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STANDPUNKT/570: Der große Graben (Uri Avnery)


Der große Graben

von Uri Avnery, 23. Juli 2016


Der Staat Israel war noch jung, als zwei berühmte Komödianten ein kurzes Stück aufführten:

Zwei Araber stehen am Strand und verfluchen ein Boot, das neue jüdische Einwanderer bringt.

Als Nächstes stehen zwei der neuen Einwanderer am Strand und verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Polen bringt.

Als nächstes stehen zwei Einwanderer aus Polen am Strand und verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Deutschland bringt.

Als nächstes stehen zwei Einwanderer aus Deutschland am Strand und verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Nordafrika bringt.

Und so weiter...

Vielleicht ist das die Geschichte aller Einwanderer-Länder, wie der USA, Australiens, Kanadas und anderer. Aber für Israel mit einer nationalistischen Ideologie, die alle Juden einschließt (und alle anderen ausschließt), ist diese ein bisschen abwegig.


DIE NEUE jüdische Gemeinde ("Jischuv" genannt) im damaligen Türkisch-Palästina wurde hauptsächlich von Einwanderern aus Russland gegründet.

Davor gab es eine kleine jüdische Gemeinde, die aus ultra-orthodoxen Juden aus Osteuropa bestand, und eine andere kleine Gemeinde sephardischer Juden. Sie waren Nachkommen von Juden, die im frühen 15. Jahrhundert aus Spanien (in Hebräisch: Sepharad) vertrieben worden waren. Viele von ihnen waren ziemlich wohlhabend, da ihnen der einzig wertvolle Besitz gehörte: Land.

Es war die russische Einwanderung vor dem Ersten Weltkrieg, die den Jischuv für Generationen geprägt hat. Ein großer Teil Polens gehörte zu der Zeit zu Russland. Die Einwohner dieser Gebiete schlossen sich der russischen Einwanderungswelle an. Einer von ihnen, ein junger Mann, der David Green hieß, änderte seinen Namen in Ben-Gurion.

In den 1920ern füllte eine Welle von Juden aus dem neuerdings unabhängigen und antisemitischen Polen die Reihen des Jischuvs.

Als meine Familie im Jahre 1933 aus Deutschland nach Palästina kam, fand sie diese russisch-polnische Gemeinde hier vor. Die "Deutschen" wurden von den alten Einwanderern mit Verachtung behandelt und "Jeckes" genannt (woher diese Bezeichnung stammt, weiß niemand), und sie wurden regelmäßig betrogen.

Das war geradezu ein Rollentausch: in Deutschland waren es die einheimischen Juden, die die weniger zivilisierten Einwanderer aus Polen und Russland, "Ostjuden", mit Verachtung behandelten.


ALL DAS machte uns, den Kindern dieser Zeit, keine Sorgen. Wir wollten keine Einwanderer sein und keine Deutschen, Polen oder Russen. Wir gehörten einer neuen Nation an, die in diesem Land gerade im Begriff war, zu entstehen. Wir sprachen Hebräisch, eine sehr lebendige Sprache, die vom Tod erweckt worden war. Wir wollten Bauern sein, Pioniere.

Wir schufen eine neue perfekte, einheimische Rasse. Ihr Spitzname war "Sabra", eine lokale Kaktuspflanze, außen stachelig, innen süß. Diese Pflanze konnte man im ganzen Land sehen, obwohl sie ursprünglich aus Mexiko eingeführt worden war.

Unsere Idee war, uns all dieser charakteristischen Eigenschaften der verschiedenen jüdischen Gemeinden zu entledigen und sie in einen Schmelztiegel zu werfen, von wo sie als neugeborene Hebräer wieder herauskämen, eine neue Rasse, die tief im Boden dieses Landes verwurzelt ist.

Am Ende der 1930er Jahre machte die neue Terminologie, die unbewusst von jedem angenommen wurde, eine klare Unterscheidung zwischen dem Jüdischen und dem Hebräischen. Wir träumten von einem hebräischen Staat, beteiligten uns am hebräischen Untergrund und sprachen über hebräische Kultur, hebräische Industrie und die zukünftige hebräische Armee. Die Juden waren im Ausland: die jüdische Diaspora (allgemein genannt das "jüdische Exil"), die jüdische Religion, die jüdische Tradition.

Dieser Sprachgebrauch war uns natürlich und selbstverständlich. Wir waren damit beschäftigt, etwas vollkommen Neues aufzubauen. Wir betrachteten die Diaspora-Juden mit Herablassung. Einige kleine Gruppen propagierten sogar einen vollkommenen Bruch mit den Juden und deren Geschichte. Aber die Sabras hatten keine Geduld mit all diesem ideologischen Nonsens. Sogar das Wort "Zionismus" wurde ein Synonym für Nonsens - "Sprich nicht vom Zionismus", bedeutete: "Hör auf, so hochtrabendes Zeug zu reden!".

Wir waren eifrig damit beschäftigt, ganz bewusst eine neue hebräische Kultur - Poesie, Literatur, Tanz, Malerei, Theater, Journalismus - zu schaffen, die unsere neue Realität in unserem neuen Heimatland widerspiegelte.

Dann kam der Holocaust. Als seine volle Grausamkeit im Jahr 1944 unbestreitbar wurde, schwappte eine Welle von Reue über den Jischuv. Aber da waren wir bereits alle dabei, den "im Entstehen begriffenen Staat" zu schaffen.


ALS DER Staat Israel offiziell erklärt wurde, mitten im Krieg von 1948, waren wir 650.000 Juden im Land. Innerhalb von ein paar Jahren brachten wir Hunderttausende, dann Millionen neuer Einwanderer hinein.

Von wo? Ein paar Hunderttausende wurden aus den Lagern in Europa gebracht, wo der klägliche Rest der Überlebenden des Holocaust wartete. Aber die große Mehrheit kam aus islamischen Ländern, von Marokko bis zum Iran.

Für uns waren sie alle gleich. Einwanderer, die in den Schmelztiegel geworfen werden sollten, um so wundervolle Menschen wie wir zu werden.

Fast niemand achtete auf den gewaltigen Wandel in der demografischen Zusammensetzung des jüdischen Volkes, den der Holocaust verursacht hatte. Vorher waren die orientalischen Juden eine kleine Minderheit unter den Juden. Danach waren sie ein bei weitem größerer Teil. Das sollte ihr Bewusstsein verändern.

Ein paar wenige zuvor eingewanderte Einwohner (darunter auch ich selbst) warnten, dass man sich mit einer neuen Realität auseinandersetzen müsse. Die Ideale, die von Europa eingeführt wurden, passten nicht wirklich zu den orientalischen Einwanderern. Menschen wie Ben-Gurion und seine Kollegen waren unbeeindruckt. Sie waren sicher, dass die Dinge sich von selbst regeln würden. Hatten sie das nicht immer schon getan?

Nun, sie taten es nicht. Die erste Generation der neuen Einwanderer aus dem "Osten" (derzeit liegt Marokko weit im Westen von uns) war nur damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie verehrten auch Ben-Gurion. Aber die zweite Generation begann, Fragen zu stellen. Die dritte ist nun in vollem Aufruhr.

Die zionistische Auffassung, dass alle Juden gleich sind, mit kleinen Unterschieden in Sprache und Hautfarbe, ist anachronistisch. Die "orientalischen" Juden zeigen keine Neigung, in irgendeinen Schmelztiegel geworfen zu werden. Sie sind in fast jeder Hinsicht anders.

Der Schmelztiegel ist zerbrochen. Orientalische Juden (oft fälschlisch Sephardis genannt) sind stolz auf ihr Erbe. Sie rebellieren gegen die europäische Überlegenheit.

Dieser Kampf dominiert nun das israelische Leben. Kein Lebensbereich ist davon ausgenommen. Er ist sozial, wirtschaftlich, kulturell, politisch, oft verborgen hinter einer anderen Fassade, aber, er ist immer da.

Dies ist ein soziales Problem. Da die meisten Europäer vor der Ankunft der Orientalen Zeit genug hatten, eine gewisse wirtschaftliche Stellung zu erlangen, sind sie in der Regel wohlhabender. Sie besetzen auch die meisten wirtschaftlichen Schlüsselpositionen. Die Orientalen fühlen sich ausgebeutet, diskriminiert, als Unterklasse.

Die Orientalen sind in der Regel stolz darauf, emotionaler zu sein, besonders in Bezug auf nationale Angelegenheiten. Sie bezichtigen die Ashkenazis (ein alter, ausgedienter, hebräischer Name für Deutschland), kaltblütig und weniger patriotisch zu sein.

Sie nehmen auch gegenüber der Religion eine andere Haltung ein. Einwohner muslimischer Länder sind generell gemäßigt religiös, weder Atheisten, noch Fanatiker. Die Juden aus islamistischen Ländern sind genauso. Einige wenige sind sehr religiös, aber eine noch geringere Anzahl bezeichnet sich selbst als "säkular".

Ashkenazis sind ganz anders. Es stimmt, die Ultra-Orthodoxen, die anti-zionistischen "haredim" (die, die Gott "fürchten") sind meistens Ashkenazis, wie auch die "religiösen Zionisten", die schon fast Faschisten sind. Aber die große Mehrheit der Ashkenazis ist "säkular", ein höflicher Ausdruck für atheistisch. Fast alle Gründer des Zionismus waren radikale Atheisten. Nun gewinnt die national-religiöse Gemeinschaft im Land immer mehr an Boden.


DIE TRAGÖDIE des heutigen Israels ist nicht, dass es so viele Unterteilungen gibt, sondern dass sie sich alle in einem großen Graben sammeln.

Der Enkel eines Einwanderers aus Marokko gehört wahrscheinlich einer niederen sozialen und wirtschaftlichen Klasse an, ist gemäßigt religiös und ein radikaler Nationalist. Das bedeutet, dass er verbittert ist über "die alten Eliten" (die meisten sind Ashkenazis), über die säkulare Kultur, über die "Linken" (die für ihn alle degenerierte Ashkenazis sind). Er ist auch ein Fan bestimmter Araber hassender Fussballteams und ein Liebhaber von "orientalischer Musik" - ein Genre, das weder ganz arabisch, noch ganz griechisch ist, aber so weit entfernt von klassischer Musik wie Teheran von Wien.

Das bedeutet in politischer Hinsicht, dass diese Person sehr wahrscheinlich den Likud wählt, unabhängig davon, was der Likud tut. Ashkenazis können sie darauf hinweisen, dass der Likud eine Politik betreibt, die im krassen Gegensatz zu ihren lebenswichtigsten Interessen steht, eine neo-liberale, anti-soziale Politik, die die sehr Reichen begünstigt. Sie wird nicht zuhören. Sie ist dem Likud verpflichtet durch tausend Verbindungen des Gefühls und der Tradition.

Dasselbe gilt auch für die andere Seite. Die Arbeiterpartei (was von ihr geblieben ist) wird die Partei der Ashkenazis bleiben, ebenso wie Meretz. Ihre Mitglieder bilden die "alte Elite", auch diejenigen von ihnen, die von der öffentlichen Fürsorge abhängen. Sie blicken auf die Religiösen aller Couleur herab, hören Beethoven (oder behaupten es), geben Lippenbekenntnisse zur "Zweistaatenlösung" ab und verfluchen Netanyahu - der natürlich ein Ashkenazi ist, wie man es nur sein kann.


DER GEGENWÄRTIGE GRABEN zwischen den Europäern und den Orientalen ist nicht der einzige.

Als der Schmelztiegel zerschmettert wurde, wurde jeder Teil der israelischen Gesellschaft autonom.

Der arabische Sektor von Israel, über 20%, ist praktisch abgetrennt. Arabische Bürger sind in der Knesset vertreten, aber diese Woche verabschiedete die Knesset ein Gesetz, dass 90 (von 120) Mitgliedern der Knesset erlaubt, jedes Mitglied auszuschließen. Das ist eine direkte Bedrohung der Abgeordneten der Vereinigten Arabischen Partei, die nun 13 Mitglieder umfasst.

Die neuen Einwanderer aus Russland (neu bedeutet seit 1989) leben ein eigenständiges Leben, sind stolz auf ihre russische Kultur und sehen auf uns, die Primitiven, herab. Sie verachten auch die Religion, hassen Sozialisten jeglicher Couleur und hassen - mehr als alle anderen - die Araber aus ganzem Herzen. Sie haben ihre eigene ultra-nationalistische Partei, angeführt von "Ivet" Lieberman.

Und dann gibt es noch die Ultra-Orthodoxen, die nicht dazu gehören, die Zionismus hassen und in ihrer eigenen Welt leben, fast völlig isoliert. Für sie sind die religiösen Zionisten Ungläubige, verdammt dazu, in der Hölle zu schmoren.


DAS IST mehr oder weniger das Spektrum. All diese Sektoren wurden (mit Ausnahme der Araber und der Orthodoxen) durch die Armee vereint, die eine sakrale Institution war - bis ein orientalischer Soldat namens Elor Azarya einen verwundeten arabischen Angreifer auf dem Boden liegen sah und ihm geradewegs in den Kopf schoss.

Für die Massen der Orientalen ist er ein Nationalheld. Für das Armeekommando und die Masse der Europäer ist er Abschaum. Der Riss wird zur tiefen Kluft.

Was kann Israel nun einen?

Nun, ein guter Krieg beispielsweise.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 23.07.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2016

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