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STANDPUNKT/586: Es kann auch hier geschehen (Uri Avnery)


Es kann auch hier geschehen

von Uri Avnery, 17. September 2016


ZIONISMUS WAR eine revolutionäre Idee. Er beabsichtigte, ein neues jüdisches Gebilde im Land Palästina zu schaffen.

Das zionistische Projekt war tatsächlich sehr erfolgreich. 1948 war die Embryo-Nation stark genug, einen Staat zu schaffen. Israel wurde geboren.

Wenn man ein Haus baut, benötigt man ein Gerüst. Wenn der Bau fertig ist, wird das Gerüst wieder abgebaut.

Aber politische Ideen und Strukturen sterben nicht einfach. Der menschliche Geist ist faul und besorgt und klammert sich an die vertrauten Ideen, lange nachdem sie obsolet geworden sind. Auch kleiden sich politische und materielle Interessen in eine Idee und widerstehen einem Wandel.

So fuhr der "Zionismus" fort, zu existieren, nachdem er sein Ziel schon erreicht hat. Das Gerüst ist überflüssig, tatsächlich hinderlich geworden.


WARUM HINDERLICH? Denken wir zum Beispiel an Australien. Es wurde von britischen Siedlern als eine Kolonie von Britannien geschaffen. Die Australier waren Britannien zutiefst ergeben. Im Zweiten Weltkrieg kamen sie auf ihrem Weg, für die Briten in Nordafrika zu kämpfen, bei uns vorbei. (Wir mochten sie sehr).

Aber Australien ist nicht Britannien. Ein anderes Klima, eine andere Geographie, ein anderer Standort, der andere politische Optionen diktiert.

Wenn wir das Welt-Judentum als eine Art Mutterland betrachten, wie es Britannien für Australien ist, dann hätte Israel bei der Geburt die Nabelschnur durchschneiden müssen. Eine neue Nation. Eine neue Örtlichkeit. Eine andere Nachbarschaft. Andere Optionen.

Dies geschah nie. Israel ist ein "Zionistischer" Staat, oder die große Majorität seiner Bürger und Führer glauben dies. Wer kein Zionist bleiben will, ist ein Abtrünniger, beinah ein Verräter.

Aber was verstehen Israelis unter "Zionismus"? Patriotismus? Nationalismus? Solidarität mit Juden in aller Welt? Oder etwas ganz anderes: die Idee, dass Israel nicht wirklich seinen Bürgern gehört, sondern allen Juden in der Welt?


DIESE GRUNDSÄTZLICHE Entscheidung, sei sie nun bewusst oder unbewusst getroffen, hat weitgehende Konsequenzen.

Israel wird offiziell und juristisch als jüdischer und demokratischer Staat definiert. Bedeutet das, dass nicht jüdische Bürger, wie die Araber, nicht wirklich dazugehören, sondern nur geduldet werden und und dass es fraglich ist, ob sie Bürgerrechte genießen dürfen? Bedeutet dies, dass Israel als solches in Wirklichkeit eine westliche Nation ist, die in den Nahen Osten (auch das ein westlicher Ausdruck) verpflanzt wurde?

Theodor Herzl, der Gründer der zionistischen Bewegung, wies in seinem grundlegenden Buch "Der jüdische Staat" darauf hin, dass wir in Palästina freiwillig für die westliche Zivilisation als Außenposten gegen die Barbarei dienen. An welche Barbaren dachte er da wohl?

Etwa 110 Jahre später drückte der damalige Ministerpräsident von Israel Ehud Barak dieselbe Idee mit anschaulichen Worten aus, als er Israel als "eine Villa im Dschungel" beschrieb. Auch in diesem Fall ist es leicht zu erraten, welche wilden Tiere er meint.

Seit der Massen-Immigration der orientalischen jüdischen Gemeinden nach Israel (und anderen Ländern) in den frühen 1950er Jahren, sind sehr wenige jüdische Gemeinden im Osten übrig geblieben und diese sind winzig und kläglich. Das Welt-Judentum konzentriert sich (oder besser: ist zerstreut) im Westen, besonders in den USA.

Die jüdisch-israelische Verbindung ist für Israel von immenser Bedeutung. Die beherrschende Stellung der jüdischen Gemeinde in der US-Politik garantiert die diplomatische Immunität der israelischen Regierung, was auch immer die Regierung tut und wer auch immer US-Präsident ist (und massive finanzielle militärische Unterstützung natürlich.)

(Falls morgen alle Juden der USA vom messianischen Eifer ergriffen werden und en masse nach Israel einwandern, wäre dies für den jüdischen Staat eine schreckliche Katastrophe.)

Andrerseits macht die Verbindung zwischen Juden und Israelis den Staat Israel in der Tat zu einem "westlichen Außenposten", wie es Herzl vorausgesehen hat, und das garantiert, dass der jüdische Staat sich für immer mit seinen geographischen Nachbarn im Kriegszustand befinden wird.


"FRIEDEN MIT den Arabern" ist ein Thema, das in Israel endlos diskutiert wird. Es ist die Trennungslinie zwischen "Rechts" und "Links".

Die vorherrschende Überzeugung ist: "Frieden wäre schön. Wir wollen alle Frieden. Leider ist Frieden unmöglich." Warum unmöglich? "Weil die Araber ihn nicht wollen. Sie werden keinen jüdischen Staat in ihrer Mitte akzeptieren. Nicht jetzt und niemals."

Auf diese Überzeugung gründet sich Benjamin Netanjahu, wenn er seine Friedensbedingung formuliert: "Die Araber müssen Israel als den Nationalstaat des jüdischen Volkes anerkennen."

Dies ist irrsinnig. Gewiss - die "Araber" müssen den Staat Israel anerkennen. Yasser Arafat hat dies offiziell und im Namen des palästinensischen Volkes am Vorabend des Oslo-Abkommens getan. Aber wie die Bürger Israels nun das Wesen ihres Staates und ihrer Regierung benennen, ist allein ihre Sache.

Wir erkennen China nicht als kommunistischen Staat an. Wir erkennen die USA nicht als kapitalistisches Land an und wir erkannten in der Vergangenheit die USA auch nicht als das Land weißer Protestanten an. Wir erkennen Schweden nicht als ein "schwedisches Land" an. Die ganze Sache ist lächerlich. Aber niemand innerhalb oder außerhalb Israels wagt es, Netanjahu aus seinem Traum aufzuwecken.

Aber in einem Punkt berührt Netanjahu etwas Fundamentales. Frieden zwischen Israel und Palästina - und infolgedessen zwischen Israel und der ganzen arabischen und muslimischen Welt - erfordert einen geistigen Wandel in Israel und in Palästina. Ein Stück Papier ist nicht genug.


AM VORABEND des Krieges von 1948, in dem der Staat Israel geboren wurde, veröffentlichte ich eine Broschüre: "Krieg oder Frieden in der semitischen Region". Sie beginnt mit den Worten:

"Als unsere Väter beschlossen, in Palästina eine "sichere Heimstätte" aufzubauen, mussten sie zwischen zwei Alternativen wählen:

Sie könnten in West-Asien als europäische Eroberer auftreten, die sich selbst als Brückenkopf der weißen Rasse und als Herren der Eingeborenen betrachten, wie die spanischen Konquistadoren und die angelsächsischen Kolonisten in Amerika. So machten es die Kreuzfahrer zu ihrer Zeit auch.

Der andere Weg wäre, sich selbst als ein asiatisches Volk zu sehen, das in seine Heimat zurückehrt..."

Ein Jahr später, fast am Ende des Krieges wurde ich schwer verwundet. Während ich im Krankenhaus lag - mehrere Tage ohne zu schlafen oder zu essen - hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, um aus meinen Erfahrungen als Frontsoldat Schlüsse zu ziehen. Mein Schluss war, dass ein arabisches palästinensisches Volk existiert, dass dieses Volk einen eigenen Staat benötigt, und dass niemals Frieden zwischen ihnen und uns herrschen wird, wenn nicht ein Staat Palästina neben unserem neuen Staat entsteht.

Das war der Anfang der "Zwei-Staaten"-Idee, wie sie jetzt diskutiert wird. Sie wurde damals von allen zurück gewiesen - von den Arabern, den USA und der Sowjet-Union. Und natürlich von den auf einander folgenden israelischen Regierungen. Golda Meir sagte den berühmten Satz: "So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht."

Heute ist die Zwei-Staaten-Lösung Welt-Konsens geworden. Die meisten Israelis akzeptieren sie, wenn auch nur theoretisch. Selbst Netanjahu gibt es von Zeit zu Zeit vor. Aber aus welchen Gründen?

Viele ihrer neuen Anhänger nehmen sie als willkommene Gelegenheit, beide Seiten voneinander zu "trennen". Wie Ehud Barak (der "Villa-im-Dschungel"-Mann) es ausdrückt: "Sie werden dort sein und wir werden hier sein".

Das wird so nicht gehen. Es ist eine negative Haltung. Einige ihrer Anhänger gehen in diese Richtung, weil sie - durchaus zu Recht - fürchten, dass im anderen Fall Eretz Israel zu Eretz Ishmael, einem bi-nationalen Staat mit einer arabischen Mehrheit wird. Im Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss existiert schon eine arabische Mehrheit. Jene, die einen "Jüdischen Staat" wollen, sind von der Zwei-Staaten-Lösung angezogen, aber aus falschen Gründen.

Aber das Hauptargument gegen diese Art von Denken ist dies: nach einem historischen Konflikt der schon fast 140 Jahre dauert, ist dies nicht genug, um Frieden zu schaffen. Man kann nicht einen historischen Frieden erlangen, wenn man seine Kriegs- und Konflikt-Mentalität beibehält.

Als ich im Krankenhaus lag, dachte ich das erste Mal über diese Lösung nach. Der Krieg war noch voll im Gange. Ich dachte nicht an "Trennung". Ich dachte über eine Versöhnung zwischen den beiden Völkern nach einem langen, langen Konflikt nach und ich dachte über zwei Völker nach, die Seite an Seite in zwei freien und nationalen Staaten leben würden, jedes unter seiner eigenen Flagge, ohne eine Mauer zwischen ihnen. In der Tat malte ich mir eine offene Grenze aus mit freiem Verkehr von Menschen und Waren.

Dieses Land - nenne es Palästina oder Eretz Israel - ist sehr klein. Darin in zwei sich feindlich gesinnten Staaten zu leben, wäre ein Alptraum. Deshalb ist irgendeine Art freier Vereinigung - ob nun Konföderation oder Föderation - die reine Notwendigkeit. Um es aufzurichten und zu erhalten, brauchen wir einen Geist der Versöhnung.

Nicht nur einen negativen Frieden, also die Abwesenheit von Krieg, einen kalten Frieden der gegenseitigen Beschuldigungen und Feindseligkeiten, sondern wir brauchen einen positiven Frieden, einen wahren Frieden, bei dem jede Seite die Grundmotive, die historische Narration und die Hoffnungen und Ängste der jeweils anderen Seite versteht.



IST DIES möglich?

Nun, zwischen Deutschland und Frankreich ist es nach vielen Jahrhunderten des Konfliktes, einschließlich zweier Weltkriege, schließlich geschehen.

Ja, ich glaube daran, dass es hier geschehen kann.

Nennt mich einen Optimisten - es gibt schlimmere Schimpfworte.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 17.09.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2016

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