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STANDPUNKT/561: Der Tag der Rhinos (Uri Avnery)


Der Tag der Rhinos

von Uri Avnery, 4. Juni 2016


ICH HABE kürzlich das deutsche Wort "Gleichschaltung" erwähnt - eines der typischsten Wörter des Nazi-Vokabulars.

Dies lange deutsche Wort bedeutet, dass alles im Staat auf dieselbe Weise miteinander verschaltet war, nämlich im Sinne der Nazis.

Dies war ein wesentlicher Teil der Nazifizierung Deutschlands. Aber es geschah nicht auf dramatische Weise. Der Austausch der Leute ging langsam vonstatten, fast unmerklich. Am Ende waren alle bedeutenden Positionen im Land mit Nazi-Funktionären besetzt.

Wir sind jetzt Zeugen, wie so etwas in Israel geschieht. Wir sind schon mitten in diesem Prozess.

Position um Position wird von der extremen Rechten, die jetzt Israel beherrscht, übernommen. Langsam. Sehr, sehr langsam.


ES FING direkt nach der Wahl im letzten Jahr an. Benjamin Netanjahu war in der Lage, eine Koalition aus extrem Rechten zu bilden, wenn auch mit einer dünnen Mehrheit. Wie es so oft in den Annalen des Faschismus geschah, benötigte er dafür eine "Zentrums"-Partei. Er fand sie in der Moshe-Kahalon-Fraktion. Kahalon, ein Ex-Likud-Mann war populär, weil er billige Wohnungspreise versprach. Stattdessen gingen die Wohnungpreise in die Höhe.

(Kahalon ist der Lächelnde. Er ist sehr liebenswert. Ein Kolumnist verglich ihn mit der Grinse-Katze, der Katze, die verschwand und nur ein Lächeln hinterließ. "Nicht eine Katze mit einem Lächeln" sagte Alice im Wunderland, "sondern ein Lächeln mit einer Katze". Aber er ist die Katze, die die Rechte an der Macht hält, sogar jetzt.)

Mit der neuen Regierung geht eine Mischung unglaublicher Ernennungen einher. Die abscheulichste neue Ministerin ist Miri Regev, eine primitive Frau, die ihrer stolz vorgeführten Vulgarität wegen bekannt ist. Und nun ist sie Kultusministerin. Ich vermute selbst Vulgarität hat ein Recht, vertreten zu werden.

Frau Regev ist jetzt für die Zuteilung der staatlichen Mittel für Theater, Literatur, Ballett, Oper und dergleichen verantwortlich. Sie hat schon deutlich gemacht, dass die Betroffenen gut daran tun, der Regierungslinie zu folgen, wenn sie finanziert werden wollen.

Ihr nächster Konkurrent ist die neue Justizministerin, Ayelet Shaked (wörtlich: die Mandelgazelle). Ihr erklärtes Ziel ist die Unterwerfung des Obersten Gerichtes, des Stolzes Israels. Zwar ist das Gericht zurzeit ziemlich kleinlaut, aber manchmal widersetzt es sich doch noch repressiven neuen Gesetzen. Darum will Frau Mandel es mit neuen "konservativen" Richtern besetzen.

Der Gefährlichste dieser Sippschaft ist der Minister für Bildung und Erziehung - Naftali Bennett, einer der extremsten nationalistisch-religiösen Politiker. Israel hat drei religiöse Bildungssysteme. Das einzige "säkulare" System ist schon während der Jahre der letzten Minister ständig reduziert worden. Vertraut man Bennett, der von vielen als religiöser Faschist bezeichnet wird, die Bildung an, bedeutet dies den Bock zum Gärtner zu machen.

Alle diese Minister, auch die anderen derselben Sorte, sind jetzt sehr eifrig dabei, die hohen Beamten durch Leute, die ihre Überzeugungen teilen, zu ersetzen. Das ist ein stetiger und äußerst gefährlicher Prozess.



DANN SIND da noch die Torhüter.

Eine der bedeutendsten Personen in Israel trägt den Titel "Rechtsberater der Regierung". Er ist der höchste Justizbeamte, dem Generalstaatsanwalt übergeordnet und vom Justizminister unabhängig. Sein Rat ist rechtlich bindend und nur dem Obersten Gericht unterworfen.

Netanjahu hat mehrere persönliche Probleme mit der Justiz. Er und seine Familie reisen während seiner Amtszeit auf Kosten anderer in der Welt umher. Die gerichtliche Verfolgung dieser und anderer Affären sind durch die Entscheidung des "Beraters" viele Jahre hinausgezögert worden.

Der letzte Rechtsberater, ein moralisch unbedenklicher ehemaliger Richter, der von Netanjahu in dieses Amt berufen worden war, wurde gerade - große Überraschung - von Netanjahu durch den Regierungssekretär Awichai Mandelblit ersetzt. Der ist ein Kippa tragender Rechtsanwalt, der Netanjahu so nahe steht, wie es nicht näher sein könnte.

Um ganz sicherzugehen, wurde der Rechnungsprüfer, auch er ein sehr mächtiger Beamter in Israel, auf den Wunsch Netanjahus von der Mehrheit der Knesset-Abgeordneten gewählt. Auch Josef Schapiro ist ein ehemaliger Richter.

Warum diese zwei Positionen für Netanjahu so wichtig sind, wird gerade jetzt deutlich. Das ganze Land ist von mehreren Gerichtsfällen fasziniert, in denen in der offiziellen Residenz des Ministerpräsidenten Angestellte bezeugten, Sarah Netanjahu sei ein unerträglicher, schreiender, hysterischer Hausdrache. Sie bestreitet auch ihre privaten Ausgaben aus der Staatskasse.

Um diesen Kreis zu vervollständigen, gibt es noch den neuen Polizei-Kommandeur. Seit Jahren versinkt die hohe Polizeiführung in einem Sumpf von Anschuldigungen wegen sexueller Vergehen und wegen Bestechung. Ein hoher Offizier hat Selbstmord begangen, mehrere andere sind hinausgeworfen worden.

Welche Lösung wäre besser, als einen Außenseiter, einen hohen Shin-Bet-(Geheimdienst)-Offizier dort unterzubringen? Eine brillante Idee, aber jetzt stellt sich heraus, dass die Polizei in noch tieferem Morast versinkt. In mehreren Fällen haben Polizisten öffentlich Zivilisten aus keinem ersichtlichen Grund brutal geschlagen, Araber wie auch Juden, und erhielten vollen Rückhalt von Roni Alsheikh, ihrem neuen Oberkommandeur.


DIE ISRAELISCHEN Medien werden vom rechten Flügel als "Linke" beschimpft, als ein Bollwerk der "alten Elite", die zu ersetzen die Rechten geschworen haben.

Leider ist diese Beschreibung ganz falsch. Von den zwei größeren Zeitungen gehört die eine, Israel Hajom ("Israel heute"), Netanyahu. Oder - um es genau zu sagen - Sheldom Adelson, einem amerikanischen Casino-Mogul, der "Bibis" unterwürfiger freiwilliger Sklave und sein großzügiger Patron ist. Die Zeitung, dessen einziger Zweck es ist, Netanjahu persönlich zu dienen, wird in riesigen Mengen gratis verteilt.

Das andere Massenblatt, Yediot Aharonot ("Späte Nachrichten") versucht zu konkurrieren, indem es noch weiter rechts ist.

Die einzige andere bedeutende Tageszeitung, Haaretz ("Das Land"), die gegenüber Netanjahu kritisch eingestellt ist, ist bei weitem kleiner und ständig in wirtschaftlicher Not.

Israels drei Fernseh-Kanäle sind eine intellektuelle Wüste. Abgesehen von den Nachrichten und einer winzigen Anzahl guter Sendungen haben sie keinen Inhalt, sie widmen sich hauptsächlich den "Reality"-Programmen, die nichts mit der Realität zu tun haben.

Wer ist dafür verantwortlich? Nun, natürlich der Medien-Minister. Und wer ist das? Wieder große Überraschung. Kein anderer als ein Mann namens Benjamin Netanjahu.

Nach israelischem Gesetz kann der Ministerpräsident so viele Ministerämter für sich behalten, wie sein Herz begehrt. Das bedeutet gegenwärtig: einige dieser Ministerien, darunter das Außenministerium und das für die Medien.

Seit Monaten haben die Medienleute Schwierigkeiten, nachts Schlaf zu finden. Alle drei Fernseh-Kanäle benötigen Regierungsunterstützung. Einige mutige Fernseh-Persönlichkeiten wagen es, die Regierung offen zu kritisieren, ja sogar scharf, aber ihre Anzahl ist im Schwinden.

Als ich diese Woche im Fernsehen war, sagte ich meinem Interviewer, dass er und seine Kollegen in einem Jahr wahrscheinlich arbeitslos sein werden. Er lachte nervös und fragte: "Was, noch ein ganzes Jahr?"

Viele Fernseh-Journalisten sind schon Rhinos geworden. (Das ist der Spitzname für Leute, die sich der Regierung unterworfen haben, weil sie eine dicke Haut brauchen.) Der Prozess der Rhinos-Werdung geht stetig weiter.


UND JETZT kommt der Gnadenschuss in der Gestalt des Avigdor Ivett Lieberman.

Lieberman ist eine furchteinflößende Person. In seiner Gegenwart würde sogar Donald Trump zusammenschrumpfen.

Ein Immigrant aus Sowjet-Moldawien, ein ehemaliger Rausschmeißer einer Bar und später enger Beistand Netanjahus. Er ist jetzt der extrem rechteste Politiker auf der Bühne. Er schlug einmal vor, den Assuan-Staudamm in Ägypten zu bombardieren (was viele Millionen Tote verursachen würde). Das war eine seiner moderateren Ideen. Er hat die Armee als zu zaghaft kritisiert und nannte Netanjahu (vor nicht langer Zeit) einen Betrüger, eine Memme und einen Scharlatan.

Liebermann (auf Deutsch "netter Mann") ist schlau. Man kann davon ausgehen, dass er sich wenigstens für einige Monate äußerst moderat, friedliebend und liberal verhält. Schon in dieser Woche haben er und Netanjahu erklärt, dass sie eifrige Anhänger der "Zwei-Staaten-Lösung für zwei Volker" seien. Das ist, als ob Mussolini 1939 erklärt hätte, er sei ein hingebungsvoller Pazifist.

Die drohende Konfrontation zwischen dem Verteidigungsminister und dem Generalstab könnte zu einem folgenschweren Ereignis führen: dem Zusammenstoß einer unaufhaltsamen Macht mit einem unbeweglichem Objekt.

Die "Israelische Verteidigungsarmee" (IDF), die auch die Flotte und die Luftwaffe einschließt, ist eine fast autonome Institution. Ihr offizieller Oberkommandeur ist aber die Regierung als Ganzes. In ihrem Auftrag handelt der Verteidigungsminister.

Es ist eine gehorsame Armee. Nur selten hat sie sich offen der Regierung widersetzt. Ein solcher Fall war 1967, als der Ministerpräsident Levy Eshkol angesichts der wachsenden ägyptischen Militärdrohung auf der Sinai-Halbinsel zögerte. Eine Gruppe von Generälen drohte, sie würden alle zurücktreten, falls er nicht den Befehl zum Angriff geben würde. Er kapitulierte.

Angesichts des vereinten Widerstandes des Armeekommandos ist der Minister fast machtlos. Aber er ist für ein riesiges Budget zuständig, für das bei Weitem größte in Israel. Er hat beherrschenden Einfluss auf die Ernennung des Armeekommandeurs ("Stabschefs") und hoher Offiziere.

Und was noch schlimmer ist: Das niedrigere Offizierscorps und die gemeinen Soldaten wurden im nationalistischen Schulsystem ausgebildet. Die meisten von ihnen mögen jetzt Liebermann näher stehen als dem Stabschef.

Dies wurde kürzlich beim Fall Elor Azariya, dem Soldaten, der einen schwerverletzen Palästinenser, der auf dem Boden lag, erschoss, auf den Prüfstand gestellt. Viele Soldaten erklärten, dass Azariya ein Nationalheld sei.

Azariya hat jetzt vor einem Militärgericht wegen Totschlags einen Prozess. Das Obere Armeekommando war unerbittlich angesichts der rechten Opposition. Und siehe da, wer stieß die beträchtliche Masse seines Körpers in den überfüllten Gerichtssaal? Avigdor Lieberman. Er kam um seine Unterstützung für den Angeklagten zu demonstrieren. Sogar Netanjahu beugte sich dem Druck und rief den Vater des Soldaten an, um seine Unterstützung auszudrücken.

(Als wir den Killer im Fernsehen vor Gericht sahen, waren wir überrascht, einen Jungen zu sehen, der verwirrt und orientierungslos dreinschaute. Seine Mutter saß hinter ihm und streichelte seinen Kopf. Weh dem Staat, der eine tödliche Waffe in die Hände einer primitiven und unreifen Person gibt.)

Hier stehen wir jetzt: die Regierung untergräbt die Armee und das Friedenslager setzt sein Vertrauen in das Oberkommando.

Manche mögen jetzt zu einem Gott beten, an den sie nicht glauben, um einen Militärputsch zu erbitten.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.06.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2016

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