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STANDPUNKT/417: In der ersten Reihe winkend (Uri Avnery)


In der ersten Reihe winkend

von Uri Avnery, 17. Januar 2015



DIE DREI islamischen Terroristen hätten stolz auf sich sein können, wenn sie es erlebt und gesehen hätten.

Indem sie zwei Angriffe (nach israelischem Standard ganz gewöhnliche Angriffe) begangen hatten, verursachten sie in ganz Frankreich Panik, ja, schickten Millionen von Menschen auf die Straße, versammelten mehr als 40 Staatsoberhäupter in Paris. Sie veränderten die Landschaft der französischen Hauptstadt und anderer französischer Städte, während Tausende von Soldaten und Polizisten mobilisiert wurden, um jüdische und andere mögliche Ziele zu schützen. Mehrere Tage beherrschten sie die Nachrichten in aller Welt.

Drei Terroristen, die wahrscheinlich allein handelten. Drei!!!


FÜR ANDERE potentielle islamische Terroristen in Europa und Amerika muss dies wie ein riesiger Erfolg aussehen. Es ist eine Einladung für Individuen und winzige Gruppen, dasselbe überall zu tun.

Terrorismus heißt Angst schüren. Den drei in Paris gelang dies gewiss. Sie terrorisierten die französische Bevölkerung. Und wenn drei Jugendliche ohne jede Qualifikation dies tun können, dann stelle man sich vor, was 30 oder gar 300 machen können!

Offen gesagt, liebe ich diese riesigen Demonstration nicht. Ich habe in meinem Leben an vielen Demonstrationen teilgenommen, vielleicht an mehr als 500, aber immer gegen die Mächtigen. Ich habe nie an einer Demonstration teilgenommen, zu der die Regierung aufrief, selbst wenn sie für einen guten Zweck war. Das erinnert mich zu sehr an die frühere Sowjetunion, an das faschistische Italien und Schlimmeres. Nein, danke, nicht für mich.

Aber diese besondere Demonstration war auch kontraproduktiv. Sie bewies nicht nur, dass Terrorismus wirksam ist, sie lud auch Trittbrettfahrer zu Angriffen ein. Sie berührt auch den wirklichen Kampf gegen Fanatiker nicht.

Um einen wirksamen Kampf zu führen, muss man zunächst selbst in die Schuhe der Fanatiker schlüpfen und versuchen, die Beweggründe zu verstehen, die junge vor Ort geborene Muslime dahin bringt, solche Taten zu verüben. Wer sind sie? Was denken sie? Was fühlen sie? Unter welchen Umständen sind sie aufgewachsen? Was kann getan werden, um sie zu verändern?

Nach Jahrzehnten von Vernachlässigung ist dies harte Arbeit. Es braucht Zeit und Mühe und bringt unsichere Ergebnisse. Viel einfacher ist es für Politiker, vor Kameras auf die Straße zu gehen.


UND WER marschierte in der ersten Reihe, freudestrahlend wie ein Sieger?

Unser ein und alles Bibi.

Wie ist er dort hingekommen? Die Fakten kamen in Rekordzeit heraus. Es scheint, er wäre gar nicht eingeladen gewesen. Im Gegenteil. Präsident Hollande hatte ihn inständig gebeten, nicht zu kommen. Die Demo würde sonst zu einer Solidaritäts-Schau mit den Juden, anstelle eines öffentlichen Aufschreis für die Pressefreiheit und andere "republikanische Werte". Netanjahu kam trotzdem mit zwei anderen extrem rechten Ministern im Schlepptau.

In der zweiten Reihe platziert, tat er, was Israelis tun: er schob einen schwarz-afrikanischen Präsidenten vor ihm zur Seite und platzierte sich in die vorderste Reihe.

Als er dort war, winkte er den Leuten auf den Balkonen entlang der Straße zu. Er strahlte wie ein römischer General bei einer triumphalen Parade. Man kann die Gefühle von Hollande und den anderen Staatsoberhäuptern nur erraten, die - angesichts dieser Zurschaustellung von Chutzpeh - dem Anlass entsprechend feierlich und trauernd auszusehen versuchten.

Netanjahu ging im Rahmen seiner Wahl-Kampagne nach Paris. Als eingefleischter Wahlkämpfer wusste er, dass drei Tage in Paris Synagogen zu besuchen und stolze jüdische Reden zu halten, mehr wert waren, als drei Wochen Schlammschlacht zu Hause.


DAS BLUT der vier ermordeten Juden im koscheren Supermarkt war noch nicht trocken, als israelische Führer die Juden Frankreichs aufriefen, die Koffer zu packen und nach Israel zu kommen. Israel ist ja - wie jeder weiß - der sicherste Platz auf der Erde.

Dies war fast eine automatisch zionistische Reaktion. Juden sind überall in Gefahr. Ihr einziger sicherer Hafen ist Israel. Sputet euch und kommt! Am nächsten Tag berichteten israelische Zeitungen voller Freude, dass 2015 mehr als 10.000 französische Juden, angetrieben vom wachsenden Antisemitismus im Land, im Begriff seien, von dort aufzubrechen, um hier zu leben.

Anscheinend gibt es in Frankreich und anderen europäischen Ländern eine Menge Antisemitismus, wenn auch wahrscheinlich weit weniger als Islamophobie. Aber der Kampf zwischen Juden und Arabern auf französischem Boden hat wenig mit Antisemitismus zu tun. Es ist ein aus Nordafrika importierter Kampf.

Als 1954 der algerische Befreiungskrieg ausbrach, mussten die Juden die Seiten wählen. Fast alle entschieden sich, die Kolonialmacht zu unterstützen, Frankreich gegen das algerische Volk.

Das hat einen historischen Hintergrund. 1870 verlieh der französische Justizminister Adolphe Cremieux, zufällig ein Jude, allen algerischen Juden die französische Staatsbürgerschaft und trennte sie so von ihren muslimischen Nachbarn.

Die algerische Befreiungsfront (FLN) gab sich die größte Mühe, die ortsansässigen Juden auf ihre Seite zu ziehen. Ich weiß es, weil ich in gewisser Hinsicht in die Sache verwickelt war. Ihre Untergrundorganisation in Frankreich bat mich, eine israelische Unterstützungsgruppe zu bilden, um unsere algerischen Glaubensgenossen zu überzeugen. Ich gründete das "Israelische Komitee für ein freies Algerien" und veröffentlichte Material, das von FLN bei ihren Bemühungen, die Juden zu gewinnen, benutzt wurde.

Vergeblich. Die ortsansässigen Juden, stolz auf ihre französische Staatsbürgerschaft, unterstützten unbeirrt die Kolonialherren. Am Ende zeichneten sich Juden in der OAS aus, der extremen französischen Untergrundorganisation, die einen blutigen Kampf gegen die Freiheitskämpfer führte. Das Ergebnis war, dass, als der Tag der Abrechnung kam, praktisch alle Juden mit den Franzosen aus Algerien flohen. Sie gingen nicht nach Israel. Fast alle gingen nach Frankreich. (Anders als die marokkanischen und tunesischen Juden, von denen viele nach Israel kamen. Im Allgemeinen wählten die ärmeren und weniger gebildeten Israel, während die französisch-gebildete Elite nach Frankreich und Kanada ging.)

Was wir jetzt sehen, ist die Fortsetzung dieses Krieges zwischen algerischen Muslimen und Juden auf französischem Boden. Alle vier "französischen" Juden, die bei dem Angriff getötet wurden, hatten nordafrikanische Namen und wurden in Israel beerdigt.

Nicht ohne Probleme. Die israelische Regierung setzte die vier Familien unter großen Druck, ihre Söhne hier zu begraben. Sie wollten sie in Frankreich, in ihrer Nähe beerdigen. Nach einigem Hin und Her über den Preis der Gräber stimmten die Familien zu.

Man sagt, dass Israelis die Einwanderung lieben, aber nicht die Einwanderer. Das gilt sicher auch für die neuen "französischen" Immigranten. Während der letzten Jahre sind "französische" Touristen in großen Scharen hierhergekommen. Viele von ihnen machten sich unbeliebt. Besonders wenn sie anfingen, Wohnungen an Tel Avivs Küstenstraße zu kaufen und diese als eine Art Versicherung leer stehen zu lassen, während junge ortsansässige Leute weder eine Wohnung im Gebiet der Großstadt finden noch sie sich leisten können. Praktisch sind all diese "französischen" Touristen und Immigranten nordafrikanischen Ursprungs.


WENN SIE gefragt werden, was sie nach Israel treibt, ist ihre einmütige Antwort: Antisemitismus. Das ist kein neues Phänomen. Tatsächlich wurde die große Mehrheit der Israelis, sie selbst oder ihre Eltern oder Großeltern, vom Antisemitismus hierher getrieben.

Die beiden Termini - Antisemitismus und Zionismus - entstanden fast zur selben Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Theodor Herzl, der Gründer der zionistischen Bewegung, hatte seine Idee, als er in Frankreich als ausländischer Korrespondent einer Wiener Zeitung während der Dreyfus-Affäre arbeitete und bösartiger Antisemitismus in Frankreich neue Höhen erreichte. (Antisemitismus ist natürlich ein falscher Begriff. Araber sind auch Semiten. Aber der Terminus wird allgemein gebraucht, und meint nur Judenhasser.)

Später umwarb Herzl ausgesprochen antisemitische Führer in Russland und anderswo und bat sie um Hilfe. Er versprach, ihnen die Juden abzunehmen. Das taten auch seine Nachfolger. 1939 plante die Irgun-Untergrundbewegung mithilfe antisemitischer Generäle der polnischen Armee eine bewaffnete Invasion Palästinas. Man mag sich fragen, ob der Staat Israel 1948 entstanden wäre, wenn es nicht den Holocaust gegeben hätte. Vor kurzer Zeit waren anderthalb Millionen russische Juden vom Antisemitismus nach Israel getrieben worden.


ZIONISMUS ENTSTAND Ende des 19. Jahrhunderts als direkte Antwort auf die Herausforderung des Antisemitismus'. Nach der Französischen Revolution ergriff die neue nationale Idee von den großen wie den kleinen europäischen Nationen Besitz und alle nationalen Bewegungen waren mehr oder weniger antisemitisch.

Der grundlegende Glaube des Zionismus ist der, dass Juden nirgendwo außer im jüdischen Staat leben können, weil der Sieg des Antisemitismus' überall unvermeidlich ist. Lassen wir die Juden in Amerika sich ihrer Freiheit und ihres Wohlstandes erfreuen - früher oder später wird dies zu einem Ende kommen. Sie sind zum Scheitern verurteilt wie Juden überall außerhalb Israels.

Die neue antisemitische Gräueltat in Paris bestätigt nur diesen grundsätzlichen Glauben. Es gab sehr wenig wirkliches Mitgefühl in Israel. Eher ein unterdrücktes Gefühl von Sieg. Die Reaktion gewöhnlicher Israelis ist: "Wir haben es euch ja gesagt!" und "Kommt schnell, bevor es zu spät ist!"


ICH HABE meinen arabischen Freunden oft zu erklären versucht, dass die Antisemiten die größten Feinde des palästinensischen Volkes sind. Die Antisemiten haben die Juden immer nach Palästina getrieben und jetzt tun sie es wieder. Und einige der neuen Immigranten werden sicherlich jenseits der Grünen Linie in den besetzten palästinensischen Gebieten auf gestohlenem Land siedeln.

Die Tatsache, dass Israel von der Pariser Attacke profitiert, hat einige arabische Medien dazu veranlasst, zu glauben, die ganze Affäre sei in Wirklichkeit eine Operation unter "falscher Flagge". Ergo, dass in diesem Fall die arabischen Täter in Wirklichkeit vom israelischen Mossad manipuliert worden seien.

Nach einem Verbrechen fragt man: "Cui bono?" (Wem nützt es?) Offensichtlich ist der einzige Gewinner dieser Gräueltat Israel. Nun aber den Schluss daraus zu ziehen, dass sich Israel hinter den Jihadisten verbirgt, ist blanker Unsinn.

Es ist einfache Tatsache, dass der ganze islamische Jihadismus auf europäischem Boden nur die Muslime verletzt. Fanatiker aller Richtungen leisten im Allgemeinen ihren schlimmsten Feinden Schützenhilfe. Die drei muslimischen Männer, die in Paris die Gräueltat begingen, haben sicherlich Benjamin Netanjahu einen großen Gefallen getan.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 17.01.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2015


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