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STANDPUNKT/477: "Ich bin eine Griechin" (Uri Avnery)


"Ich bin eine Griechin."

von Uri Avnery, 11.7.15


JEDER HAT schon seine (ihre) Meinung zur griechischen Krise geäußert, egal ob er (oder sie) eine Meinung dazu hat. Ich fühle mich gezwungen, dasselbe zu tun.

Die Krise ist ungeheuer kompliziert. Doch mir scheint sie, ganz einfach zu sein.

Die Griechen haben mehr Geld ausgegeben, als sie verdienen. Die Gläubiger wollen in ihrer unglaublichen Unverschämtheit ihr Geld zurück haben. Die Griechen haben kein Geld, und sowieso erlaubt es ihr Stolz nicht, die Schulden zurückzuzahlen.

Also was tun? Jeder Kommentator, vom Wirtschaftsfachmann, der den Nobelpreis gewann, bis zu meinem Taxifahrer in Tel Aviv hat eine Lösung. Leider hört keiner auf sie.

Angela Merkel und Alexis Tsipras setzen den 2. Weltkrieg fort. Aber die Beziehungen zwischen den beiden Nationen spielten in meiner Familie schon lange vorher eine Rolle.


ALS JUNGE war mein Vater ein Schüler in einem deutschen "Humanistischen Gymnasium". In diesen Schulen lernten die Schüler Latein und Altgriechisch, statt Englisch und Französisch. So hörte ich lateinische und griechische Sprichwörter, bevor ich selbst zur Schule ging und lernte auch ein halbes Jahr Latein, bevor wir zum Glück Deutschland verließen und nach Palästina auswanderten.

Gebildete Deutsche bewunderten die Römer. Die Römer waren aufrecht gesinnte Menschen, die Gesetze machten und ihnen folgten, fast wie die Deutschen selbst.

Die Deutschen liebten die alten Griechen und verachteten sie. Ihr bedeutendster Dichter, Wolfgang von Goethe, sagte: "Das griechische Volk taugte nie recht viel".

Die Griechen erfanden die Freiheit, etwas, wovon die alten Hebräer nicht einmal träumten. Die Griechen erfanden die Demokratie. In Athen nahm jeder (außer Sklaven, Frauen, Barbaren und anderes niedriges Volk) an öffentlichen Diskussionen und Entscheidungen teil. Dies ließ ihnen zum Arbeiten nicht viel Zeit.

So sah mein Vater sie, und so sehen anständige Deutsche sie jetzt. Es sind nette Leute, die man während der Ferien gern um sich hat, aber keine ernsthaften Leute, mit denen man Geschäfte macht. Zu faul. Zu lebenslustig.

Ich habe den Verdacht, dass diese tief verwurzelte Haltung die Meinung der deutschen Regierung und Wähler beeinflusst. Sicherlich beeinflusst sie jetzt die Einstellung der griechischen Führer und Wähler Deutschland gegenüber. Zum Teufel mit den Deutschen und ihrer Besessenheit von Gesetz und Ordnung.


ICH BIN mehrfach in Griechenland gewesen und mochte die Leute dort schon immer. Meine Frau Rachel liebte die Insel Hydra und nahm mich dorthin mit. Ein Schiff zu finden, das von Piräus nach Hydra fährt, war eine Zerreißprobe. Das war natürlich, bevor es das Internet gab. Jede Schiffsagentur hat einen Zeitplan für ihre Schiffe, aber es gab keinen allgemeinen Fahrplan. Das wäre zu ordentlich gewesen, zu deutsch. (Wenn Piräus Haifa gewesen wäre, dann hätte es an jedem Schaufenster einen vollständigen Fahrplan gegeben.)

Ich war zu mehreren internationalen Konferenzen nach Athen eingeladen. Bei einer Konferenz hatte die wunderbare Melina Mercouri den Vorsitz, eine intelligente und schöne Frau, die zu jener Zeit Kabinettministerin war. Die Konferenz befasste sich mit mediterraner Kultur und war vermischt mit einer Menge gutem Essen und Volkstänzen. Einmal half ich den Gastgebern von Mikis Theodorakis in Tel Aviv.

Ich habe also keine Vorurteile gegenüber Griechen. Im Gegenteil. Vor den letzten griechischen Wahlen empfing ich eine E-Mail-Botschaft von einer Person, die ich nicht kannte; sie bat mich darum, ein internationales Statement für die Syriza-Partei zu unterstützen. Nachdem ich den Text gelesen hatte, unterschrieb ich. Ich sympathisiere jetzt mit ihrem heldenhaften Kampf.

Es erinnert mich an die "Matrosen-Revolte" in Israel in den frühen 1950er-Jahren. Es war ein Aufstand gegen die Bürokratie der Regierung. Ich unterstützte diesen mit ganzem Herzen und war sogar ein paar Stunden verhaftet. Als dies alles mit einer glorreichen Niederlage endete, traf ich einen berühmten linken General und erwartete, gelobt zu werden. Er sagte: "Nur Toren beginnen einen Kampf, den sie nicht gewinnen können."

Es läuft auf Folgendes hinaus: Die Griechen schulden eine Menge Geld, eine riesige Summe Geld. Es ist jetzt unwesentlich, wie diese großen Schulden zusammenkamen und wer daran schuld ist. Europa (schon der Name ist griechisch) hat keine Chance, die Milliarden zurückzubekommen. Aber es wird verdammt sein, wenn es noch mehr Geld in dieses bodenlose Fass wirft. Wie kann Griechenland ohne noch mehr Geld überleben?

Ich weiß es nicht. Ich habe stark den Verdacht, dass dies auch sonst niemand weiß, einschließlich der Nobelpreisträger.


FÜR MICH ist der bedeutendste Teil der Katastrophe die Zukunft zweier großer Experimente: der Europäische Union und der Euro-Währung.

Als die europäische Idee nach dem brudermörderischen 2. Weltkrieg auf dem Kontinent an Boden gewann, gab es eine große Debatte über ihre zukünftige Gestalt. Einige schlugen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa vor, eine föderale Union wie die der USA. Charles de Gaulle, damals eine sehr einflussreiche Stimme, lehnte dies strikt ab und schlug das "Europa der Nationen" vor, eine viel lockerere Konföderation.

Genau dieselbe Debatte fand in Amerika vor der Entscheidung statt, die Vereinigten Staaten zu gründen, und noch einmal während der Zeit des Bürgerkrieges. Am Ende gewannen die Föderalisten und die Flaggen der Konföderalisten werden sogar noch heute verbrannt.

In Europa siegte de Gaulles Idee. Es gab keinen starken Willen, einen vereinigten europäischen Staat zu gründen. Nationale Regierungen waren nach einigen Jahren bereit, eine Union unabhängiger Staaten zu schaffen, die widerwillig einen Teil ihrer souveränen Macht der Super-Regierung in Brüssel übergaben.

(Warum Brüssel? Weil Belgien ein kleines Land ist. Weder Deutschland noch Frankreich waren bereit zuzugestehen, dass die Hauptstadt der Union in einem der beiden Länder liegen sollte. Das erinnert mich an den biblischen König David, der seine Hauptstadt nach Jerusalem verlegte, das keinem Stamm gehörte, und so vermied er die Eifersucht zwischen den starken Stämmen Juda und Ephraim.)

Die Brüsseler Bürokratie scheint von allen tüchtig gehasst zu werden, aber ihre Macht wächst unaufhaltsam. Moderne Realität bevorzugt immer größer werdende Einheiten. Kleine Staaten haben keine Zukunft.

Das bringt uns zum Euro zurück. Die europäische Idee führt zur Bildung eines großen Blockes, in dem eine gemeinsame Währung sich frei bewegen kann. Einem Laien, wie mir, scheint es eine wunderbare Idee zu sein. Ich erinnere mich nicht an einen einzigen bedeutenden Ökonom, der davor gewarnt hätte.

Heute ist es einfach zu sagen, dass der Euro-Block von Anfang an mangelhaft war. Sogar ich verstehe, dass man keine gemeinsame Währung haben kann, wenn jeder Mitgliedstaat sein eigenes nationales Budget nach seiner eigenen Laune und seinen eigenen politischen Interessen entwickelt.

Das ist der fundamentale Unterschied zwischen einer Föderation und einer Konföderation. Wie würden die USA operieren, wenn jedes ihrer 50 Mitglieder ihre eigene Wirtschaft hätte - unabhängig von den 49 anderen?

Wie Ökonomen uns nun lehren, kann so etwas wie die Euro-Krise in den USA nicht vorkommen. Wenn der Staat Alabama in einer schlechten finanziellen Lage ist, schalten sich die andern Staaten automatisch ein. Die Zentralbank (oder die US-Notenbank) wirft das Geld zusammen. Kein Problem.

Die griechische Krise ergab sich aus der Tatsache, dass sich der Euro nicht auf solch eine Föderation gründet. Der griechische wirtschaftliche Zusammenbruch wäre von der europäischen Zentralbank lange bevor er den augenblicklichen Punkt erreicht hätte, gestoppt worden. Geld wäre von Brüssel nach Athen geflossen, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Tsipras hätte Merkel in ihrer Kanzlei umarmt und glücklich verkündet "Ich bin ein Berliner". (Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Merkel nach Athen geht und ausruft: "Ich bin eine Griechin").

Die erste Lektion der Krise ist, dass die Schaffung einer Währungsunion die Bereitschaft aller Mitglieder-Staaten voraussetzt, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben. Ein Land, das nicht bereit ist, dies zu tun, kann sich solch einer Union nicht anschließen. Jedes Land kann seine eigene heiß geliebte Fußballmannschaft haben und sogar seine eigene heilige Flagge, aber sein nationales Budget muss der gemeinsamen wirtschaftlichen Super-Regierung unterworfen sein.

Heute ist das ganz klar. Leider war es den Gründern des Euro-Blocks nicht klar.

Insofern hat eine riesige Nation wie China einen sehr großen Vorteil. Es ist nicht einmal eine Föderation, aber praktisch ein einheitlicher Staat mit einer einheitlichen Währung.

Kleinen Staaten wie Israel fehlt die wirtschaftliche Sicherheit, zu einer großen Union zu gehören, sie erfreuen sich aber des Vorteils, in der Lage zu sein, frei zu manövrieren und unsere Währung, den Schekel, entsprechend unsern Interessen festzulegen. Wenn die Exportkosten zu hoch sind, wertet man ihn ab. Solange die Kredit-Bewertung hoch genug ist, kann man tun, was man will.

Zum Glück lud uns keiner ein, uns dem Euro-Block anzuschließen. Die Versuchung wäre zu groß gewesen.


DA DIES so ist, können wir die griechische Krise mit einiger Gelassenheit verfolgen.

Aber für die unter uns, die glauben, dass Israel nach einem Friedensabkommen mit den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt, ein Teil einer Art regionaler Konföderation werden müsste, ist dies eine aufschlussreiche Lektion.

Ich schrieb darüber, noch bevor der Staat Israel geboren wurde, und schlug eine "Semitische Union" vor. Sie wird wahrscheinlich nicht zustande kommen, solange ich noch hier bin, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es vor Ende des Jahrhunderts dazu kommen wird.

Das kann nicht geschehen, solange die wirtschaftliche Kluft zwischen Israel und den arabischen Ländern so immens ist wie jetzt - mit einem pro Kopf-Einkommen, das in Israel 25mal höher ist als in Palästina und in vielen arabischen Ländern. Aber wenn die arabische Welt einmal seine gegenwärtigen Unruhen überwunden hat, kann sie auf einen schnellen Fortschritt hoffen, so wie es in der Türkei und in den moslemischen Ländern in Ostasien geschehen ist.

Irgendwann in nicht zu ferner Zukunft, mit historischem Maßstab gemessen, wird die Welt aus großen wirtschaftlichen Einheiten bestehen, die danach streben, eine funktionierende wirtschaftliche Weltordnung mit einer gemeinsamen Währung zu schaffen.

Es scheint töricht zu sein, in der gegenwärtigen Situation darüber nachzudenken. Aber zum Denken ist es nie zu früh.

Man denke an das, was der Grieche Sokrates sagte: "Die einzige wahre Weisheit ist die, zu wissen, dass man nichts weiß."



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 11.07.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2015

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