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STANDPUNKT/367: Ein schändliches Kapitel (Uri Avnery)


Ein schändliches Kapitel

von Uri Avnery, 3. Mai 2014



WIE WÜRDEN die USA auf eine Erklärung der Palästinenser reagieren, Verhandlungen mit einer israelischen Regierung abzulehnen, die faschistoide Parteien einschließt?

Mit Entrüstung, natürlich.

Wie reagieren die USA auf eine Erklärung Israels, Verhandlungen mit einer palästinensischen Regierung abzulehnen, die die Hamas einschließt?

Mit vollem Einverständnis, natürlich.


FÜR JEDEN, der am israelisch-palästinensischen Frieden interessiert ist, ist die Aussicht auf eine palästinensische Versöhnung eine gute Nachricht.

Seit Jahren hören wir nun israelische Wortführer verkünden, dass es keinen Sinn habe, mit dem halben palästinensischen Volk Frieden zu schließen und mit der anderen Hälfte weiter Krieg zu führen. Mahmoud Abbas sei ein "gerupftes Huhn", wie Ariel Sharon einmal taktvoll sagte. Es sei die Hamas, die zähle. Und Hamas plane einen zweiten Holocaust.

Nach dem kürzlich geschlossenen palästinensischen Versöhnungsabkommen, hat sich die Hamas jetzt verpflichtet, eine gesamt-palästinensische Regierung von Experten zu unterstützen, mit denen beide Seiten einverstanden sind. Die israelische extrem-rechte Regierung ist fuchsteufelswild. Sie will nie und nimmer mit einer palästinensischen Regierung verhandeln, die von der Hamas unterstützt wird.

Die Hamas muss erst Israel anerkennen, alle terroristischen Aktivitäten beenden und sich verpflichten, alle vorausgegangenen von der PLO unterzeichneten Abkommen respektieren.

Das ist OK, erklärt Abbas. Die nächste Regierung wird von mir ernannt, und sie wird alle drei Bedingungen erfüllen.

Das genügt nicht, erklärt Netanjahus Sprecher. Die Hamas selbst muss die drei Bedingungen annehmen, bevor wir mit einer Regierung verhandeln, die von der Hamas unterstützt wird.

Abbas könnte in gleicher Weise reagieren: Vor Verhandlungen mit der Netanjahu-Regierung, könnte er sagen, müssen alle an der israelischen Regierung beteiligten Parteien deutlich erklären, dass sie die Zwei-Staaten-Lösung unterstützen, wie es Netanjahu (einmal in seiner sogenannten Bar-Ilan-Rede) getan hat. Wenigstens zwei Parteien, Naftali Bennetts "Jüdisches Heim" und Avigdor Liebermans "Israel unser Heim", weigern sich ebenso wie ein großer Teil des Likud.

Man kann sich eine Zeremonie in der Knesset vorstellen, bei der jeder Kabinettminister aufstehen und erklären würde: "Hiermit erkläre ich feierlich, dass ich voll und ganz die Schaffung des Staates Palästina neben dem Staat Israel unterstütze!" Eher wird wohl der Messias kommen.

Natürlich ist das unwesentlich. Der Standpunkt der einzelnen Parteien oder Minister ist unbedeutend. Es ist die Politik der Regierung, die zählt. Falls die nächste palästinensische Regierung Israel anerkennt, auf Gewalt verzichtet und alle früheren Abkommen respektiert, sollte dies genug sein.


WARUM IST das palästinensische Versöhnungsabkommen für den Frieden eine gute Nachricht?

Erstens weil man mit einer ganzen Nation Frieden macht, nicht mit einer Hälfte von ihr. Frieden mit der PLO ohne Hamas wäre von Anfang an unwirksam. Die Hamas könnte ihn jederzeit durch Gewalttaten (auch Terrorismus genannt) sabotieren.

Zweitens, weil beim Anschluss an die PLO und schließlich an die palästinensische Regierung die Hamas die Politik der PLO akzeptiert, die schon seit langem den Staat Israel und die Teilung des historischen Palästina anerkannte.

Man sollte sich daran erinnern, dass vor dem Oslo-Abkommen die PLO selbst offiziell von Israel (und den USA) als terroristische Organisation bezeichnet wurde. Zur Zeit der Unterzeichnung auf dem Rasen vor dem Weißen Haus, war die palästinensische Charta noch in Kraft. Sie rief noch zur Zerstörung des illegalen Staates von Israel auf und zur Vertreibung praktisch all seiner Bürger in ihre Ursprungsländer.

Viele Jahre lang wurde diese Charta von israelischen Politikern und Akademikern als ein unüberwindbares Hindernis zum Frieden bezeichnet.

Erst nachdem das Oslo-Abkommen in Kraft trat, veränderte der PLO-Nationalrat diese Charta bei einer festlichen Zeremonie, bei der Präsident Bill Clinton dabei war.

Die Hamas hat eine ähnliche Charta. Auch sie wird gestrichen, sobald die Hamas sich dem politischen System anschließt.

Es ist historische Ironie, dass Israel in der Vergangenheit heimlich die Hamas gegen die PLO unterstützte. Während alle palästinensischen politischen Aktivitäten (auch für den Frieden) in den besetzten Gebieten streng verboten waren und bestraft wurden, waren Hamas' Aktivitäten in den Moscheen erlaubt.

Ich fragte einen früheren Shin-Bet-Chef, ob er die Hamas geschaffen habe. Seine Antwort war: "Wir haben sie nicht geschaffen, wir haben sie geduldet."

Der Grund war, dass in jener Zeit Arafats PLO als der Feind angesehen wurde. Arafat selbst wurde unaufhörlich als der "zweite Hitler" dämonisiert. Jeder, der gegen Arafat kämpfte, wurde als Verbündeter betrachtet. Diese Haltung setzte sich ein Jahr bis nach dem Ausbruch der 1. Intifada fort, bis dem Shin Bet klar wurde, dass die Hamas viel gefährlicher war als die PLO und ihre Führer verhaftete (und später umbrachte).

Im Augenblick herrscht ein nicht erklärter Waffenstillstand (Tahdiyah oder Ruhe) zwischen Israel und der Hamas. Klar ist, dass die Hamas entschieden hat, dass ihre Ambitionen als eine der zwei großen palästinensischen politischen Parteien wichtiger sind, als der gewaltsame Kampf gegen Israel. Ihr Hauptziel ist es, im zukünftigen palästinensischen Staat in der Westbank und im Gazastreifen an die Macht zu kommen. Wie so viele frühere Befreiungsorganisationen rund um die Welt, einschließlich Begins Likud, ist sie dabei, sich aus einer Terrororganisation in eine politische Partei zu verwandeln.


WIE NICHT anders zu erwarten, folgten die USA dem Beispiel Israels und akzeptierten dessen Linie. Sie bedrohen die palästinensische Behörde mit einer Art Kriegserklärung, falls das Versöhnungsabkommen umgesetzt wird.

Die amerikanische Friedensinitiative brach zusammen. Die volle Wahrheit kann und muss jetzt ausgesprochen werden.

Sie war schon vor ihrem Beginn zum Scheitern verurteilt. Sie hatte nicht die kleinste Chance, Erfolg zu haben.

Bevor die Tatsachen unter einer Propaganda-Lawine beerdigt werden, muss man klar aussprechen, wie die Friedensinitiative zu ihrem Ende kam: nicht weil Abbas sich internationalen Körperschaften angeschlossen hat, nicht wegen der palästinensischen Versöhnung, sondern wegen der Weigerung Netanjahus, seine eindeutige Verpflichtung zu erfüllen: bestimmte palästinensische Gefangene zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entlassen.

Die Entlassung der Gefangenen ist ein äußerst sensibler Punkt für die Palästinenser. Es handelt sich um menschliche Wesen und ihre Familien. Diese besonderen Gefangenen, einige von ihnen israelische Bürger, sind seit mindesten 21 Jahren im Gefängnis. Netanjahu hatte nicht die Charakterstärke, sein Versprechen zu erfüllen und einer wilden Hetzkampagne entgegenzutreten, die von der extremen Rechte ausgeht.

Er zog es vor, die "Verhandlungen" zu beenden.


JOHN KERRYs Auftritt kann nur als erbärmlich bezeichnet werden.

Es begann mit der Ernennung Martin Indyks zum Verhandlungsführer. Indyk war in der Vergangenheit ein Mitarbeiter von AIPAC, der Hauptlobby der israelischen Rechten. AIPACs Hauptaufgabe ist es, den amerikanischen Kongress zu terrorisieren. Die Senatoren und Abgeordneten zittern allein schon beim Anblick von AIPACs Agenten.

Solch eine Person als unparteiischen Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern aufzustellen, war eine glatte Chuzpe. Dies zeigte den Palästinensern schon von Anfang an, was zu erwarten war.

Der zweite Akt der Chuzpe war, die Gespräche zu führen, ohne dass Netanjahu eine Liste von Konzessionen bereitstellte, die er zu machen bereit wäre. Die ganze israelische Seite weigerte sich, eine Landkarte mit vorgeschlagenen Grenzen vorzulegen, nachdem sogar die palästinensische Seite ihre eigene Landkarte gezeichnet hatte.

Diese Scharade, während der man keinen Zoll weiterkam, dauerte neun Monate. Die Parteien trafen sich und sprachen, sprachen und trafen sich. Außer Netanjahus lächerlicher Forderung, die Palästinenser sollten Israel als den "National-Staat des jüdischen Volkes anerkennen", lag weiter nichts auf dem Tisch.

Zipi Livni, eine unbedeutende Politikerin, die sich im Rampenlicht der glamourösen, internationalen Bühne sonnte, hätte das am liebsten bis in alle Ewigkeit getan, ohne irgendetwas zu erreichen.

Die palästinensische Seite war auch an einer Fortsetzung interessiert, selbst wenn es zwecklos war, um die Zeit ohne interne Explosion zu überstehen.

Die ganze Sache drehte sich rund um eine einfache Frage: war Präsident Obama bereit, sich dem Angriff der vereinten Kräfte von AIPAC, dem Senat, dem Unterhaus, den Republikanern, den Evangelikalen, dem rechten jüdischen Establishment und der israelischen Propagandamaschine entgegen zu stellen?

Wenn nicht, dann hätte Kerry gar nicht erst anfangen sollen.


IN DIESER WOCHE erlärte Kerry bei einem privaten Treffen das Offensichtliche: wenn Israel mit seiner jetzigen Politik weitermacht, wird es ein Apartheidstaat.

An dieser Feststellung ist nichts Revolutionäres. Der frühere Präsident Jimmy Carter benutzte den Ausdruck Apartheid als Titel seines Buches. In Israel nennen ihn unabhängige und linke Kommentatoren jeden Tag. Aber in Washington DC brach die Hölle los.

Der unglückselige Kerry beeilte sich, sich zu entschuldigen. Um Gottes willen, er hätte es nicht so gemeint! Der Außenminister der mächtigen USA bat das kleine Israel um Vergebung.

So wurde der Schlussakkord genauso schändlich wie das ganze Musikstück.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 03.05.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2014