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STANDPUNKT/212: Der Anfang vom Ende der US-Hegemonie in Europa (Luz María Lenkait)


Der Anfang vom Ende der US-Hegemonie in Europa

von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait, Juli 2012



Aus Frankreich vernimmt Europa die ersten Schritte, um die Befreiung des Landes von der US-NATO-Dominanz zu bewerkstelligen. Schon zum NATO-Gipfeltreffen in Chicago am 20./21.5. gab der Präsident François Hollande seine Missbilligung und Trennungsabsicht gegenüber der US-Militärorganisation eindeutig zu verstehen. Bei der Eröffnungsrede des US-Präsidenten Barack Obama glänzte der französische Präsident durch seine Abwesenheit. Deutsche Medien haben diese präsidentielle Geste nicht richtig gedeutet. Solche Haltungen sind Werkzeuge der Diplomatie. Diplomatische Handlungen, darunter das Protokoll, haben eine Sprache, die oft klarer wirkt als alle Worte. Die Anwesenheit oder Abwesenheit bei bestimmten öffentlichen Akten ist Teil der aktiven lebendigen Weltdiplomatie und Signal der Politik des jeweiligen Landes. Der französische Präsident François Hollande verpasst die NATO-Rede des US-amerikanischen Präsidenten. Somit manifestiert er in bester diplomatischen Form und in aller Deutlichkeit, dass das Elysée für die US-NATO-Außenpolitik nichts übrig hatte und ein notwendiges Revidieren der den USA und NATO ergebenen Pariser Außenpolitik seines Vorgängers vorhatte. Eine klare gut bedachte diplomatische Sprache ausgerechnet vor dieser Supermacht, denn die unwürdige Ergebenheit der Ära Sarkozy hatte mit der Tradition Frankreichs gar nichts zu tun. In der Tat ist der Bruch mit dieser hoch geachteten Tradition von Charles de Gaulle unter einer Marionette der USA, unter dem unerwünschten Nicolas Sarkozy zustande gekommen. Unter welchen Umständen diese bemerkenswerte Wendung Frankreichs zur NATO geschah, ist unbekannt, aber nach alledem, was von den USA zuzutrauen ist, kann man sich gut vorstellen, weil es plausibel ist, dass amerikanischer Druck und amerikanische Erpressung auf den korrupten früheren Präsidenten Sarkozy wirkten, um dem Wunsch der USA nachzukommen, Frankreich an das Militärkommando der NATO zu fesseln. Nicht unbegründet hatte François Hollande bei seinem Amtsantritt in Elysée am 15.5. die republikanische Tradition von Charles de Gaulle, François Mitterand und Jacques Chirac betont gewürdigt, aber kein Wort zur Amtszeit von Sarkozy verloren.

Die Zumutung der US-NATO, ihren Einflussbereich zu erweitern, das Wettrüsten anzuheizen, die Militärausgaben zu erhöhen, Milliarden in neue Waffensysteme weiter zu verschwenden und ihr weltweites Netz von Militärbasen noch zu erweitern, all dieser Unfug in einer Zeit, in der sich die Finanzkrise des herrschenden Neoliberalismus vertieft und die sozialen Errungenschaften und Rechte verstärkt angegriffen werden, ist von einem souveränen Land mit ehrenvoller Tradition wie Frankreich nicht mehr annehmbar, vor allem nicht, wenn die hegemoniale US-Macht weitere militärische und interventionistische Eskalationen anstrebt. Die US-Irrationalität ist nicht mehr zu dulden: Sie ist ein Schlag, eine Obszönität und ein Hohn gegenüber allen Völkern der Welt.

Die weitere Militarisierung der internationalen Beziehungen, die Besetzung fremder Territorien und die Verletzung von Abrüstungsverträgen von der NATO-USA ist definitiv zu bremsen und anzuklagen. All das hat mit Demokratie gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Die Grundsätze der UN-Charta sind dadurch ernsthaft gefährdet und die Vereinten Nationen zunehmend als Deckmantel für die Gewalt der Welthegemonialmacht missbraucht worden. Die NATO wurde seit der vergeudeten Zeit des Kalten Krieges das wichtigste Instrument der US-Dominanz für ihre Weltbeherrschung. Daher ist sie eine enorme Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit auf der ganzen Welt geworden.

Der sozialistische Präsident hatte die von seinem Vorgänger Sarkozy beschlossene Rückkehr Frankreichs in das integrierte Militärkommando 2009 von Anfang an scharf kritisiert. Schon 1966 hatte General Charles de Gaulle aus Protest gegen eine angebliche US-Hegemonie in der NATO den Austritt aus der Militärstruktur des Bündnisses beschließen lassen. Heute erlebt die Welt in breitester Skala die verhängnisvollen Konsequenzen dieser US-Hegemonie.

Der neue Präsident im Elysée hat nach der Scharade von einem Sarkozy, die die republikanischen Werte Frankreichs mit Füssen trat, viel zu tun. Sarkozy war ein unwürdiges Interregnum in Frankreich, das verräterisch gegenüber der Tradition der Grande Nation wirkte.

Angesichts diesem desolaten Hintergrund, dessen Wirkungen auf ganz Europa aktuell zu spüren sind, handelt der neue französische Präsident mit großem Format und Entschlossenheit. Selbstbewusst und souverän erteilte er dem ehemaligen Außenminister Hubert Védrine den Auftrag, die Mitgliedschaft Frankreichs im NATO-Militärkommando zu überprüfen. Bis Ende Oktober müsse Védrine eine Stellungnahme zur künftigen Entwicklung der transatlantischen Beziehungen abgeben, wie aus dem Elysée zu vernehmen war (SZ, 20.7.12: "Bilanz der NATO-Integration"). Gleichzeitig beauftragte der Präsident bereits ein Weißbuch zur französischen Verteidigungspolitik, um die strategischen Prioritäten und Bedrohungen für Frankreich in den nächsten 15 Jahren analysieren zu lassen. Abgesehen von den Phantasma-Gefahren und Terror- Konstruktionen, die aus Washington Europa plagen, eine Selbstverständlichkeit.

Frankreich ist und bleibt Garant der Institutionen und Rechtsstaatlichkeit Europas. Eigentlich geht es um eine europäische Friedensordnung, die Jahrzehnte lang unentwickelt blieb, weil sie das gezielte Falschspiel einer einzigen Supermacht zu verhindern würde. Es geht um die Herausforderung, die europäische Friedensordnung von dem hegemonialen Machtdiktat einer unkontrollierten kriminellen Hypermacht zu befreien. Der Entschluss des französischen Präsidenten François Hollande, die Soldaten seines Landes aus Afghanistan bis Ende 2012 nach Hause zu holen, ist ebenso eine glückliche souveräne Entscheidung, die andere Länder zur Nachahmung animieren werden. Zum Schluss werden sich die Verbündeten drängeln, um Afghanistan zu verlassen. Selbst in den USA sind Umfragen zufolge zwei Drittel der Bevölkerung kriegsmüde und zunehmend wütend darüber, dass Washington angesichts der zunehmenden Armut, Arbeitslosigkeit und Jobunsicherheit bereits 350 Milliarden Dollar am Hindukusch verpulvert hat. Die Lage war für die westlichen Besatzer noch nie so prekär. Daher ist der Abzug der Franzosen ein Schritt nach vorne und eine wirksame Schlappe für die Kriegsfraktion in Washington.

Worte schaffen Politik, nicht Kanonen; Erasmus von Rotterdam weist uns darauf hin: "Dem Menschen als einzigem Lebewesen wurde die Gabe der Sprache verliehen, jene vornehmste Mittlerin der Freundschaft." Die USA-Regierungen haben längst diese menschliche Gabe verloren. Völlig unfähig, einen Dialog zu führen, stürmen sie als Taube in Gespräche, die dann natürlich scheitern. Daher die Brutalisierung ihrer Außenpolitik.

Die politische Entwicklung Frankreichs ist weit fortschrittlich. Schon unter dem konservativen Regierung von Jacques Chirac gab es keinen Riss innerhalb der Koalitionsregierung Frankreichs. Sozialisten, Kommunisten und Konservative waren sich darüber einig und sind es immer noch, wenn es um die Souveränität des Landes geht. Die französische Koalitionsregierung funktionierte sehr gut innerhalb des gemeinsamen demokratischen institutionellen Rahmen der Republik. Eine solche Koalition ist leider in Deutschland bisher unvorstellbar und stößt auf Unverständnis, denn hierzulande steht das Ideologische im Vordergrund, nicht das Institutionelle, nämlich, der rechtsstaatliche Rahmen für das Zusammenleben und Zusammenwirken der Politik jedweder Couleur. Darin liegt die eigentlich Grandeur Frankreichs und sein wesentlicher Unterschied zu Deutschland, sowohl heute wie gestern: Darin darf sich Frankreich zum Wohle Europas und zum Wohle der Weltstaatengemeinschaft nicht ändern. Paris will kein Militärhauptquartier der EU. Europas Entwicklung braucht es nicht.

Das letzte außenpolitische Abenteuer Deutschlands geht aufs Konto eines Kanzlers, den die deutsche Öffentlichkeit als emanzipiert darstellte. Dieses emanzipierte Getue veranlasste die deutsche Führung bloß gewissenlos in ein fremdes Land zu inkursionieren, und zwar versteckt innerhalb der mächtigsten Militär-Organisation der Welt, die einen brutalen Angriff auf eine benachbarte Nation verübte. Durch dieses feige, unmenschliche seiner Regentschaft hatte der Kanzler Deutschlands nicht nur die Nation, die er angriff, ohne deren Schuld mit Mord und Totschlag gedroht, sondern auch die Nation, die er führte, ebenso unverdient wie bereitwillig schrecklich opfern wollen. Dieser beunruhigende Ausdruck neuester deutscher Emanzipation verursacht tiefes Misstrauen in jeder wachsamen Person, in jedem Diplomaten oder Nation: Wo will dieses Deutschland, dieses Europa allein als nächstes eindringen?

Solange die NATO als Instrument für Kriegsplanung ausgenutzt wird, liegt es im Interesse aller Beteiligten und der Weltstaatengemeinschaft, die NATO aufzulösen, ein Entschluss, der seit dem Ende des Kalten Krieges unausweichlich und der seit den jüngsten NATO-Attentate gegen den Frieden heute mehr denn je erforderlich ist. Hierzu ist die eigentliche, in den Medien bisher unterdrückte Debatte zu führen. Ebenso haben friedfertige verantwortungsbewusste Außenpolitiker dazu Stellung zu beziehen. In diesem Debattenverlauf wird sich zeigen, wo Europa steht und ob es in der Lage ist, sich vom Militär-Industriekomplex und ihren Lobbyisten zu lösen.

Anstatt weiter riesige Summen an neue bürokratische Strukturen zu verschwenden, die sinnlos unproduktiv für die Bevölkerung Europas sind, sollten sich die europäischen Regierungen auf den wirtschaftlich- sozialen Bereich konzentrieren und dort zugunsten der Menschen investieren, wie es dringend nötig ist. Die NATO ist passé und mit ihr irgendwelche nebensächliche Nachahmung, die als unberechtigte Ursache für weitere Vergeudung, als unberechenbares Instrument für weitere Kriege und Elend auf keinen Fall geschaffen werden darf.

Die europäische Außenpolitik muss zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, um eine normale Richtung der Menschlichkeit wiederzufinden: Im Helsinki-Prozess kann und muss Europa Frieden mit der ganzen Welt schließen. Darin eingebettet wäre für Deutschland auch ein echter Friedensvertrag zu schließen, um endlich weniger Angriffsfläche für Erpressungsversuche zu bieten. Besonders jetzt, als vernünftige selbstbewusste Reaktion gegenüber der großen Unbekannten aus Washington, wo ein Team von Fanatikern und republikanischen Falken die Außenpolitik des mächtigsten Landes der Welt bestimmen wollen. Wenn Europa es schafft, sich von diesen unberechenbar gefährlichen Kreisen zu befreien, wird es hinter sich die große Mehrheit der Länder der Welt wissen, denn ein mächtiger, aber friedlicher Gegenpol Europa gibt Vertrauen und Schutz. Europa wird dann verstärkt die Freundschaft der Völker der Welt erfahren, die sich aus wahrer friedlicher Verbundenheit zum Erhalt dieses alten Kontinents engagieren werden, aus dem einmal Kultur und Aufklärung für den Rest der Welt ausging. Paris will deshalb die internationalen Beziehungen normalisieren. Ebenso wie Moskau. Und was hat Berlin vor?

Die Aufklärung identifiziert, wie Erasmus von Rotterdam, Frieden und Vernunft, radikalisiert diesen Zusammenhang jedoch insofern, als sie Vernunft eher als Horizont fasst, dem sich Geschichte, - als Fortschritt - unaufhaltsam annähert. Aus dieser Perspektive wird Krieg und Gewalt zu einem Überrest archaischer Barbarei. Dazu legt Denis Diderot in der Enzyklopädie fest: "Er (der Krieg) ist eine krampfhafte und heftige Krankheit des politischen Körpers, der nur dann gesund, d.h. in seinem natürlichen Zustand ist, wenn er Frieden genießt."

Deutschland sollte zusammen mit Frankreich gehen: "Die aufgeklärten Völker werden allmählich lernen, den Krieg und die Gewalt als die unheilvollste Geißel, als das größte aller Verbrechen anzusehen." (Condorcet). "Es gibt viele Vorwände für Kriege, aber nur einen Grund dafür, nämlich, das Heer. Schafft das Heer ab, und ihr habt den Krieg abgeschafft." (Victor Hugo). Übersetzt ins Heute: Schafft die Aufrüstung ab, schafft das NATO-Ungeheuer ab und ihr habt den Krieg abgeschafft.

Ganz Europa, Frankreich und Deutschland an erster Stelle, müssen den Mut aufbringen, sich von Denkkategorien des blutigsten 20.Jahrhunderts, der Zeit der Extreme, abzuwenden. Es gilt im neuen Millennium eine gemeinsame Außenpolitik des Vertrauens und Zuverlässigkeit unter allen Staaten und Völkern aufzubauen und zu fördern.

Vertrauensbildende Maßnahmen sind die Grundlage einer gemeinsamen Außenpolitik, wie sie in Helsinki vor 60 Jahren verpflichtend wurden. Nach allen lebenden Menschen in Europa, nach allen Europäern hat sich die hiesige Politik zu richten. Nur wenn das geschieht, ohne Ungleichgewicht, ist es glaubwürdig für europäische Staatsmänner, von Menschenrechten zu sprechen.

Europa wird noch viel vom französischen Präsidenten François Hollande zu hören und zu lernen haben. Frankreich setzt auf eine neue Außenpolitik, unabhängig von der USA-Irrationalität, die Europa irreparablen Schaden gekostet hat. Der neue Präsident Frankreichs, François Hollande, ist von ganzem Herzen zu begrüßen und mit ihm ist es zu wünschen, dass für die US-Hegemonie in Europa der Anfang vom Ende beginnt.


Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait, Juristin und Diplomatin a.D.

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Quelle:
© 2012 by Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait
mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2012