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STANDPUNKT/373: In ihrem eigenen Saft (Uri Avnery)


In ihrem eigenen Saft

von Uri Avnery, 24. Mai, 2014



NACH EINEM Pressebericht hat sich Barack Obama entschieden, Benjamin Netanjahu und Mahmoud Abbas "in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen."

Das klingt fair.

Die Vereinigten Staaten haben sehr mühsam versucht, zwischen Israel und Palästina den Frieden herzustellen. Der arme John Kerry hat fast all seine enormen Energien dem Ziel gewidmet, dass beide Seiten sich treffen, miteinander reden und Kompromisse machen.

Nach neun Monaten fand er heraus, dass dies eine falsche Schwangerschaft war. Kein Baby, nicht einmal ein Fötus. Einfach nichts.

Der Ärger der amerikanischen Führung ist also durchaus berechtigt. Ärger über beide Seiten. Keiner von beiden hat irgendeine Bereitschaft gezeigt, seine Interessen zu opfern, um Obama oder Kerry einen Gefallen zu tun. Undankbar sind sie, diese Nahöstler!

Es scheint also, dass die Reaktion gerechtfertigt ist. Ihr wollt nicht, dass unsere Wünsche in Erfüllung gehen? Zur Hölle mit euch, und zwar alle beide!



DAS BEDEUTENDE WORT in diesen Sätzen ist "beide".

Doch "beide" beruht auf einer Lüge.

Wenn man sagt, dass sich "beide" nicht so verhalten, wie erwartet wurde, dass "beide" nicht die "notwendigen schweren Entscheidungen treffen," dass "beide" in ihrem eigenen Saft schmoren sollen, vermutet man bewusst oder unbewusst, dass sie gleich sind. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt.

Israel ist in jeder materiellen Hinsicht unermesslich stärker als Palästina. Der eine erinnert an einen gepflegten amerikanischen Wolkenkratzer, der andere an eine schäbige Holzhütte.

Palästina ist unter Besatzung die andere Hälfte der "beiden". Die Palästinenser sind aller menschlichen Grundrechte und aller bürgerlichen Rechte beraubt. Das durchschnittliche Einkommen in Israel ist 20 mal höher als in Palästina. Nicht 20%, sondern atemberaubende 2000%. Militärisch ist Israel eine Regionalmacht und in einigen Hinsichten sogar eine Weltmacht.

In diesem Zusammenhang von "beide" zu sprechen ist bestenfalls ignorant, schlimmstenfalls zynisch.

Die reine Präsentation dieses Bildes von "beiden" läuft darauf hinaus, das israelische Narrativ anzunehmen.



WAS BEDEUTET es für beide, im eigenen Saft zu schmoren?

Für Israel bedeutet es, dass es weiter auf arabischem Land in der besetzten Westbank neue Siedlungen bauen kann, ohne Einmischung von außen. Es kann das Leben in der Westbank und im Gazastreifen noch unerträglicher machen - in der Hoffnung, dass immer mehr Palästinenser es vorziehen, wegzugehen. Willkürliche Tötungen von Zivilisten durch Besatzungstruppen geschehen alle paar Tage.

Einigen von uns ist klar, dass dieser Kurs in eine Katastrophe führt und zwar in Form eines bi-nationalen Staates, in dem eine ständig wachsende arabischen Mehrheit, der die bürgerlichen Rechte vorenthalten werden, von einer jüdischen Minderheit regiert wird. Das wird Apartheid genannt. Aber die meisten Israelis erkennen das nicht.

Die Israelis sind glücklich und sind niemals glücklicher als in dieser Woche. Eine moderne Wiederholung der biblischen David und Goliath-Geschichte: das Tel-Aviver Makkabäer-Team schlug das außerordentliche Real Madrider-Team für die europäische Meisterschaft. Nationaler Stolz hat sich zu olympischen Höhen erhoben (in einem kindischen Wettlauf versuchten Präsident Peres und Ministerpräsident Netanjahu, das Siegesteam auf seinem Weg zum allgemeinen Empfang auf dem Rabinplatz abzufangen, um sich in seinen Ruhm zu sonnen.)

Israel kann also glücklich schmoren, umso mehr, als die USA uns weiterhin ihre jährlichen drei Milliarden Dollar Tribut zahlen, uns mit Waffen versorgen und ihr UN-Veto benutzen, um uns vor internationaler Zensur zu bewahren.
FÜR DIE palästinensische Seite von "beiden" bedeutet das "Im-eigenen-Saft-schmoren" etwas völlig anderes.

Der Versuch die Fatah-Hamas-Versöhnung zu erreichen, macht sehr langsam Fortschritte und kann jeden Moment wieder auseinanderbrechen. Es hängt davon ab, ob es Abbas gelingt, eine Einheitsregierung zu schaffen, die aus unparteiischen "Technokraten" besteht und die Hamas bereit ist, im Gazastreifen die alleinige Herrschaft aufzugeben.

Fast alle Palästinenser wünschen Einheit, aber die ideologischen Unterschiede sind groß (obgleich die Unterschiede in der Praxis jetzt viel kleiner werden). Aber selbst, wenn eine Art Einheit erreicht wird und von der internationalen Gemeinschaft gegen Israels Wunsch anerkannt wird, was können die Palästinenser denn tatsächlich ohne Gewalt tun?

Sie könnten mit Saudi-Arabiens Hilfe und der Militärjunta in Ägypten einen direkten Kontakt zwischen der Westbank und Gaza herstellen und so die israelische Blockade des Gazastreifens brechen.

Sie können sich für die Aufnahme bei einigen weiteren internationalen Agenturen bewerben und sich für weitere positive Resolutionen der UN-Generalversammlung einsetzen. Die Entscheidungen der Generalversammlung, in der die USA kein Vetorecht haben, haben jedoch nur wenig konkrete Auswirkungen.

Sie können die europäischen Länder ermutigen und die internationale BDS-Bewegung, damit der Boykott der Siedlungen oder Israels selbst verstärkt wird.

Alles zusammen nicht sehr viel. Die "Schmorperiode" wird sogar das Ungleichgewicht der Macht zwischen "beiden" Parteien vergrößern.

Wenn das "Schmoren" lang genug dauert, werden die "moderaten" Führungen von Fatah und Hamas hinweggefegt werden und die palästinensische Gewalt wird wieder ihren Kopf heben.

Schlussfolgerung: der Terminus "beide", der so fair und unparteiisch aussieht, ist in der Realität eine Politik, die 100%ig die israelische Rechte unterstützt.


WIRD DIES das anti-israelische Gefühl im Ausland stärken?

Vor zwei Wochen ließ eine US-jüdische Organisation eine Bombe platzen: In jedem Land der Welt gibt es Antisemiten: von 91% in der Westbank bis 2% in Laos (Man fragt sich, wo Laoten Juden zum Hassen finden)

Jede 5. Person auf Erden hegt antisemitische Vorurteile. Mehr als eine Milliarde Menschen!!!

Die Organisation, die so viel Geld in eine weltweite Umfrage steckt, ist die (Anti-)Diffamierungsliga. Ich setze anti in Klammen, weil ihr eigentlicher Name Diffamierungsliga sein sollte. Sie ist so etwas wie eine Gedanken-Polizei in den Händen des rechts gerichteten amerikanischen jüdischen Establishments.

(Vor vielen Jahren - als ich ein Knesset-Mitglied war - wurde ich eingeladen, an 20 erstklassigen amerikanischen Universitäten Vorträge zu halten. Die Gastgeber waren die jüdischen Campus-Rabbiner, die zum Bnei Brit (Beit Hillel)-Orden gehören. Im letzten Augenblick wurden 19 Vorträge abgesagt. In einem geheimen Brief hatte die Diffamierungsliga den Geistlichen mitgeteilt: "Zwar kann man das Knesset-Mitglied Uri Avnery nicht direkt einen Verräter nennen..." etc.etc. Am Ende hielt ich alle Vorträge unter der Schirmherrschaft christlicher Campus-Geistlichen.)

Die Veröffentlichung der verheerenden Ergebnisse der Volksbefragung fördert eine seltsame Tatsache zutage: Nachrichten über die Zunahme des Antisemitismus wird von vielen Juden mit so etwas Eigenartigem wie Freude aufgenommen.

Ich habe mich oft über dieses Phänomen gewundert. Für Zionisten ist die Antwort einfach: die Termini Antisemitismus und Zionismus sind wie siamesische Zwillinge zur selben Zeit geboren. Antisemitismus hat Juden immer nach Israel getrieben und tut es noch (in letzter Zeit aus Frankreich).

Für andere Juden ist die Quelle der Freude weniger offensichtlich. Juden in Europa sind seit langer Zeit von Antisemiten umgeben gewesen, so dass es normal war, sie zu sehen. Sie immer wieder zu sehen, gibt den Juden ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit.

Und da sind natürlich die unzähligen Angestellten der Liga und anderer jüdischen Organisationen, deren Lebensunterhalt darin besteht, Antisemiten zu entlarven.

Die Interpretation der Volksbefragung selbst ist natürlich vollkommener Quatsch. Leute, die Bedenken über Israels Politik äußerten, werden als Antisemiten aufgelistet. Deshalb sind alle Bewohner der besetzten Gebiete, die ihre Besatzer nicht lieben, Antisemiten. Muslime im Allgemeinen, die Israel in negativem Licht sehen, sind natürlich Rassisten. Eine ähnliche Volksbefragung über antirussischen Rassismus mag jetzt in der Ukraine dasselbe Ergebnis haben.


EINE ÄHNLICHE Initiative ist der Kongress der Internationalen Vereinigung der jüdischen Juristen und Anwälte.

Jüdische Juristen klingt fast wie Tautologie. Jede jüdische Mutter möchte sich gerne mit "mein Sohn, der Doktor" oder "Mein Sohn, der Anwalt" rühmen. In den USA und vielen anderen Ländern scheinen jüdische Anwälte und Richter in der Mehrheit zu sein.

Dieses Treffen hat ein besonderes Ziel: Die UN zu überzeugen, die UNRWA, die UN-Agentur, die sich um die palästinensischen Flüchtlingen kümmert, abzuschaffen. Sie wurde nach dem 48er-Krieg geschaffen, in dessen Verlauf etwa 750.000 Palästinenser flohen oder aus dem Gebiet vertrieben wurden, das Israel wurde. Sie und ihre Nachkommen, die auch als Flüchtlinge anerkannt sind, sind jetzt auf etwa 6-7 Millionen angestiegen.

Die UNRWA ernährt diese Flüchtlinge, schützt sie und hat Schulen für sie. Es stimmt, dass es eine einzigartige Institution ist, die das schlechte Gewissen der UN ausdrückt. Es scheint, dass Flüchtlinge von keinem anderen Land solch eine spezifische Organisation haben, die für sie sorgt.

Jetzt werden die jüdischen Juristen einen Angriff vorbereiten, der direkt von Israel geleitet wird, um diese Organisation im Ganzen abzuschaffen. Ich vermute, das Ziel ist, die palästinensischen Flüchtlingslager aufzulösen, die in verschiedenen Ländern rund um Israel bestehen - Sabra und Shatila fallen mir gerade ein - und die Flüchtlinge über den ganzen Planeten zu verteilen, wo sie der Netanjahu-Regierung weniger Kopfschmerzen bereiten werden.


ALL DIES im Namen der Fairness und Gleichheit. Israelis und Palästinenser können "beide" in ihrem eigenen Saft schmoren.

Allerdings in sehr unterschiedlichen Säften.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 24.05.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2014