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STANDPUNKT/398: Muhammad, wo bist du? (Uri Avnery)


Muhammad, wo bist du?

von Uri Avnery, 25. Oktober 2014



ES KLINGT wie ein Witz. Ist aber keiner.

Vor etwa einem Monat, am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes, veröffentlichte das statistische Büro der Regierung eine Reihe interessanter Einzelheiten über die Bevölkerung des Staates. Es war als Geschenk für die Bürger gedacht. Die Bevölkerung wächst, sie wird reicher und ist zufrieden.

Einer der Punkte listet die populärsten Namen auf, die im letzten Jahr den neugeborenen Jungs und Mädchen gegeben wurden.

Als die Statistiker die Ergebnisse sahen, waren sie entgeistert. Es stellte sich heraus, dass der Name, der den ersten Platz auf der Liste belegte, Muhammad war.

Muhammad? Der volkstümlichste Name im jüdischen Staat?

Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Araber stellen mehr als 20% der Bevölkerung dar. Arabische Eltern lieben es, ihren Söhnen den Namen des Propheten zu geben, Gott segne seine Seele. Außerdem haben arabische Bürger viel mehr Kinder als jüdische Bürger. Wenn jeder zweite arabische Junge Muhammad genannt wird, sind das im Prinzip 5%.

Jüdische Bürger haben eine größere Auswahl. Es gibt Hunderte Namen für Jungs und die Liste wächst ständig, weil junge Eltern gerne neue hebräische Namen erfinden. Selbst wenn ein Zehntel der jüdischen Eltern den Namen Josef bevorzugt, der nach der Liste der beliebteste hebräische Name ist, kommt man auf nur 4%.

Was tun? Sehr einfach: man streicht die arabischen Namen weg. Keinen Muhammad.

Als dies bekannt wurde, lachten viele Israelis. Wie albern kann man werden.


ABER ES ist kein Witz. Es zeigt, dass die arabischen Bürger nicht als wirklich "dazugehörig" angesehen werden. 66 Jahre nach der Gründung Israels bleibt der Platz der Araber im "Jüdischen Staat" gelinde gesagt problematisch.

Als ich letzten Dienstag Haaretz las, merkte ich, dass eine ganze Seite - Seite 4 - sich nur mit Nachrichten über die jüdisch-arabischen Beziehungen befasste.

Punkt 1: Zig jüdische Siedler drangen mitten in der Nacht in das arabische Viertel von Silwan, das Viertel neben dem Tempelberg, ein. Silwan, das biblische Siloah, ist ein arabisches Dorf, das an Jerusalem angeschlossen wurde, als Ost-Jerusalem nach dem Sechs-Tage-Krieg von Israel annektiert wurde. Seit Jahren hat eine Siedlervereinigung mit Namen "Elad" diesen Stadtteil zu judaisieren versucht, indem sie im Geheimen mit Hilfe arabischer Verräter als Strohmänner den Besitz armer Araber kauft. Nun entschied die Vereinigung, diese Häuser zu besetzen, indem sie wie Diebe in der Nacht kamen.

(Der Präsident von Elad ist Elie Wiesel, der Holocaustschriftsteller und Nobelpreisträger. Ich rühme mich, ihn vom ersten Anblick an verabscheut zu haben, und erfand ein neues hebräisches Wort für ihn. Übersetzt heißt es etwa "Holocaustist")

Punkt 2: Es kam irgendwie heraus, dass die zentrale Bauorganisation der Siedler, die von der Regierung stark subventioniert wird, einer Gruppe mit dem Namen "Wenn ihr wollt" riesige Summen spendet. Sie hat sich darauf spezialisiert, in den Universitäten und an anderen Orten linke Dozenten aufzuspüren.

Die Gruppe hat ein Stasi-ähnliches System von Informanten aufgebaut und behauptet, "zionistische Werte in Israel zu fördern", indem sie Dozenten denunziert, die gleiche Rechte für Araber und dergleichen fordern.

Punkt 3: Prof.em. Hillel Weiss, der noch immer Vorlesungen an der Bar-Ilan-Universität hält, veröffentlichte auf Facebook einen Aufruf zum Völkermord an den Palästinensern. "Da sie kein Volk sind, würde das keinen Völkermord darstellen", behauptet er, "sondern nur die Ausrottung von Gesindel." Er riet den Palästinensern, Eretz Israel sofort zu verlassen (das Land bis zum Jordan), bevor der unvermeidliche Völkermord geschehe.

Die Bar Ilan-Universität - man erinnere sich daran - ist die Alma Mater von Yigal Amir, dem Mörder von Yitzhak Rabin.

Punkt 4: Außenminister Avigdor Lieberman forderte, Hanin Zuabi "für viele Jahre ins Gefängnis zu stecken."

Zuabi, ein weibliches Mitglied der Knesset, das zu einer kleinen nationalistischen arabischen Fraktion gehört, liebt es, sich äußerst provokativ auszudrücken. Letztens sagte sie, es gäbe keinen Unterschied zwischen einem ISIS-Kämpfer, der einzelne Menschen köpft, und einem israelischen Piloten, der auf Knopfdruck viele Palästinenser tötet.

Lieberman sagte zu Zuabi, sie solle nach Gaza gehen und dort leben. Er sagte ihr voraus, dass sie "als unverheiratete Frau, die sich kleidet, wie es ihr gefällt (also modern)", unter der Hamas zu leiden hätte. Er verlangte auch, dass man ihr die israelische Staatsangehörigkeit entziehe.

Punkt 5: Das betrifft die Araber nicht direkt, aber es stellt allerschlimmsten Rassismus dar. Der israelische Gerichtshof, der als Verfassungsgericht agiert (obwohl Israel keine Verfassung hat, nur ein paar "grundlegende Gesetze"), hat der Regierung befohlen, sofort das "offene" Gefängnis zu schließen, das für afrikanische Asylsuchende mitten in der Wüste gebaut wurde. Sie werden dort unbegrenzt ohne Gerichtsurteil festgehalten, bis sie damit einverstanden sind, Israel "freiwillig" zu verlassen.

Die Regierung weigerte sich strickt, dem Befehl zu gehorchen - etwas ganz Ungewöhnliches. Sie ist gerade dabei, ein neues Gesetz zu erlassen, das 61 (von 120) Knesset-Mitgliedern erlaubt, Entscheidungen des Obersten Gerichtes abzulehnen.


ISRAEL RÜHMT SICH, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein.

Diese willkürlich herausgegriffenen Punkte und jene, die an irgendeinem anderen Tag veröffentlicht werden, wecken einigen Zweifel an dieser Behauptung.

Natürlich steht Israel mit seinem Umgang mit nationalen Minderheiten nicht allein und ist darin auch nicht einmal das schlimmste Land. Fast jeder Staat in der Welt hat eine oder mehr nationale Minderheiten, und fast jede nationale Minderheit hat einen Grund, sich zu beklagen. Man muss nur an die Kurden in Syrien, die Russischsprachigen in der Ukraine oder die Tamilen in Sri Lanka denken, um Verständnis für die Proportion zu bekommen.

Ich würde annehmen, dass bei jeder vorurteilsfreien weltweiten Untersuchung des Status von Minderheiten Israel irgendwo in der Mitte liegt.

Ich vermute, dass die Position jeder Minderheit einzigartig ist, abhängig von der Geschichte und lokalen Umständen. Bei der Position der arabischen Minderheit in Israel ist es sicherlich so.

Zunächst einmal waren sie - wie die Aborigines in Australien und die Inuit in Kanada - lange vor der jetzigen Mehrheit hier. Der Fall von Zuabi-Lieberman ist ein typisches Beispiel.

Die Familie von Hanin Zuabi ist seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden in Untergaliäa zu Hause. Nach der Gründung Israels ist Saif al-Din Zuabi Mitglied der zionistischen Arbeiterpartei gewesen und stellvertretender Sprecher der Knesset. Ein anderer Verwandter ist Abd-al-Rachman Zuabi ein Richter am Obersten Gericht gewesen. Abd-al-Aziz Zuabi, ein Knesset Mitglied der zionistischen Mapam-Partei (jetzt Meretz) war stellvertretender Minister.

Liebermans ursprünglicher erster Vorname ist Evet. Er wurde in Kishinev in Sowjetmoldawien geboren, und seine Muttersprache ist Jiddisch. Obwohl er schon 1978 nach Israel kam, wird er noch immer als "Neueinwanderer" angesehen und spricht Hebräisch mit deutlich russischem Akzent. Von den beiden spricht Hanin Zuabi wohl ein besseres Hebräisch.

Es war Abd-al-Aziz, der den Satz prägte: "Meine Tragödie ist die, dass sich mein Land im Krieg befindet mit meinem Volk."

Das ist die zweite Anomalie: Die "israelischen Araber" sind ein integraler Teil des palästinensischen Volkes. Fast jeder israelisch-arabische Bürger hat Verwandte in der Westbank oder im Gazastreifen oder in beidem, wie auch in den Flüchtlingslagern.

Wenn aktuelle Kämpfe im Gange sind wie beim letzten Gazakrieg, sind ihre Herzen auf der anderen Seite, auf der des "Feindes". In diesem Augenblick kämpfen mehrere junge israelisch-arabische Bürger auf Seiten von ISIS, nachdem sie über die Türkei nach Syrien kamen.


WIE DER Zuabi-Familienstammbaum zeigt, gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Arabische Bürger sind tief verwoben in der Struktur Israels.

Ich frage mich oft, was geschehen würde, wenn der Wunschgedanke Liebermans (und anderer seiner Art in aller Welt) sich erfüllen, und die Minderheit das Land verlassen würde.

Wir wissen es aus der Geschichte. Als die französischen Hugenotten aus Frankreich vertrieben wurden, flohen viele von ihnen in den jungen preußischen Staat. Das rückständige Berlin wurde zu einem wirtschaftlichen Zentrum und Preußen erblühte, während Frankreich geschwächt wurde. Dasselbe - aber sogar noch mehr - geschah in Spanien nach der Vertreibung der Juden und Muslime. Spanien war niemals wieder dasselbe, und das Osmanische Reich, das die meisten mit Freude aufnahm, wurde bereichert.

Israels arabische Bürger dienen nicht in der Armee. Sie wollen nicht gegen ihre palästinensischen Brüder kämpfen, noch will die Armee sie trainieren und ihnen Waffen geben, Gott bewahre! (Allerdings würde die Armee zur Zeit gern die christlichen Araber, eine Minderheit der Minderheit, einziehen, um noch eine Spaltung hervorzurufen. Einige Araber, meistens Beduinen und Drusen, dienen im Militär.)

Aber abgesehen vom Armee-Dienst erfüllen arabische Bürger alle Pflichten eines Bürgers. Sie zahlen ihre Steuern. Der Mehrwertsteuer und anderen indirekten Steuern, die einen großen Teil des Regierungseinkommens ausmachen, können sie nicht entgehen. Sie erfüllen viele Aufgaben.

Tatsächlich sind die Araber weit mehr in die israelische Gesellschaft eingebettet als viele von ihnen gerne zugeben. Sie sind Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Richter, Künstler. Als ich meine inzwischen verstorbene Frau ins Krankenhaus brachte, dauerte es mehrere Tage, bis mir klar wurde, dass der Oberarzt der Abteilung ein Araber war.

Alle arabischen Bürger lernen Hebräisch und sprechen es gut, während unser Armeegeheimdienst lange suchen muss, bis er einen Juden findet, der arabisch spricht.

Das persönliche Einkommen der arabischen Bürger ist im Durchschnitt niedriger als das der jüdischen Bürger, aber noch viel höher als das ihrer Verwandten in den besetzten Gebieten. Araber der annektierten Gebiete Ost-Jerusalems, die nicht die israelische Staatsbürgerschaft bekommen haben, aber offiziell "Einwohner" sind, erfreuen sich der vollen Rechte des nationalen Sicherheitssystems, die beträchtlich ist.


IM ALLGEMEINEN ist die Situation der arabischen Bürger weit entfernt von dem, was wir (und sie natürlich) wünschen. Wir müssen für absolute Gleichheit kämpfen. Dieser Kampf sollte fortdauern und Hand in Hand von jüdischen und arabischen Menschenrechtsaktivisten geführt werden.

Leider ist es eine traurige Tatsache, dass diese Zusammenarbeit, die einmal eng und fast intim war, inzwischen distanziert und selten geworden ist. Araber fürchten die "Normalisierung", die so aussehen könnte, als ob man die Besatzung unterstütze. Juden fürchten, von der extremen Rechten als "Araber-Liebhaber" und Verräter gebrandmarkt zu werden.

Diese Situation, auch wenn sie ganz natürlich ist, muss überwunden werden. Die israelische Linke hat keine Chance, an Macht zu gewinnen, wenn sie nicht mit "den Zuabis", wie Finanzminister Yair Lapid einmal geringschätzig alle arabischen Bürger nannte, aktiv zusammenarbeitet - einschließlich Hanin, obwohl sie eine Frau ist, unverheiratet und sich so kleidet, wie sie möchte.

Und auch mit all den abhandengekommenen Muhammads.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 25.10.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2014