Schlüssel liegt im Wirtschaftswachstum und in der Produktion. Sind diese positiv, kann man Geld von den großen Banken zu einem Zinssatz von unter 5% leihen, bis die Krise vorbei ist.

Das genau war unsere Lage 2009, als der Regierungswechsel stattfand und G. Papandreou das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Um die derzeitige Meinung der Griechen zu seiner katastrophalen Politik zu verdeutlichen, zitiere ich zwei Zahlen: Bei den Wahlen von 2009 erhielt die PASOK 44% der Stimmen, heute ergeben die Umfragen eine Unterstützung für die PASOK von 6%.

Herr Papandreou hätte der Finanzkrise (die, wie ich erwähnte, die europäische widerspiegelte) durch die Aufnahme von Krediten bei ausländischen Banken zum üblichen Zins von unter 5% begegnen können. Hätte er das getan, hätte es für unser Land nicht das geringste Problem gegeben. Das Gegenteil wäre der Fall gewesen; da wir uns in einer Phase wirtschaftlichen Wachstums befanden, hätte sich unser Lebensstandard noch verbessert.

Aber Herr Papandreou hatte seine Verschwörung gegen das griechische Volk bereits im Sommer 2009 eingeleitet, als er sich heimlich in der Absicht mit Strauss-Kahn traf, Griechenland unter die Knute des IWF zu bringen. Diese Information wurde vom ehemaligen IWF-Präsidenten selbst an die Öffentlichkeit gebracht.

Um dieses Ziel zu erreichen, mußte die wirtschaftliche Lage des Landes falsch dargestellt werden, damit ausländische Banken nervös wurden und die Zinsen für Kredite bis auf untragbare Höhen anhoben. Dieses widerwärtige Projekt nahm seinen Anfang mit der gefälschten Heraufsetzung der Staatsverschuldung von 9,2% auf 15%. Staatsanwalt Peponis hat die Herren Papandreou und Papakonstantinou (Finanzminister) vor 20 Tagen aufgrund dieses Vergehens unter Anklage gestellt.

Was folgte, war eine fünf Monate währende, systematische Diskreditierungskampagne in Europa, mit der Herr Papandreou und der Finanzminister das Ausland davon zu überzeugen suchten, daß Griechenland am Sinken sei wie die Titanic und daß die Griechen korrupt, faul und deshalb unfähig seien, sich den Erfordernissen für das Land zu stellen. Nach jeder ihrer Erklärungen stiegen die Zinssätze, damit es unmöglich für uns wurde, weitere Kredite aufzunehmen, und damit die Anbindung an den IWF und die Europäische Zentralbank den Anstrich einer Rettung erhielt. In Wirklichkeit war sie der Anfang unseres Endes.

Im Mai 2010 unterzeichnete ein einzelner Minister, der Finanzminister, das berüchtigte Memorandum, das heißt, unsere vollständige Unterwerfung unter unsere Gläubiger. Nach griechischem Recht erfordert die Annahme eines solchen Vertrages die Vorlage im Parlament und eine Zustimmung von drei Fünftel der Abgeordneten. Also sind das Memorandum und die Troika, die uns heute im Grunde regiert, ungesetzlich - nicht allein nach griechischen Recht, sondern auch nach europäischem Recht.

Seit damals haben wir, wenn wir unseren Gang in den Tod durch zwanzig Schritte darstellen, schon mehr als die Hälfte durchlaufen. Stellen Sie sich vor, mit diesem Memorandum legen wir, nachdem wir auf all unsere Rechte verzichtet haben, unsere nationale Unabhängigkeit und unseren nationalen Besitz in die Hände von Ausländern: unsere Häfen, Flughäfen, Straßennetze, Elektrizität, Wasserversorgung, den ganzen Reichtum, der sich im Boden und unter Wasser befindet usw., sogar unsere historischen Monumente wie die Akropolis, Delphi, Olympia, Epidaurus usw.

Die Produktion stockt, die Arbeitslosenquote hat 18% erreicht, 80.000 Läden haben dicht gemacht, zusammen mit Tausenden kleinen Unternehmen und Hunderten Industrieunternehmen. Zusammengenommen haben 432.000 Firmen geschlossen. Zehntausende junger Wissenschaftler verlassen das Land, das mit jedem Tag weiter in finsteres Mittelalter versinkt. Tausende vormals wohlhabende Bürger durchsuchen Abfall nach Nahrung und schlafen auf der Straße.

In der Zwischenzeit urteilt man über uns, daß wir dank der Großherzigkeit unserer Geldgeber, der europäischen Banken und des IWF, überleben. In Wirklichkeit geht jedes Paket einer zehnfachen Milliardensumme, das an Griechenland ausgezahlt wird, vollständig wieder an den Absender zurück, während wir mit neuen, nicht tragbaren Zinsen belastet werden. Und da das Funktionieren des Staates, der Krankenhäuser und der Schulen gewährleistet werden muß, erlegt die Troika der mittleren und der unteren Klasse unserer Gesellschaft exzessive Steuern auf, die direkt zu einer Hungersnot führen. Das letzte Mal, daß wir eine Hungersnot erlebt haben, war zu Beginn der deutschen Besatzung 1941, als annähernd 300.000 Menschen in einem Zeitraum von sechs Monaten starben. Heute kehrt das Gespenst des Hungers in unser verleumdetes und glückloses Land zurück.

Wie ist es bei dem Gedanken daran, daß die deutsche Besetzung eine Million Opfer von uns gefordert hat und die totale Zerstörung unseres Landes mit sich brachte, möglich für uns Griechen, auf die Drohungen von Frau Merkel und auf das Ansinnen der Deutschen einzugehen, uns einen neuen Gauleiter aufzuzwingen ... diesmal einen, der eine Krawatte trägt ...

Um zu zeigen, was für ein reiches Land Griechenland ist und wie arbeitsam und bewußt das griechische Volk lebt (bewußt seiner Verpflichtung der Freiheit und der Liebe zu seinem Land gegenüber), möchte ich beispielhaft auf die Zeit der deutschen Besatzung von 1941 bis Oktober 1944 verweisen.

Als die SS und der Hunger eine Million Menschen ums Leben brachten und die Wehrmacht das Land systematisch zerstörte, uns alle landwirtschaftlichen Erträge und das Gold aus den Banken stahl, retteten Griechen das Volk durch die Gründung der Nationalen Solidaritätsbewegung vor dem Hunger und stellten ein 100.000 Mitglieder zählendes Partisanenheer auf, das 20 deutsche Divisionen in unserem Land aufgehalten hat.

Zur gleichen Zeit gelang es den Griechen aufgrund ihres Fleißes nicht nur zu überleben, sondern es gab - unter Besatzungsbedingungen - eine wachsende Aktivität im Bereich der modernen Kunst in Griechenland, insbesondere auf dem Gebiet der Literatur und der Musik.

Griechenland wählte den Weg der Selbstaufopferung sowohl für die Freiheit als auch für das Überleben.

Sie griffen uns grundlos an, und wir antworteten mit Zusammenhalt und Widerstand, und wir haben überlebt. Jetzt tun wir genau das gleiche in der Gewißheit, daß das griechische Volk am Ende siegen wird. Das ist meine Botschaft an Frau Merkel und Herrn Schäuble, und ich erkläre, daß ich immer ein Freund des deutschen Volkes und ein Bewunderer seiner großen Beiträge für die Wissenschaft, die Philosophie, die Kunst und insbesondere die Musik sein werde. Und der beste Beweis dafür ist wohl die Tatsache, daß ich mein gesamtes musikalisches Werk zwei deutschen Verlegern anvertraut habe, Schott und Breitkopf, die zu den größten Verlegern zählen, und die Zusammenarbeit mit ihnen ist ausgesprochen freundschaftlich.

Sie drohen, uns aus Europa auszustoßen. Wenn Europa uns einmal nicht will, dann wollen wir zehnmal mehr kein Teil dieses Europas von Merkel-Sarkozy sein.

Heute, Sonntag, den 12. Februar, stehe ich zusammen mit Manolis Glezos - dem Helden, der das Hakenkreuz von der Akropolis geholt hat und damit das Signal für den Beginn des Widerstands gegen Hitler nicht allein in Griechenland, sondern in ganz Europa gab - im Begriff, an einer Demonstration in Athen teilzunehmen. Heute werden unsere Straßen und Plätze überflutet sein mit Hunderttausenden Menschen, die ihre Wut gegen die Regierung und die Troika zum Ausdruck bringen.

Ich habe gestern den Bankier-Ministerpräsidenten gehört, der dem griechischen Volk verkündete, daß wir fast den Nullpunkt erreicht haben. Aber wer hat uns im Zeitraum von zwei Jahren an diesen Nullpunkt geführt? Dieselben Leute, die statt ins Gefängnis zu wandern, die Parlamentsmitglieder unter Druck setzen, damit sie für das Neue Memorandum stimmen, das noch schlimmer ist als das erste, und das von denselben Leuten mit denselben Methoden umgesetzt werden wird, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Warum? Weil es das ist, was uns der IWF und die Eurogruppe diktieren, die uns damit erpressen, daß wir Bankrott gehen, wenn wir nicht gehorchen... Das ist absurdes Theater. Diese Kreise, die uns in Wirklichkeit hassen (Ausländer und Griechen) und die die einzig Verantwortlichen sind für die dramatische Lage in unserem Land, bedrohen und erpressen uns in der Absicht, ihr Zerstörungswerk fortführen zu können, am Nullpunkt vorbei bis zu unserer endgültigen Vernichtung.

Wir haben im Laufe der Jahrhunderte viele sehr schwierige Situationen gemeistert, und es steht fest, daß die Griechen nicht nur überleben werden, sondern auch von neuem aufleben, wenn sie uns mit Gewalt an die letzte Stufe des Weges bis zum Tod führen werden.

Zu diesem Zeitpunkt widme ich alle meine Bemühungen dem Versuch, das griechische Volk zu einen. Ich versuche es davon zu überzeugen, daß IWF und Troika nicht der einzig mögliche Weg sind, daß es eine andere Lösung gibt. Und diese Lösung ist, daß unsere Nation einen radikalen Kurswechsel vollzieht und sich Rußland zuwendet zu dem Zweck einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Gründung partnerschaftlicher Unternehmen, die uns helfen werden, unsere natürlichen Reichtümer auf förderliche Weise und unter Bedingungen zu nutzen, die unseren nationalen Interessen dienen.

Was Europa betrifft, schlage ich vor, daß wir aufhören, Rüstungsgüter von Deutschland und Frankreich zu kaufen. Und daß wir alles in unserer Macht Stehende tun, damit Deutschland die Kriegswiedergutmachungen zahlt, die es uns schuldet und die sich derzeit - einschließlich angemessener Zinsen - auf 500 Milliarden Euro belaufen.

Die einzige Kraft, die diese revolutionären Veränderungen bewirken kann, ist das zu einer Front des Widerstands und der Solidarität geeinte griechische Volk, das die Troika (den IWF und die europäischen Banken) aus unserem Land jagt. Gleichzeitig sollten alle ihre illegalen Aktionen (Kredite, Schulden, Zinsen, Steuern, Privatisierung nationaler Reichtümer) als nie geschehen betrachtet werden. Natürlich müssen ihre griechischen Bündnispartner - die in unserem Bewußtsein bereits als Verräter verurteilt sind -, bestraft werden.

Ich konzentriere mich mit allem auf dieses Ziel (Einheit des Volkes in einer Front), und ich glaube, daß wir es am Ende erreichen werden. Ich habe mit der Waffe in der Hand gegen Hitlers Besatzung gekämpft. Ich habe die Kerker der Gestapo erlebt. Ich wurde von den Deutschen zum Tode verurteilt und habe wie durch ein Wunder überlebt. 1967 habe ich die PAF (die Patriotische Front gegen die Diktatur) gegründet, die erste Widerstandsorganisation gegen die Militärjunta. Ich habe im Untergrund gekämpft, wurde gefangengenommen und im "Schlachthaus" der Junta gefangengehalten. Und wieder habe ich überlebt.

Heute bin in 87 Jahre alt, und es ist sehr wahrscheinlich, daß ich die Rettung meines geliebten Vaterlandes nicht erleben werde. Aber ich werde ruhigen Gewissens sterben, weil ich bis zum Ende meine Pflicht für die Ideale der Freiheit und Gerechtigkeit erfüllen werde.

Athen, 12.2.2012

Mikis Theodorakis


Übersetzung: Redaktion Schattenblick
(englische Fassung unter Einbeziehung der französischen)

URL der englischen Fassung:
http://en.mikis-theodorakis.net/index.php/article/articleview/559/1/76

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Quelle:
Theodorakis - The Home Page
"Die Wahrheit über Griechenland"
Autor: Mikis Theodorakis
Veröffentlichungsdatum: 16.02.2012
http://en.mikis-theodorakis.net
mit freundlicher Genehmigung von Guy Wagner
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2012