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STANDPUNKT/329: Neue Mächte - Aufstrebende Staaten gestalten die Weltpolitik mit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 141, September 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Neue Mächte
Aufstrebende Staaten gestalten die Weltpolitik mit

von Matthew D. Stephen



Kurz gefasst: Aufstrebende Staaten wollen größeren Einfluss auf die internationale Politik erlangen - ein Wunsch, dem die Interessen der Großmächte, die seit Jahrzehnten die internationalen Institutionen beherrschen, entgegenstehen. Dies hat dazu geführt, dass die Großmächte zunehmend außerhalb der Institutionen ihren Einfluss geltend machen. Außerdem entstehen vermehrt alternative regionale Zusammenschlüsse. Diese Neuordnung des globalen Machtgefüges könnte auf Dauer die Dominanz der Großmächte, vor allem der USA, eindämmen.


Macht und Wohlstand sind in Bewegung. Das rasante Wirtschaftswachstum in vielen aufstrebenden Groß- und Mittelmächten führt zu einer globalen Neuverteilung des Wohlstands, auch wenn diese Länder noch weit zurückliegen, was das Pro-Kopf-Vermögen und die gesellschaftliche Entwicklung betrifft. Staaten wie China und Indien verfügen heute über größere Ressourcen als früher und haben sich stärker nach außen geöffnet. Brasilien ist in eine neue Phase starken Wirtschaftswachstums eingetreten, und Russland ist dabei, nach einer Zeit ökonomischer und politischer Krisen in den 1990er Jahren zu alter Stärke zurückzufinden. Hinzu kommt, dass der Wirtschaftsboom in den Schwellenländern zusammenfällt mit in einer Phase ökonomischer Krisen und Stagnation in den USA und Europa; so beschleunigt sich die relative Verschiebung des globalen Einkommens noch. China wird voraussichtlich die USA bald als weltgrößte Volkswirtschaft ablösen, dicht gefolgt von Indien. Die europäischen Länder werden von großen Entwicklungsländern aus der ersten Riege der Weltmächte verdrängt. Kurzum: Die Weltwirtschaft wird multipolar.

Wie wird sich der Aufstieg der neuen Mächte auf die internationale Politik auswirken? Hier gibt es skeptische und optimistische Prognosen. Die Skeptiker befürchten eine Erosion der westlich geprägten Weltordnung. Ihrer Ansicht nach repräsentieren die bestehenden internationalen Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank die Interessen der USA und der liberalen Marktwirtschaft. Folglich werden neue Mächte diese Institutionen nicht akzeptieren, was zu einer Auseinandersetzung um die Regeln und Normen globalen Regierens führen wird. Die Skeptiker sehen in den innenpolitischen Ordnungen Chinas und Russlands zudem eine Rehabilitierung autoritärer und nicht liberaler Alternativen zur westlichen Gesellschaftsordnung. Optimisten richten den Blick auf eine andere Entwicklung. Aus ihrer Sicht besteht die Genialität der von den USA geführten Weltordnung gerade darin, dass sie den dominanten wie den aufstrebenden Mächten ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung vermittelt. Dies geschieht, indem die USA ihre Macht in ein Netzwerk militärischer Bündnisse einbinden, anderen Ländern durch Freihandel und offene Kapitalmärkte wirtschaftliche Entwicklungsoptionen eröffnen und ihnen die Möglichkeit bieten, sich in die bestehenden internationalen Institutionen zu integrieren und dort ihren Einfluss zu vergrößern.

Ob am Ende die Optimisten oder die Skeptiker recht behalten, wird in hohem Maße davon abhängen, welche Entscheidungen die aufstrebenden Mächte treffen. Wir müssen uns also mit der Frage beschäftigen, was die aufstrebenden Mächte eigentlich wollen. Das ist jedoch gar kein Geheimnis. Analysieren wir ihr Verhalten in den letzten Jahren, so ergeben sich klare Hinweise auf die Weltordnung, auf die sie hinarbeiten. Die Ergebnisse werden die Optimisten wahrscheinlich enttäuschen, aber auch die Pessimisten könnten eine Überraschung erleben.

Die aufstrebenden Mächte wollen den etablierten Großmächten deren privilegierte Stellung in globalen Regierungsinstitutionen streitig machen. Denn obwohl die Weltwirtschaft multipolarer geworden ist und sich die internationale Machtverteilung verschoben hat, werden die wichtigsten Institutionen der Weltordnungspolitik noch immer von den USA, Europa und Japan dominiert. Der IWF und die Weltbank - zentrale Institutionen der Geld- und Finanzpolitik - haben noch immer Abstimmungsregeln, die die westlichen Industrieländer privilegieren und den USA sogar das Privileg eines faktischen Vetorechts zubilligen. Dass auch die Leitungspositionen ausschließlich an Amerikaner und Europäer vergeben werden, macht die Sache aus Sicht der Schwellenländer nur noch schlimmer. Der Status des US-Dollars als globale Leitwährung ermöglicht es den USA zudem, umfangreiche Kredite aufzunehmen, ohne dafür Zinsen zahlen zu müssen (Seigniorage). Sie sind damit immun gegen die Marktdisziplin geworden, die die Politik anderer Staaten prägt. Multilaterale Handelsverhandlungen werden traditionell von einer kleinen Gruppe Industrieländer dominiert, die so der ganzen Welt ihre Handelsregeln diktieren können. Und im UN-Sicherheitsrat bemühen sich bislang ausgeschlossene Mächte wie Indien, Brasilien und Südafrika um Führungspositionen als neue ständige Mitglieder. In all diesen Bereichen fordern die aufstrebenden Mächte eine Neuverteilung von Führungspositionen, eine bessere Positionierung in diesen Institutionen und ein Ende der westlichen Dominanz. So gesehen geht es ihnen also um eine Integration in das bestehende System, und die Optimisten können sich bestätigt fühlen.

Allerdings sind diese Integrationsversuche bisher nur zum Teil erfolgreich. In vielen multilateralen Kontexten lässt sich daher ein Wiederaufleben direkter Verhandlungen zwischen den Großmächten beobachten. Im Handelssektor zum Beispiel kritisieren Länder wie Indien und Brasilien die Exklusivität, mit der Entscheidungen bislang getroffen wurden, sind aber gleichzeitig selbst Teil eines neuen Kerns großer Handelsmächte geworden: der G 6, gemeinsam mit Australien, der EU, Japan, und den USA. Die Reformen von IWF und Weltbank berühren nicht die Substanz dieser Institutionen, verlaufen schleppend und werden zudem durch die Weigerung der US-Regierung blockiert, die jüngsten Reformen zu ratifizieren.

Die aufstrebenden Mächte konzentrieren sich daher jetzt auf die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20), die zum bevorzugten Forum für wirtschaftliche Zusammenarbeit avanciert ist. In der G 20 gibt es keine formalen Regeln; sie ist ein reines Verhandlungsforum für die Groß- und Mittelmächte. Und so wurden auf einen Schlag 90 Prozent aller Länder von der Mitbestimmung an der Weltwirtschaftsordnung ausgeschlossen. Die universelle Mitgliedschaft und das Stimmrechtssystem von IWF und Weltbank bewirkten zumindest, dass kleinere Länder nicht völlig ausgeschlossen wurden. Ein funktionelles Äquivalent zu direkten Großmachtverhandlungen könnte in der weiteren Formalisierung der prozeduralen Ungleichheit innerhalb der internationalen Institutionen bestehen, wie etwa bei den ständigen Sitzen im UN-Sicherheitsrat, doch dies wird sowohl durch die Souveränitätsbedenken anderer Länder als auch durch den Unwillen der etablierten Mächte blockiert, die für die Integration erforderlichen Kompromisse einzugehen.

Eine Alternative zur Reform bestehender Institutionen ist die Schaffung völlig neuer Institutionen. Dies ist das zweite Resultat des Aufstiegs der neuen Mächte. Am deutlichsten zeigt sich dieser Prozess im Handel. Nachdem die Doha-Runde der WTO, die 2001 auf ihrer vierten Konferenz in Doha den Anstoß zu einer gemeinsamen Handels- und Entwicklungsagenda gab, vorerst am Wettbewerbsdruck der Mitglieder untereinander gescheitert ist, versuchen die Großmächte ihre Alternativen zu einer Verhandlungslösung zu verbessern. Dies geschieht zumeist in Form eines regionalen Nabe-Speiche-Systems, wobei jede Großmacht über bilaterale Abkommen ihre eigene Freihandelsregion unterhält.

Freihandelsabkommen zwischen den Großmächten sind dagegen die Ausnahme: Nur Südafrika und Europa sowie der südamerikanische Mercosur und Indien haben Freihandelsabkommen geschlossen. Infolgedessen läuft der Großteil des weltweiten Handels heute über die gegenseitige Gewährung von Vorzugsbedingungen, die zwar mit den WTO-Regeln kompatibel sind, aber mit dem ursprünglichen multilateralen Konzept der Nichtdiskriminierung im Widerspruch stehen. Ähnlich sieht es in der Finanzpolitik aus: Hier haben die BRIC-Länder eine eigene Entwicklungsbank und eigene Zins- und Währungstauschvereinbarungen als Alternativen zu den Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank vorgeschlagen. Somit geht der Aufstieg der neuen Mächte wahrscheinlich mit einer starken Zunahme regionaler Alternativen zu den universalen Organisationen einher. Eine ausgeglichenere Machtverteilung könnte sich als Motor institutioneller Komplexität erweisen (s. den Beitrag von Benjamin Faude, S. 10-12. [siehe im Schattenblick unter www.schattenblick.de → Politik → Meinungen: STANDPUNKT/328: Wenn die letzte Instanz fehlt (WZB)]).

Dieser Streit um das Institutionengefüge speist sich offenbar primär aus der Frustration über den Ausschluss der aufstrebenden Länder von Führungspositionen und weniger aus einer prinzipiellen Ablehnung der bestehenden Regeln und Normen. Nur eine stärkere Kompromissbereitschaft der etablierten Mächte wie Europa und die USA würden verhindern, dass es zu einer grundsätzlichen Ablehnung der bestehenden institutionellen Ordnung kommt. Das Problem dabei ist, dass internationale Institutionen sich nur schwer verändern lassen, sobald sie einmal geschaffen wurden. Verschiebungen im zugrunde liegenden Mächtegleichgewicht lassen sich nur schwer abbilden. Zum Leidwesen der Verteidiger des bestehenden Systems haben die etablierten Mächte bislang mehr durch Obstruktion als durch Entgegenkommen geglänzt, wenn es darum ging, die alten Institutionen an neue Realitäten anzupassen. Das Resultat ist eine Rückkehr zu Großmachtpolitik und institutionellem Pluralismus. So gesehen bestätigt sich die Prognose der Pessimisten.

Eine letzte Gemeinsamkeit in der Sichtweise der aufstrebenden Mächte ist die Skepsis gegenüber einer weitergehenden Institutionalisierung liberaler Regeln und Vereinbarungen. Dies trifft sogar für Wachstumsländer wie Indien, Brasilien und Südafrika zu, von denen wir aufgrund ihrer liberal-demokratischen Verfassung und des gemeinsamen westlichen Erbes am wenigsten vermuten würden, dass sie die bestehende liberale Ordnung infrage stellen. Der Stand der inneren Entwicklung in Ländern wie den BRICs liegt weit unter dem der etablierten Mächte, und ihr ökonomischer Erfolg fußt auf Varianten des Kapitalismus, die deutlich weniger liberal geprägt sind als die der USA und Europas. Sie sind daher entsprechend weniger gewillt, ihre wirtschaftliche Autonomie aufzugeben und ihre Wirtschaftspolitik an liberale Regime zu koppeln. Dies kommt auch in ihrer zurückhaltenden Einstellung zur liberalen Ideologie der Menschenrechte und dem kosmopolitischen Konzept der konditionalen Souveränität zum Ausdruck, demzufolge zur staatlichen Souveränität auch Pflichten gegenüber der internationalen Gemeinschaft gehören. Die aufstrebenden Mächte haben erkannt, was konditionale Souveränität bedeutet: Souveränität hängt von den Interessen der USA ab, nicht von objektiven Kriterien in Bezug auf die Menschenrechte oder demokratische Reformen.

Was bedeuten diese großen Trends zusammengefasst? Es ist zu erwarten, dass die gegenwärtige Ordnung globalen Regierens weniger liberal und stärker regional geprägt sein wird und mehr als zuvor auf direkten Verhandlungen zwischen den Großmächten basieren wird - wohl eine Reaktion auf den Einfluss und die Forderungen der aufstrebenden Mächte. Eine solche Entwicklung ist jedoch immer noch kompatibel mit den Grundstrukturen des bestehenden Systems. Regionale Handelsvereinbarungen zum Beispiel stehen alle im Einklang mit den von der WTO festgelegten Regeln. Der Aufstieg der neuen Mächte ist überdies zutiefst mit ihrer Integration in den globalen Kapitalismus verbunden. Dies erzeugt eine wirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft unter den Großmächten und erzwingt internationale Regeln und Vereinbarungen zur dauerhaften Gewährleistung einer politischen Infrastruktur für ein globales Wirtschaftssystem. Obwohl sie den Führungsanspruch der etablierten Mächte bei der Festlegung dieser Regeln nicht länger hinnehmen, sind die aufstrebenden Mächte doch auf die Existenz von Regeln angewiesen, wenn ihre Entwicklung weiterhin erfolgreich verlaufen soll.

Die Nachrichten sind daher nicht nur schlecht. Eine Verringerung des westlichen Einflusses könnte sogar genau das richtige Rezept sein. Wer die korrumpierenden Auswirkungen konzentrierter Macht fürchtet, sollte ein neues Mächtegleichgewicht zwischen den USA und ihren Freunden begrüßen. Eine ausgeglichenere Weltordnung könnte dem System Stabilität zurückgeben und die Großmächte davon abhalten, ihre führende Stellung auszunutzen. Ein neues Mächtegleichgewicht für das 21. Jahrhundert könnte sehr viel stabiler sein als das, welches Anfang des 20. Jahrhunderts zusammenbrach. Alle Groß- und Mittelmächte sind sich heute einig über Gesetze und Normen gegen Krieg und territoriale Expansion; Atomwaffen bieten Schutz vor militärischen Abenteuern; der transnationale Kapitalismus ermöglicht ökonomisches Wachstum auch ohne territoriale Herrschaft. Der Pragmatismus und Nichtinterventionismus der aufstrebenden Mächte ist zudem ein willkommenes Gegenmittel gegen liberale Kreuzzüge und kann dazu beitragen, das Aufkommen neuer ideologischer Konflikte zwischen den Großmächten zu verhindern. Politiker und Wissenschaftler sind vielerorts besorgt angesichts eines drohenden Verlusts westlichen Einflusses und suchen Wege, die westliche Dominanz zu verlängern. Die hier dargestellten Tendenzen sollten ihnen zu denken geben.


Matthew D. Stephen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Global Governance. Er forscht über internationale politische Ökonomie, Theorien der internationalen Beziehungen und aufstrebende Mächte.
matthew.stephen@wzb.eu


Literatur

Ikenberry, G. John: "The Future of the Liberal World Order". In: Foreign Affairs, 2011, Vol. 90, pp. 56-62.

Nau, Henry/Ollapally, Deepa (Eds.): Worldviews of Aspiring Powers. Oxford: Oxford University Press 2012.

Stephen, Matthew D.: "Rising Regional Powers and International Institutions: The Foreign Policy Orientations of India, Brazil and South Africa". In: Global Society, 2012, Vol. 26, No. 3, pp. 289-309.

Stephen, Matthew D.: Pivotal Rising Powers: India, Brazil and South Africa and Contestation in Global Governance. Doctoral Dissertation. Otto Suhr Institute of Political Science, Freie Universität Berlin 2013.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 141, September 2013, Seite 13-16
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2013