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STANDPUNKT/382: Faschisten in ukrainischer Regierung - Bankrotterklärung der europäischen Idee? (Tobias Baumann)


Faschisten in ukrainischer Regierung - Bankrotterklärung der europäischen Idee?

von Tobias Baumann, 15. Juli 2014



Wer ist zurzeit konfrontationsfreudig? Die Russische Föderation, die gegenüber der bellizistischen Praxis der NATO ein integriertes Warn- und Raketenabwehrsystem für ganz Europa vorschlug? Oder Paris, das in Mali und Zentralafrika erneut neokolonial europäische Interessen "verteidigt"?[1] Und die USA sowie ihre NATO-Partner, die Irak, Syrien, Afghanistan und zunehmend auch die Militär-Marionettenregierung in Pakistan in hochgerüstete und instabile Brandherde verwandeln und Drang nach Osten 2.0 auflegen?

Auf dem europäischen Parkett pflegten die westlichen Regierungen Moskau - trotz seiner formellen Integration in die kapitalistische "internationale Gemeinschaft" während der 1990er Jahre - zum Klappstuhlgast zu degradieren: In der vergangenen Dekade entzog der Europarat in Strasbourg Russland bereits einmal das Stimmrecht[2], dies wiederholte sich im vergangenen April wegen der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation[3]. Asymmetrische Vergleiche wie etwa des tschechischen konservativen Politikers Karel Schwarzenberg, dass Putin auf der Krim eine ethnische Minderheitenpolitik wie Hitler Ende der 1930er Jahre fahren würde, täuschen über die sicherheits- und geostrategische Einkreisungspolitik der NATO gegenüber der russischen Interessenssphäre hinweg. Im Übrigen ist die ethnizistisch-sezessionistische Politik der BRD sowie der USA in Mitteleuropa ungleich kriegerischer (Kosovo-Angriffskrieg 1999) und zugleich unter Ausnutzung aller religiöser Identitäten des Balkan dient dies einer NATO-Neuordnungspolitik: pro muslimische Kosovaren und katholische Kroaten (Bsp. Srpska Krajina 2005!) contra orthodoxe Serben, die als ewiger Bundesgenosse Moskaus bereits vor dem Ersten Weltkrieg sowie während der beiden Weltkriege Dorn im deutsch-österreichischen Auge waren.

Diplomatische Aggressionen des NATO-EU-Blocks gegen Russland starteten zudem 2008: Georgien, von Brüssel und Washington unterstützt, beschoss zuerst die Hauptstadt Südossetiens mit Artillerie und startete dann eine Bodenoffensive. Tiflis musste, um NATO-Mitglied zu werden, die ungeklärten Territorialfragen bezüglich der unabhängigen Republiken Südossetien und Abchasien (von Georgien freilich nicht als unabhängig anerkannt) klären, da laut Statut kein Land mit offenen Territorialkonflikten dem transatlantischen Bündnis beitreten darf. Doch Moskau reagierte rechtzeitig.

Russland bemüht sich international, die Entstehung eines eskalierenden Flächenbrands am südlichen Rand seiner traditionellen Einflusssphäre zu verhindern, und stellt nicht nur ein Gegengewicht zu den ungehaltenen Kapitalinteressen des Westens dar, die in Krisenzeiten beschleunigt neue Expansionsmärkte erschließen wollen. Moskau hat auch ein ganz materielles Interesse an wirtschaftlicher und politischer regionaler Kooperation: Die neue "Seidenstraße", jener so in den chinesischen Medien genannte Hochgeschwindigkeitsgüterzug, der seit Kurzem Duisburg (größter Binnenhafen Europas) mit Südost-China verbindet, wird mittelfristig die Wirtschaftsblöcke EU-Asien, insbesondere die Exportgrößen Deutschland und China, aber auch die anderen verbundenen Märkte wie Russland näher zusammenschweißen, zugleich die US-Dominanz (traditionell qua militärischer Kontrolle der strategischen Meereshandelsrouten) begrenzen. Die USA scheinen diese begonnene Annäherung über den Streitapfel Ukraine abbremsen zu wünschen, um eine Achse Berlin-Moskau-Peking zu vereiteln.


Cui bono?

Der Machtwechsel in Kiew war nicht legal, denn die 238 ukrainischen Abgeordneten, die den ehemaligen Präsidenten seines Amtes enthoben, entsprachen nicht den verfassungsrechtlich erforderlichen 75% der Parlamentarier, sodass es sich um einen rechtswidrigen Coup d'État handelte. Für den großen ukrainischen Revolutionär Machno und seine Bewegung vor 100 Jahren wäre es posthum eine Beleidigung, sie in eine Reihe mit den Ereignissen der letzten Monate, scheinbar revolutionärer Natur, zu stellen.

Eine Teilverantwortung für den Putsch in Kiew tragen die Konrad-Adenauer-Stiftung (die Vitali Klitschkos Partei seit 2010 finanzierte, welcher heute Bürgermeister Kiews ist... [4]) und die USA, die seit Reaggan mit Bandera-Faschisten [5] in der Ukraine in Verbindung stehen. Darüber hinaus gibt es keinen Zweifel, dass der Putsch von Washington gesponsert wurde, wie das geleakte Telefongespräch zwischen der Vize-Außenministerin Victoria Nuland und US-Botschafter Geoffrey R. Pyatt sehr beredt belegt.

Für die weitere EU-Expansion nach Osten (seit den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 sowie der Östlichen Partnerschaft mit Georgien, Armenien und der Ukraine dieses Jahres[6]) und damit die Beherrschung der eurasischen Sphäre braucht das euro-atlantische Reich im gaslieferungsrelevanten Schwarzen Meer einen Fuß in der Tür (Gas aus Turkmenistan und Sibirien wird hierüber nach Bulgarien und Rumänien geleitet).

Berlin, Paris und Warschau haben den Coup d'État in den entscheidenden Tagen der letzten Phase Mitte bis Ende Februar vor dem Umsturz diplomatisch begleitet und den Übergang Kiews aus einem engen Moskau-Bündnis in ein West-Bündnis außenpolitisch abgesichert. Die Übereinkunft vom 21. Februar 2014 ist ein chef d'oeuvre der neuen konzertierten Diplomatie des entstehenden deutsch-europäischen Reichs, das dem US-Hegemon wie schon der EGKS- und anschließend EG-Gründungsphase 1950-57 systematisch sekundiert. Dieser gezielte Beistand des EU-Blocks für die US-Interessen spiegelt sich auch in der gegenwärtigen Spionage-Affäre in Berlin wider, wo die Bundesregierung lediglich mit einer zaghaften Einladung statt Vorladung des US-Botschafters sowie anschließend mit einer debilen Ausreiseaufforderung statt formeller Ausweisung des Geheimdienstdiplomaten reagierte (zur Persona non grata erklären kann man eben niemals jemanden, dem man strukturell zuarbeitet, das ist nur folgerichtig!). Die US-Militär- und -Spionagebasen auf dem Bundesgebiet sind eben nicht nur Beamtenbüros, sondern souveräne Einrichtungen, sie führen auch polizeilich-hoheitsrechtliche Maßnahmen in der BRD durch. Dies unterstreicht die andauernd mangelhafte Souveränität der BRD.

Über die Krim, die sich erst selbstbestimmt vom putschistischen Kiew lossagte und sich erst dann dem russischen Volk anschloss[7], ist wiederum nichts hinzuzufügen bis auf eine völkerrechtliche Tatsache, die oft ungenannt bleibt: Seit vierzig Jahren hat die UNO das "uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht, wie es seit 1966 kodifziert ist", aufgewertet, sodass es als Sezessionsrecht zum "zentrale[n] Rechtssatz des Völkerrechts" avancierte.[8] Da, wo es dem hegemonialen Staatenblock passt, wird aus einer sezessionistischen Bewegung schnell ein Staat wie vor einigen Jahren auf dem Balkan und später im Südsudan (ein maßgeblich von den USA und Berlin vorangetriebenes separatistisches Projekt) geschehen, das wenig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu tun hatte.

Für die internationalen Interessen der Arbeiterklasse hingegen kann es nur gelten, diesen ukrainischen Testlauf für eine seit dem Maastricht-Vertrag kodifizierte EU-Außenpolitik entschieden abzuwehren, und jede Form des Widerstands gegen die faschistoide Exekutive in der Ukraine, ebenso wie in der völkischen Regierung in Budapest, nach Kräften zu unterstützen. Will die Revolution leben, so muss der Faschismus sterben.


Anmerkungen

[1] Die französische Grande Bourgeoisie, die erfolgreich ihre massive Verstrickung in NS-Kooperation vor und nach 1940 zu verdecken weiß, startet immer größere neokoloniale Abenteuer. In Frankreich ist z.B. bis heute der Kollaborateur Louis Renault, der den Nazis Panzer lieferte, von seiner historischen Schuld reingewaschen in hegemonialen Veröffentlichungen und Medien (vgl. Prof. Dr. Annie Lacroix-Riz).

[2] Das 1949 lancierte Menschenrechtsbündnis mit eigenem internationalen Gerichtshof, dem auch Länder wie die Türkei (Gründungsmitglied) sowie Armenien, Georgien und Aserbaidschan (dessen autoritäres Regime erst kürzlich wieder in flagranter Missachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention von jeglichem Verdacht systematischer Menschenrechtsverletzungen durch den Europarat rein gewaschen wurde, aus interessenpolitischen Gründen, wie die FAZ mutmaßte) angehören.

[3] "Die russische Delegation hatte die Debatte über die Sanktionen boykottiert. Delegationsleiter Alexej Puschkow, Chef des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma (russisches Unterhaus), bezeichnete die Diskussion als eine 'politische Farce, die nur Abscheu hervorrufen kann'."
Vgl. http://de.ria.ru/politics/20140410/268245911.html

[4] Die Kooperation Klitschkos mit Swoboda machte diese salonfähig wie auch u.a. die SZ berichtete. Nicht zuletzt posierten auch die EU-Außenbeauftragte Ashton und Außenminister Steinmeier (eigens in der Botschaft der BRD in Kiew!) neben dem Swoboda-Führer Oleg Tiagnibok. Ein weiteres Indiz für die geschichtsträchtige deutsch-europäische, pro-faschistische Außenpolitik in der Ukraine, historisch und politisch nur vergleichbar mit den Auftritten der US-Exekutive nebst eingesetzten bzw. herbeigeputschten diktatorischen Statthalter- sowie Kompradorenbourgeoisieregierungen in Lateinamerika in den 1940er bis 80er Jahren.

[5] Zu den verschiedenen Formen des Faschismus und faschistischer Bewegungen, die in fast allen demokratischen Ländern latent bestehen und, auch wenn sie an die Macht kommen, unterschiedlich starke Ausprägungen annehmen je nach Kräfteverhältnissen etc., vgl. Robert O. Paxton, "Anatomie des Faschismus" u.a.

[6] Das Assoziierungsabkommen mit den drei Ländern der Östlichen Partnerschaft wurde kürzlich erfolgreich unterzeichnet und u.a. in Berlin gemeinsam mit der Europäischen Kommission und den drei Botschaften im Rahmen eines feierlichen Empfangs zelebriert. Die EU-Exekutive hat definitiv den Jörg Hayder-Komplex der 1990er Jahre abgelegt und schwenkt auf eine zunehmend offene Kooperation mit völkischen (Ungarn seit 2010) und faschistoiden (Kiew 2014) Regierungen ein.

[7] Vgl. Aufsatz von Prof. Dr. Hermann Klenner:
http://www.jungewelt.de/2014/06-16/022.php

[8] Vgl. Jörg Fisch, "Das Selbsbestimmungsrecht der Völker - die Domestizierung einer Illusion", C.H. Beck, 2008, S. 53 f. Der Autor wendet ein, dass das Sezessionsrecht in der UNO zum "obersten Menschenrecht erhoben worden" sei. Ebd.

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Quelle:
© 2014 by Tobias Baumann
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014