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STANDPUNKT/358: Wahlen in der Türkei - Neue Koalitionäre braucht die AKP (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 3/2014

Kommentar
Neue Koalitionäre braucht die AKP und erhofft Rettung durch die einst verurteilten Generäle

Von Memo Sahin



"Es darf nicht vergessen werden, dass die türkischen Streitkräfte die Hüter der laizistischen Ordnung sind... Die Armee verfolgt die mit der Präsidentenwahl verbundenen Debatten um die säkulare Ordnung des Landes mit Sorge. Bestrebungen gewisser Kreise, die Grundwerte der Republik und allem voran den Laizismus auszuhöhlen, haben in jüngster Zeit merklich zugenommen... Wer sich gegen den Ausspruch des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, 'Ne mutlu Türküm diyene - Welch ein Glück, Türke zu sein' stellt, ist ein Feind der Republik. Die Armee wird ihre Position und ihre Einstellungen offen zeigen, wenn es notwendig wird. Daran sollte niemand zweifeln...", ließen die Mächtigen im Lande am 27. April 2007 um 23.10 Uhr Ortszeit per Internet verbreiten. (NN-5/2007)

Erst nachdem die USA und die EU sich gegen die Drohgebärden der türkischen Generäle stellten, wandte sich Erdogan gegen das Ultimatum. Es waren revolutionäre Zeiten damals. Mit Unterstützung der Gesellschaft und demokratischer Kräfte im In-und Ausland ging die AKP mit ihrem damaligen Koalitionspartner, der Gülen-Bewegung, gegen die Vorherrschaft der Armee vor. Putschpläne der Armeeführung wurden der Öffentlichkeit vorgelegt. Waffenverstecke wurden entdeckt, CDs und Harddisks beschlagnahmt. Im Morgengrauen wurden Wohnungen und Residenzen der Offiziere durchsucht und die einst Mächtigen nacheinander in Handschellen abgeführt. Hunderte von Generälen fanden sich vor Richtern. Ergenekon, Balyoz und Andic hießen die Massenprozesse. Von Terrorbanden redeten die Koalitionäre. Tagtäglich berichteten Dutzende Fernsehsender von Festnahmen, Prozesse, Neuigkeiten und Machenschaften der Generäle, allerdings mit einer Ausnahme: Niemals wurden ihre Verbrechen im "Osten des Euphrats" zur Sprache gebracht. Weder die Regierung noch die Richter haben mit einem Wort vom Terror der Generäle in Kurdistan geredet. Dort, im Kurdengebiet haben die Hüter des kemalistischen Staates Massaker begangen, Bomben und Minen gelegt; Menschen entführt und mit einem Genickschuss "beseitigt". Die Zahl der von Todesschwadronen, Killerkommandos und von paramilitärischen JITEM in den Städten verschleppten und getöteten Kurden betrug über 17.000.

Hunderte von Generälen und Offiziere wurden zum Teil zu lebenslänglichen Strafen verurteilt. Darunter befanden sich Generalstabschefs, Kommandierende des Heeres, der Luft- und Seestreitkräfte und ihre zivilen Unterstützer. Die Koalitionspartner - AKP und Gülen-Bewegung - feierten ihren Sieg. Die 90jährige Knechtschaft fand endlich ein Ende. Die Legislative, Exekutive und Judikative befanden sich ebenfalls in sicheren Händen der Gleichgesinnten. Massenmedien ebenso. Der Staatskuchen konnte paritätisch unter den Bündnispartnern verteilt werden. Es gab keine Kräfte mehr, die dies verhindern konnten.

Fünfzigprozentige Wählerzustimmung, Beendigung der Vormachtstellung der Armee in Gesellschaft und Staatswesen ermutigten Erdogan zum Alleinregieren und zu einem "Nein-Wort" gegenüber den Forderungen der Gülen-Bewegung. Neben Justiz, Polizei, Bildungs- und Verwaltungswesen wollte sie auch den Geheimdienst (MIT) an sich ziehen und wie ein Schattenkabinett ohne irgendeine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament das Land regieren. Dies passte Erdogan nicht. So begann die Zusammenarbeit der Koalitionäre zu bröckeln. Als die Kalender den 17. Dezember 2013 zeigten, kam zu einem öffentlichen Kampf der Weggefährten. An diesem Tag ging die Gülen-Bewegung gegen die Korruption der AKP-Regierung vor. Betroffen waren viele Minister, der Premier höchstpersönlich, seine Familienmitglieder, Unternehmer und Bankier sowie Bürokraten auf den höchsten Etagen des Staatswesens.

Es ist üblich in der Türkei, dass im Wahljahr flächendeckende und großvolumige Bestechungen durch die Regierenden vorgenommen werden. Manchmal werden Lebensmittel und Kohle verteilt, manchmal Kühlschränke und Waschmaschinen sogar in Dörfern ohne Elektrizität. Erhöhung der Löhne der Beamten und Angestellten im Staatsapparat sind stets dabei.

Da der AKP mit den Veröffentlichungen der Gülen-Bewegung gegen die Korruption der Regierung tiefe Kratzen in Image und Charisma zugefügt wurden, musste sie in diesem Superwahljahr - Kommunalwahl und Präsidentenwahl, eventuell auch vorgezogene Parlamentswahl - zusätzlich zu üblichen Bestechungen und Beschenkungen sich auf die Suche nach neuen Koalitionären begeben. Alle Verantwortung zur Verhaftung und Verurteilung der Generäle wurde auf die Gülen-Bewegung geschoben. Laut Erdogan habe die Gülen-Bewegung ein Komplott gegen die Armee vorbereitet und durchgeführt. Nach einigen Gesetzesänderungen in den letzten Wochen wurden die per Gerichtsbeschluss lebenslänglich verurteilten Generäle ohne eine Amnestie freigelassen. Nicht nur sie. Auch die Mörder der drei Christen in Malatya vor sieben Jahren, des armenischen Journalisten Hrant Dink und viele andere. Die nicht verurteilten und seit über fünf Jahren als Geiseln gefangen gehaltenen gewählten kurdischen Politiker, Bürgermeister, Menschenrechtler, Gewerkschafter und Journalisten dagegen, werden nach wie vor festgehalten. So urteilt die türkische Justiz. Sie macht sich so zum Änhängsel einer taktischen Machtpolitik. Das Richtschwert wird so zu einem ständig bedrohenden Damoklesschwert umgewandelt.

Die große politische Frage lautet, wer in dieser neuen Koalition von AKP und Militär die Oberhand haben wird. Sicher werden den Generälen bedeutende, antidemokratische Zugeständnisse gemacht werden, wie sie sich schon aktuell im Kampf der AKP gegen die Gülen-Bewegung abzeichnen. Zu befürchten ist auch, dass versucht wird, den türkisch-kurdischen Konflikt wieder militärisch anzugehen und alle Bemühungen um Aussöhnung und eine politische Lösung beiseite geschoben werden. Beängstigende Aussichten!

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Quelle:
Nützliche Nachrichten 3/2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2014