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STANDPUNKT/397: Israels Rechte auf dem Vormarsch (Annette Groth)


Israels Rechte auf dem Vormarsch

von Annette Groth,
menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag

Oktober 2014



Am 15. Juli 2014, mitten im jüngsten Gaza-Krieg, der über 2.100 Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben gekostet hat, in dem rund 11.000 Menschen verletzt und unzählige obdachlos wurden, veröffentlichte der stellvertretende Sprecher der Knesset, Moshe Feighlin, seinen "Plan" für den Gazastreifen: Netanjahu solle zunächst eine Warnung an die "feindliche Bevölkerung" aussprechen und alle Zivilistinnen und Zivilisten auffordern, das Gebiet zu verlassen. Sie könnten sich in den Sinai begeben. Die Hamas habe die Möglichkeit, sich sofort zu ergeben und damit den bevorstehenden Angriff zu verhindern. Dann solle die israelische Armee mit ihrer gesamten Kraft den Gazastreifen angreifen und zugleich eine "absolute Blockade" über das Gebiet verhängen. Der Gazastreifen solle eingenommen und zu einem Teil Israels werden. So könne im Übrigen auch der Mangel an israelischen Wohnungen behoben werden. Diejenigen Zivilist_innen, die akzeptierten, dass Israel ein jüdischer Staat sei und in ihm leben wollten, würden die israelische Staatsangehörigkeit zuerkannt bekommen. Solche erschreckenden Äußerungen sind nicht lediglich eine Einzelstimme, die man vielleicht vernachlässigen oder ignorieren könnte: Einen Tag, bevor der palästinensische Teenager Muhammad Abu Khudair als Rache für die Entführung und Ermordung dreier israelischer Teenager gekidnappt und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, schrieb Ayelet Shaked, eine Knesset-Abgeordnete der ultranationalistischen Partei "HaBajit haJehudi" (Jüdisches Heim), auf Facebook, die gesamte palästinensische Bevölkerung sei als feindlich einzustufen und auch palästinensische Mütter sollten getötet werden, da sie "kleine Schlangen zur Welt bringen" würden. Dieser Eintrag wurde mehr als tausend Mal geteilt und erhielt fast 5.000 "Likes"!

Trotz der beunruhigenden Rechtswendung der israelischen Bevölkerung, die in großer Mehrheit den Krieg gegen Gaza befürwortet hat, gibt es weiter überzeugte Friedens- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die gegen die menschenrechtsverletzenden Praktiken der israelischen Streitkräfte und der israelischen Regierung protestieren. Die während des Gaza-Krieges abgehaltenen Demonstrationen der Friedensbewegung in Tel Aviv und anderswo in Israel sind mehrfach gewaltsam angegriffen worden. Es ist bewundernswert, dass diese Menschen auf die Straße gehen und zeigen, dass sie mit der Politik ihrer Regierung nicht einverstanden sind, obwohl sie sich mit diesen Protesten einer massiven physischen Gefahr aussetzen. Aber diese Israelis und israelischen Palästinenserinnen und Palästinenser fühlen sich verpflichtet, gegen die gefährliche Entwicklung ihrer Gesellschaft, in der rassistische und reaktionäre Äußerungen und Taten immer hoffähiger werden, vorzugehen. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass der immer präsente Konflikt, ja Kriegszustand, in dem sich sowohl die israelische als auch die palästinensische Bevölkerung permanent befinden, seine Auswirkungen zeigt.

Es sind nicht nur Äußerungen wie die von Feighlin oder Shaked, die eine Gefahr für die israelische Gesellschaft und ihre Ausrichtung darstellen. Die Initiative von Premierminister Netanjahu, die anerkannte Definition Israels als "demokratischer jüdischer Staat" in "Nationalstaat des jüdischen Volkes" zu ändern, würde die Ungleichbehandlung insbesondere von Palästinenserinnen und Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft, aber auch von anderen Nicht-Juden, verschärfen. Auch die Anfeindungen gegen Journalistinnen und Journalisten sowie gegen Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die ihre Stimme erheben und Verstöße gegen das Völkerrecht seitens der israelischen Regierung anprangern, würden wohl weiter zunehmen. Ebenso zeugt die Tatsache, dass Netanjahu genau wie mehrere Mitglieder seines Kabinetts sofort nach der Einigung zwischen Fatah und Hamas auf eine gemeinsame Regierung ankündigte, diese um jeden Preis zerschlagen zu wollen, in keinster Weise von der Friedensbereitschaft der israelischen Regierung. Zeitgleich mit dieser Ankündigung wurden dann auch die Friedensgespräche abgebrochen.

Faktisch alle israelischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben jedweden echten Kompromiss mit den Palästinenserinnen und Palästinensern verweigert. Selbst die von den USA, dem wichtigsten Bündnispartner Israels, initiierten und geleiteten Friedensgespräche wurden konsequent sabotiert und letztlich einseitig abgebrochen. Die rechtsgerichteten Koalitionspartner Netanjahus haben selbst während der Friedensgespräche immer neue Enteignungen und die Fortführung des Siedlungsbaus durchgesetzt und damit die Gespräche zu einer Farce gemacht. Die Rechte und extreme Rechte in Israel nimmt inzwischen noch nicht einmal mehr ein Blatt vor den Mund und fordert lauthals die Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete. Die immer unverblümter betriebene Dämonisierung der gesamten palästinensischen Bevölkerung und solche Forderungen ermöglichen erst, dass das Vorgehen der israelischen Armee in der Westbank und vor allem im Gazastreifen von großen Teilen der israelischen Bevölkerung für gut empfunden oder gar noch nach einer Intensivierung gerufen wird. Ein Vorgehen, das in vielerlei Hinsicht gegen internationales Recht verstößt, wie auch die Vereinten Nationen immer wieder feststellen. Besonders eklatant zeigt sich das an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen, wo die israelische Armee wie schon 2006 im Libanon und 2009 im Gazastreifen DIME-Munition (Dense Inert Metal Explosive) eingesetzt hat. Diese Waffen enthalten eine Mischung aus Sprengstoff, Kobalt, Nickel, Eisen und Wolfram und verursachen schwerste Verletzungen. Es gibt Berichte über Fälle aus Gaza, bei denen ganze Körper in zwei Hälften zerschnitten wurden.

Letztlich führt die israelische Regierung tagtäglich Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung und hält sich in vielerlei Hinsicht nicht an das Völkerrecht. Der israelische Siedlungsbau und die damit verbundenen Landenteignungen sind genauso illegal wie die massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenserinnen und Palästinenser, die Behinderung ihrer Wirtschaft, die massenhafte Inhaftierung von Menschen aus politischen Gründen und die Blockade des Gazastreifens, die seit 2007 anhält und unermessliches Leid in der Zivilbevölkerung verursacht.

Verantwortlich dafür, dass sich reaktionäre und auch rassistische Strömungen in der israelischen Gesellschaft immer weiter ausbreiten und festsetzen können, ist aber nicht zuletzt auch die internationale Gemeinschaft mit ihrer im Großen und Ganzen immer noch bedingungslosen Unterstützung der israelischen Regierung, der faktisch ein Freifahrtschein ausgestellt wird: Bereits im Jahr 2006 wurden während der israelischen "Operation Summer Rains" 420 Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen getötet. 2008/9 starben 1.417 Palästinenserinnen und Palästinenser während "Cast Lead" und im Jahr 2012 kamen 165 Menschen ums Leben. Für keinen dieser Angriffe, bei denen jedes Mal in erster Linie Zivilistinnen und Zivilisten ihr Leben verloren haben, wurden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Die Bundesregierung hat bis heute keine ernstzunehmenden Schritte unternommen, um den bereits im Juli 2010 einstimmig gefassten Beschluss des Bundestags, dass die Blockade des Gazastreifens aufgehoben werden muss, umzusetzen. Und dies, obwohl wir wissen, dass im Gazastreifen weder ausreichend Strom, noch Nahrungsmittel, Medikamente und medizinisches Gerät vorhanden sind.

Der Gazastreifen wird im Jahr 2020 praktisch nicht mehr bewohnbar sein. Das Wasser wird nicht mehr trinkbar sein und es wird auch keine Möglichkeit mehr geben, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Bereits heute breiten sich Seuchen aus, weil im jüngsten Gaza-Krieg die Wasserversorgungsnetze mehrfach bombardiert und teilweise zerstört wurden und dadurch noch weniger Trinkwasser zur Verfügung steht als dies vor dem Krieg ohnehin der Fall war. Die Bundesregierung nimmt diese Entwicklungen - abgesehen von halbherzigen Interventionen - einfach hin. Noch während des Gaza-Krieges wurde bekannt, dass Bundeswehrsoldaten in Israel im Tunnelkampf trainiert werden sollen und erst im Juni wurde ein weiteres deutsches U-Boot an Israel übergeben. Es ist das bislang größte, das überhaupt in Deutschland gebaut worden ist. Die Bundesregierung übernimmt gut ein Drittel der Baukosten für dieses Boot - genau wie für alle bisherigen und für zwei weitere U-Boote, die 2015 und 2017 an Israel ausgeliefert werden sollen. Kann ausgeschlossen werden, dass Raketen auf Gaza auch von deutschen U-Booten abgeschossen wurden?

Die Kritik an der israelischen Regierung und ihrer Politik nimmt zu. Bischof Tutu fordert einen umfassenden Boykott Israels. Eine Forderung, die inzwischen von etlichen europäischen und US-amerikanischen Organisationen und auch von einigen Gewerkschaften erhoben wird.

Verschwiegen wurde in vielen deutschen Medien der Aufschrei von über 300 Überlebenden des Holocaust und ihrer Nachkommen in einer Anzeige der New York Times am 23.8. Sie verurteilen darin "das Massaker an den Palästinensern" und prangern die USA und andere westliche Staaten an, durch ihre Finanzhilfen die Angriffe Israels erst zu ermöglichen. Zudem kritisieren sie, dass die USA und die westlichen Staaten auf diplomatischer Ebene Israel von internationaler Kritik abschirmen. Die israelische Journalistin Amira Hass prangert in ihrem ausgezeichneten Artikel "Grünes Licht aus Europa" vom 11.8. in der israelischen Zeitung Haaretz die Kollaboration Deutschlands mit Israel an: "Mit seinem fortgesetzten Schweigen kollaboriert das offizielle Deutschland mit Israel auf dessen gegen das palästinensische Volk in Gaza gerichteten Reise von Zerstörung und Tod. Deutschland ist nicht allein. Österreichs Schweigen ist ebenfalls ohrenbetäubend." Der äußerst lesenswerte Artikel endet so: "Wenn die Sicherheit der Juden im Nahen Osten von echtem Interesse für die europäischen Länder wäre, vor allem für Deutschland und Österreich, dann würden sie nicht fortfahren, die israelische Besatzung zu subventionieren. Sie würden Israel kein permanentes grünes Licht zum Töten und Zerstören geben." Ich wünschte mir, dass solche kritischen Stimmen aus Israel und aus den USA bei uns mehr Aufmerksamkeit erhielten.

Auch der Bundesregierung würde es sehr gut zu Gesichte stehen, dieses Israel, das Israel der Amira Hass, des Gideon Levy und der vielen israelischen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger zu stärken und zu unterstützen. Denn es ist dieses Israel, das zunehmend von reaktionären Kräften bedroht wird.

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Quelle:
© 2014 by Annette Groth, MdB
Menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: +49 30 227-77210, Fax: +49 30 227-76207
E-Mail: annette.groth@bundestag.de
Internet: www.linksfraktion.de
mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2014