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STANDPUNKT/637: Deutschlands geopolitische Interessen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 13. März 2017
(german-foreign-policy.com)

Deutschlands geopolitische Interessen


BERLIN/ANKARA - Trotz der jüngsten Provokationen der türkischen Regierung hält Berlin an seiner umstandslosen Kooperation mit Ankara fest. Türkische Regierungsmitglieder hatten in den vergangenen Tagen mehrere EU-Staaten als "faschistisch" beschimpft und damit erneut heftige Proteste ausgelöst. Bereits seit langem laufen Menschenrechtsorganisationen sowie andere Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Sturm, weil Ankara brutal Menschen- und Bürgerrechte verletzt, eine Präsidialdiktatur einführen will und mittlerweile auch Bürger fremder Staaten willkürlich inhaftiert. Kanzlerin Angela Merkel hat in der vergangenen Woche erklärt, ihr Ziel sei es zu verhindern, dass die Türkei "sich noch weiter von uns entfernt"; deshalb müsse an der Zusammenarbeit festgehalten werden. Regierungsberater in der deutschen Hauptstadt weisen schon seit geraumer Zeit darauf hin, dass Ankara wohl ernsthaft über den Beitritt zu einem chinesisch-russischen Bündnis (Shanghai Cooperation Organisation, SCO) spekuliert - und dass Stimmen im türkischen Establishment zunehmend dafür plädieren, die NATO zu verlassen. Für das Weltmachtstreben Berlins, das aus geostrategischen Gründen auf die Kooperation mit Ankara setzt, wäre dies ein gravierender Rückschlag.

Drehscheibe Türkei

Die Motive für die bemerkenswerte Nachgiebigkeit Berlins gegenüber Ankara sind vielfältig. Eine gewisse Rolle spielen ökonomische Erwägungen. Die Türkei gehört zu den 15 größten Abnehmern deutscher Exporte; deutsche Unternehmen haben in dem Land Direktinvestitionen von rund 13,3 Milliarden Euro getätigt und nutzen es zunehmend als Drehscheibe für Geschäfte mit Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien. Allerdings stockt der Handel seit geraumer Zeit; im vergangenen Jahr fielen die deutschen Exporte in die Türkei fast auf das Niveau von 2013 und lagen damit noch hinter der deutschen Ausfuhr nach Ungarn. Darüber hinaus haben die jüngsten Massenverhaftungen auch Mitarbeiter, teilweise sogar Inhaber deutscher Unternehmen getroffen. Dennoch haben ökonomische Interessen aufgrund mannigfaltiger Risiken für die exportfixierte deutsche Industrie - die Eurokrise, der britische EU-Ausstieg, die Russland-Sanktionen sowie die Zolldrohungen der USA fordern ihren Tribut - beträchtliches Gewicht. Hinzu kommt, dass Ankara durch die Aufkündigung des Abkommens zur Flüchtlingsabwehr Berlin und die EU jederzeit erheblich unter Druck setzen könnte. Schließlich hat das deutsche Establishment die Türkei nach wie vor als Transitland für den Bezug von Energierohstoffen aus dem Mittleren Osten im Blick - aus Iran oder aus den kurdisch dominierten Gebieten des Irak.[1]

Die Bündnisfrage

Vor allem aber wiegt schwer, dass Ankara sich immer stärker von EU und NATO ab- und Russland zuwendet. Berliner Regierungsberater beobachten dies seit geraumer Zeit mit großer Sorge (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Tatsächlich hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Land nach mehreren erratischen Volten in der Außenpolitik zuletzt an die Seite Russlands geführt - und damit Erfolge erzielt: Ankara ist neben Moskau und Teheran eine der drei Garantiemächte des jüngsten syrischen Waffenstillstands. Es verhandelt mittlerweile mit Moskau über die Lieferung hochmoderner S-400-Flugabwehrraketen, die mit NATO-Standards nicht kompatibel sind; zudem "wollen Ankara und Moskau", wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berichtet, "einen gemeinsamen Mechanismus für militärische und Geheimdienstkooperation einführen" [3]. Darüber hinaus hat die türkische Regierung nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zahllose prowestlich orientierte Offiziere entlassen oder festgesetzt; "dem Bündnis", heißt es seither immer wieder, "fehlen deshalb heute Ansprechpartner im türkischen Militär".[4] Teile der herrschenden Kreise in Ankara stellten mittlerweile sogar die Bündnisfrage, konstatiert die SWP: "Türkische Think-Tanks deklinieren das Für und Wider eines Verbleibs in der Nato durch, und manche optieren klar für den Austritt."[5]

Alarmglocken

Die Frage, ob die Türkei ihre traditionelle Mitgliedschaft in der NATO aufgeben und dafür der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten könne, hat jetzt sogar die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) beschäftigt. Bei der hierzulande immer noch weithin unbekannten SCO handelt es sich um ein Bündnis, dessen Kern China und Russland bilden [6] und das sich bislang vor allem auf gemeinsame Schritte zur Grenzabschottung und zur Terrorbekämpfung konzentriert. Inzwischen führt die SCO allerdings auch Militärübungen durch; russisch-chinesische Manöver hat es inzwischen sogar im Mittelmeer gegeben. Für das kommende Jahr bereitet die SCO eine erste größere Erweiterungsrunde vor: Indien und Pakistan wollen Mitglieder werden. Russland setzt sich zudem für die Aufnahme Irans ein. Die Türkei ist seit 2012 "Dialogpartner" des Bündnisses; im November 2013 hat Staatspräsident Erdogan zum wiederholten Male erklärt, den vollen Beitritt anzustreben. "Angesichts der türkischen Charmeoffensive gegenüber der SCO sollten bei der EU und den USA die Alarmglocken schrillen", warnt die BAKS.[7] Zwar spreche vieles dafür, dass die Volksrepublik China die Aufnahme der Türkei verweigern werde. Doch sei es riskant, sich darauf zu verlassen: Das Land habe für den Westen einen allzu "hohen strategischen Wert".

Machtverlust

Tatsächlich wäre ein türkischer Bündniswechsel für Berlin ein schwerer Schlag. Es ginge nicht nur die als strategisch hochbedeutend eingestufte Landbrücke [8] in den Nahen und Mittleren Osten verloren. Auch im Schwarzen Meer, dessen Küsten heute zum größten Teil NATO-Mitgliedern und deren Verbündeten gehören, würde der Westen ganz empfindlich geschwächt. Sollte die Türkei in fernerer Zukunft tatsächlich der SCO beitreten, dann wäre - abgesehen von Russland - erstmals ein Bündnis mit außereuropäischem Schwerpunkt auf dem europäischen Kontinent präsent. Für das nach Weltmacht strebende deutsche Establishment wäre dies fatal.

Freie Hand für Ankara

Entsprechend laviert Berlin - und lässt Ankara freie Hand bei Exzessen jeder Art. Schon lange prangern Menschenrechtsorganisationen schwere Verbrechen der türkischen Streitkräfte im Krieg gegen Teile der kurdischsprachigen Minderheit an. Lange Zeit hat Ankara unter Erdogan jihadistische Terrororganisationen unterstützt.[9] Die neue Verfassung, die Ankara jetzt vorbereitet hat und mit einem Referendum Mitte April endgültig absegnen lassen will, läuft faktisch auf die Errichtung einer Präsidialdiktatur hinaus. Laut Angaben der Website "Turkey purge" sind seit dem 15. Juli 2016 im Rahmen von "Säuberungen" in der Türkei 128.625 Menschen entlassen, 94.224 Menschen festgenommen und 46.875 Menschen inhaftiert worden; 149 Medien wurden geschlossen, 162 Journalisten ins Gefängnis gesteckt. Betroffen sind mittlerweile auch mindestens sechs deutsche Staatsbürger [10], darunter der deutsche Journalist Deniz Yücel. Berlin nimmt ihre Inhaftierung ohne echte Gegenwehr hin, erfüllt hingegen Forderungen aus Ankara: Wie jetzt bekannt wurde, dürfen Bilder des PKK-Anführers Abdullah Öcalan nicht mehr öffentlich gezeigt werden; dies hatte die türkische Regierung immer wieder verlangt.

"Keine Emotionen!"

Kanzlerin Merkel hat den Berliner Kurs vergangene Woche in ihrer Regierungserklärung ausdrücklich bestätigt: "Unser außen-, sicherheits- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt."[11] Ähnlich äußern sich Kommentatoren. "Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten", hieß es bereits im November in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[12] "Die NATO hat der Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür gewiesen", formuliert der außenpolitische Hauptstadtkorrespondent der Wochenzeitung Die Zeit: "Sie muss heute wegen Erdogan nicht die Nerven verlieren."[13] Es gelte vielmehr, "kühl" mit Ankara zu verhandeln; dann werde sich "das Verhältnis schon deshalb entspannen, weil die Emotionen verschwinden". Sonst riskiere man, dass ein offenbar übergeordnetes Gut Schaden nehme: der "Zusammenhalt der NATO".


Anmerkungen:

[1] S. dazu Operationsstützpunkt Türkei.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59372

[2] S. dazu Folter? Kein Hinderungsgrund!.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59530

[3] Günter Seufert: Noch mehr Distanz zum Westen. SWP-Aktuell 6, Januar 2017.

[4] Michael Thumann: Abschied von Europa. In: Internationale Politik März/April 2017. S. 71-75.

[5] Günter Seufert: Noch mehr Distanz zum Westen. SWP-Aktuell 6, Januar 2017.

[6] Der SCO gehören neben China und Russland vier zentralasiatische Staaten an: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan.

[7] Jan Gaspers, Mikko Huotari, Thomas Eder: Kann die Türkei die Shanghai-Karte spielen? Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 6/2017.

[8] S. dazu Freunde, kommt zu uns!.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59147

[9] S. dazu Das Spiel mit dem Terror.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59147

[10] Rainer Hermann: Sechs deutsche in türkischer Haft. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.03.2017.

[11] Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel in Berlin vor dem Deutschen Bundestag. 09.03.2017.

[12] Michael Martens: Mit Erdogan verhandeln. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.11.2016. S. dazu Folter? Kein Hinderungsgrund!.

[13] Michael Thumann: Abschied von Europa. In: Internationale Politik März/April 2017. S. 71-75.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2017

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