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STANDPUNKT/590: Erdogans "Neue Türkei" auf dem Weg zur autoritären Herrschaft (spw)


spw - Ausgabe 4/2016 - Heft 215
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Erdogans "Neue Türkei" auf dem Weg zur autoritären Herrschaft

von Gülistan Gürbey


Die Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner seit 2002 regierenden AKP durchläuft seit längerer Zeit innen- und regionalpolitisch turbulente Zeiten. Einen Höhepunkt stellt der Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs gegen Erdogan und die Regierung vom 14./15. Juli 2016 dar. Für den gescheiterten Putschversuch macht Erdogan Fethullah Gülen und seine Bewegung verantwortlich, die als Terrororganisation FETÖ bezeichnet wird.

Der Putschversuch scheiterte vor allem mit Unterstützung der AKP-Anhänger, nachdem Erdogan in jener Nacht per Handyvideo an die Bürger appellierte, auf die Straße zu gehen und Widerstand zu leisten, um den Willen des Volkes durchzusetzen. Gestärkt wurde dieser Appell durch zeitgleich einsetzende Muezzin-Aufrufe in allen Moscheen des Landes. Dieser Aufruf und die Putschbilder verbreiteten sich sehr schnell in den sozialen Medien. Unter Ausrufen "Allahu Akbar" gingen Menschen in den Hauptzentren des Putschversuches Istanbul und Ankara auf die Straße und stellten sich gegen die Panzer. Damit bricht erstmals die Tradition der Militärputsche in der Türkei und ihre Unterstützung durch die Bevölkerung. Dies ist ein Novum und ein Sieg für die Demokratie.

Gleichwohl wirft das Ausmaß des Regierungshandelns und der angekündigten "Säuberungen" gegen die vermeintlichen Putschisten ernsthafte demokratiepolitische Fragen auf. Die Welle von Festnahmen, Verhaftungen und Entlassungen umfasst alle gesellschaftspolitischen Bereiche: Militär, Justiz, Polizei, Geheimdienst, Ministerien, öffentlicher Dienst, Wirtschaft, Unternehmen, Universitäten, Schulen, Bildungseinrichtungen, Medien, Presse etc. Grundlage dafür ist der befristete Ausnahmezustand, so dass die Regierung per Dekret vorbei am Parlament regieren kann. Nicht zuletzt rief Erdogan die Bevölkerung öffentlich dazu auf, Anhänger der Gülen-Bewegung zu denunzieren.

"Neue Türkei" vor und nach dem Putschversuch: Hyper-Nationalismus, Abbau von Demokratie, Zunehmender Autoritarismus

Dieses staatliche Handeln steht im Einklang mit dem innenpolitischen Entwicklungsprozess, der spätestens seit der brutalen Niederschlagung der pro-demokratischen Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013 an Ausmaß und Intensität ohnehin signifikant zunahm: ein autoritär-autokratischer Staats- und Regierungskurs unter Erdogan geprägt von Hyper-Nationalismus, Erosion der Demokratie, Eskalation der Gewalt und einer nationalistisch-religiösen, aggressiven Rhetorik. Letztere baut auf althergebrachte Muster, die bereits kemalistische Eliten nutzten. Die Einheit der Nation und die Sicherheit seien durch interne und externe Kräfteexistentiell bedroht.

Ziel dieses autoritären Staats- und Regierungskurses ist es, die absolute Kontrolle und Monopolisierung der Macht im Staate zu erlangen. Seither werden die demokratiepolitischen Grundlagen Schritt für Schritt abgebaut. Betroffen sind vor allem die Meinungs- und Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Schutz von Minderheiten. Maßnahmen wie die Schließung von Zeitungen, Fernsehsendern, Internetseiten, die Verhaftung von kritischen Journalisten, Wissenschaftlern, die Verabschiedung des inneren Sicherheitspakets vom Januar 2015, das einen "Polizeistaat" hervorbringt, sind Ausdruck dieses autoritären Regierungshandelns. Dazu gehört auch die seit Juli 2015 gestartete Kriegsstrategie gegen die Kurden. Sie gilt nicht nur der PKK. Auch die kurdische HDP wurde zur Zielscheibe, vor allem nachdem sie bei den Parlamentswahlen vom Juli 2015 die undemokratische 10-Prozent-Hürde überschritt und erstmals den Einzug ins Parlament schaffte. Der Wahlerfolg der HDP war eine Niederlage für die AKP, da sie die absolute Mehrheit verlor. Die neue Kriegsstrategie trug entscheidend dazu bei, dass die AKP bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom November 2015 die absolute Mehrheit zurückerlangte. Die Dämonisierung der HDP und ihrer Bürgermeister läuft seither auf Hochtouren. Ziel ist es, die politischen Errungenschaften der Kurden seit den 1990er Jahren, insbesondere was die lokale Governance angeht, zunichte zu machen und die demokratiepolitische Kraft der HDP zu brechen.

Noch vor dem Putschversuch erlangte die Regierung weitestgehend Kontrolle über Presse und Medien, so dass kritische Berichterstattung kaum noch möglich war und der Informationszufluss im Einklang mit den Regierungsstrategien lief. Bereits vor dem gescheiterten Putschversuch belegten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International enorme demokratiepolitische Rückschläge. Als "Partly Free" stuft Freedom House die türkische Demokratie ein; als dramatisch bezeichnet Human Rights Watch in seinem Türkei-Bericht 2015 die Kriminalisierung jeder Opposition gegen den immer despotischer auftretenden Staatspräsidenten und die Regierung, die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, die Repression gegen die Presse und die Missachtung des Rechts auf Leben in den kurdischen Gebieten. Diese Entwicklungen machten die Türkei immer instabiler. Es wäre im Interesse der EU, massiv dagegen zu protestieren. Hingegen sehen die AKP-Anhänger im türkischen Präsidenten den starken Mann, der die öffentlich vielfach prophezeite Bedrohung durch innere und äußere Mächte abwenden und die bedrohte Sicherheit gewähren kann.

Nun erhält der bereits laufende Prozess der Monopolisierung der Macht im Staate durch den Staatspräsidenten und seine regierende Partei einen weiteren Aufschub. Er ist kaum noch aufzuhalten, vor allem weil die Oppositionsparteien, die kemalistische CHP und ultranationalistische MHP den türkisch-nationalistischen Kurs von Erdogan und seiner Regierung aus Überzeugung unterstützen. Beide sind Teil der von Staatspräsident und seiner Regierung unter gezieltem Ausschluss der kurdischen HDP geschmiedeten und gefeierten "Allianz der nationalen Einheit". Bereits in der Vergangenheit hat es immer wieder "nationale Allianzen" dieser Art gegeben. Wesentlicher Grund dafür war und ist, dass beide Oppositionsparteien - CHP und MHP - jenseits politisch-taktischer Erwägungen den türkisch-nationalistischen Kurs von Erdogan und seiner Regierung aus Überzeugung unterstützen. Denn der türkische Nationalismus, der einhergeht mit einem historisch gewachsenen rigiden Verständnis von Staat und Nation, ist nach wie vor die einigende Kraft jenseits der parteipolitischen Differenzen. Und dieser von der CHP und der MHP unterstützte türkisch-nationalistische Regierungsdiskurs richtet sich in erster Linie gegen die Kurden und gegen die kurdische HDP, also jene einzige demokratiepolitische Kraft, die mehr Demokratie und Freiheiten einfordert und die Omnipotenz eines rigiden Staates und seiner Strukturen grundsätzlich ablehnt.

Auch wenn alles, was derzeit passiert, mit dem "Schutz der Demokratie und des Volkswillens" begründet wird und Kundgebungen für "Demokratie und Märtyrer" stattfinden, heißt es noch lange nicht, dass substantiell zugunsten der Demokratie gehandelt wird. Während bspw. die "nationale Allianz" und nationale Geschlossenheit gefeiert wird, wird die kurdische HDP als Teil der parlamentarischen Opposition gezielt aus parlamentarischen Prozessen (aktuell: die Erarbeitung einer neuen Verfassung) ausgeschlossen. Bedenkenswert ist, dass dieses Regierungshandeln auch noch von den Oppositionsparteien CHP und MHP tatkräftig unterstützt wird, obwohl dies einer Selbstentmachtung des Parlamentes und der parlamentarischen Demokratie gleichkommt.

Autoritarismus: Kein Novum, sondern eine historische Kontinuität

Historisch betrachtet ist das autoritäre Regierungshandeln im Kern nicht neu, sondern eine Reproduktion traditionell-autoritärer Staatsführung unter anderen Vorzeichen. Die kemalistischen Eliten haben jahrzehntelang so gehandelt, um eine Gesellschaft nach kemalistisch-ideologischen Wertevorstellungen zu formen und die absolute Macht zu erlangen. Die AKP übernimmt diese Strukturen, füllt sie aber mit genuinen Wertvorstellungen, um eine Gesellschaft nach eigenen Maßstäben zu errichten und ebenfalls die absolute Macht zu ergreifen.

Die Ursachen der Neigung zu Autoritarismus liegen in historisch gewachsenen systemimmanenten Defekten der türkischen Demokratie und im ideologischen Selbstverständnis der AKP. Zu den systemimmanenten Defekten zählen vor allem auf der Werteebene ein historisch gewachsenes, autoritäres Staatsverständnis, eine von Autoritarismus geprägte politische Kultur sowie begrenzte demokratische innere Verfasstheit von Parteien und ihre Unfähigkeit, auf den gesellschaftlichen Anpassungsdruck mit politisch-inhaltlichen Erneuerungen zu reagieren.

In ideologischer Hinsicht gehen diese Defekte auf die Gründungszeit der modernen Republik zurück und liegen im Primat eines rigiden türkischen Nationalismus. Damit verbunden war ein autoritäres Staats- und Nationenverständnis, das im Kern den Staat als unangreifbar und omnipotent und das Individuum im Dienste des Staates betrachtet. Die Fortführung dieser autoritären Staatstradition ging auch in der Vergangenheit auf Kosten der massiven Einschränkungen von demokratischen Grundfreiheiten, allen voran die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Schutz von Minderheiten. Auch bewirkte sie die Herausbildung von nicht legitimierten Akteuren und Parallelstrukturen im Staate mit dem Ziel, den Staat zu schützen, auch gegenüber gewählten Regierungen. Der türkische Begriff "Derindevlet" ("Tiefer Staat") steht für diese Staatstradition und ist ein Ergebnis des autoritären Staatsverständnisses.

Trotz gesellschaftlichen Wandels ist die historisch gewachsene autoritäre Staatstradition im Kern nicht behoben. Zwar standen und stehen strenge Kemalisten für den Schutz dieser autoritären Tradition, doch es ist nicht allein eine Frage der Kemalisten. Es geht um vielmehr: Die Sozialisierung des Kollektivs mit diesen Werten durchdrang alle staatlichen Institutionen und Strukturen und formierte eine politische Kultur, die in ihren Grundzügen nicht demokratisch fundiert, sondern autoritär ausgerichtet ist.

Erdogan und seine Regierung perpetuieren die autoritäre Staatstradition vor allem zur Konsolidierung und Erweiterung der Macht. Dabei spielt das Primat eines rigiden türkischen Nationalismus eine entscheidende Rolle. Es ist ein ideologisches Kernelement der AKP und zugleich der gemeinsame ideologische Nenner der AKP mit den Kemalisten und (Ultra-)Nationalisten. Genau darin liegt die Kontinuität eines Schlüsselelements des politischen Systems der kemalistischen Republik, die auch für Erdogans "Neue Türkei" unabdingbar ist: die Errichtung eines starken, omnipotenten Staates und seiner Dominanz über die Gesellschaft. Ferner kommen zum Hyper-Nationalismus zwei weitere ideologische Kernelemente der AKP hinzu - sunnitischer Islam und Neo-Osmanismus. Die Rückbesinnung auf die imperiale osmanisch-islamische Vergangenheit forciert das Bestreben nach absoluter hegemonialer Macht sowohl nach innen als auch nach außen. Die ideologische Einbettung der "Neuen Türkei" und die Maßnahmen der Regierung laufen auf einen autoritären, omnipotenten Staat hinaus, der türkisch/nationalistisch-sunnitisch/islamisch-neo-osmanisch geprägt ist und als Präsidialsystem die zentrale Machtposition von Erdogan als Staatspräsident sichert.

Ohne die Überwindung dieser autoritären Staatstradition zugunsten demokratischer Werteordnungen und demokratischer Institutionen, bleibt die Gefahr eines Autoritarismus - ob mit oder ohne Erdogan - weiterhin bestehen. So ist auch unter der AKP-Regierung der traditionelle Grundsatz von der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, der den Herrschaftsanspruch eines omnipotenten Staates und seiner Ideologie sichert, staatstragend. Dieser Grundsatz ist verfassungsrechtlich unveränderbar. Dass er im Rahmen einer neuen Verfassung geändert oder gänzlich verworfen wird, ist angesichts der Art und Weise, wie derzeit die Erarbeitung einer neuen Verfassung unter gezieltem Ausschluss der HDP erfolgt, nicht zu erwarten.

Externer demokratiepolitischer Ansatz unabdingbar

Die "türkische" Demokratie war bislang immer eine defekte Demokratie. Nun steuert diese defekte Demokratie in Eiltempo in Richtung Autoritarismus. Ob am Ende dieses Entwicklungsprozesses ein autoritär-diktatorisches Regime stehen wird, bleibt abzuwarten. Vieles wird auch davon abhängen, wie sich die Oppositionsparteien weiter verhalten und ob ein externer Druck durch die USA, die EU, aber auch Deutschland spürbar sein wird.

Um eine demokratisch-liberale Entwicklung der Türkei nachhaltig zu fördern, bedarf es eines neuen demokratiepolitischen Ansatzes. Denn zuverlässige und belastbare Partnerschaft setzt Stabilität voraus und Stabilität ist ohne demokratisch-liberale Entwicklung nicht zu erreichen. Der deutsche Beitrag bestünde demnach vor allem darin, die Türkei nicht ausschließlich aus der sicherheitspolitisch-strategischen Brille zu sehen und die demokratiepolitische Entwicklung hinten anzustellen. Hier müsste Berlin ein klares Signal setzen und konstruktiv handeln, um die demokratiepolitische Entwicklung und eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes konkret voranzutreiben. Ohne einen nachhaltigen Dialog mit demokratischen Kräften und Kurden ist ein konstruktiver Beitrag jedoch nicht zu erreichen. Bislang wurden die demokratischen Kräfte und die Kurden vernachlässigt. Nun gilt es, dies zu korrigieren. Erst am Ende einer solchen demokratiepolitischen Entwicklung wäre auch die EU-Mitgliedschaft eine logische Konsequenz.


Dr. habil. Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, FU Berlin.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2016, Heft 215, Seite 9-12
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2016

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