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STANDPUNKT/673: Blind für Gaza (Uri Avnery)


Blind für Gaza

von Uri Avnery, 8. Juli 2017


ICH MUSS ein ungewöhnliches Bekenntnis ablegen: Ich liebe Gaza.

Ja, ich liebe den schmalen Streifen auf dem Weg nach Ägypten, diese abgelegene Ecke Palästinas, in der zwei Millionen Menschen zusammengedrängt leben, und die der Hölle näher ist als dem Himmel.

Mein Herz wendet sich ihnen zu.


ICH HABE viel Zeit im Gazastreifen verbracht. Ein- oder zweimal verbrachte ich mit Rachel einige Tage dort. Wir freundeten uns mit einigen Leuten an, die ich bewunderte, Menschen wie Dr. Haidar Abd-Al-Shafi, dem linken Arzt, der das Gaza-Gesundheitssystem aufbaute und Rashad al Shawa, dem ehemaligen Bürgermeister und geborenen Aristokraten.

Als Yasser Arafat nach dem Oslo-Abkommen wieder ins Land zurückkam und sein Büro in Gaza eröffnete, traf ich ihn viele Male. Ich brachte Gruppen von Israelis zu ihm. An seinem ersten Tag setzte er mich auf das Podium neben sich. Ein Foto von diesem Ereignis sieht jetzt wie Science-Fiction aus.

Ich habe sogar die Hamas-Leute kennen gelernt. Als Yitzhak Rabin vor Oslo 415 islamische Aktivisten aus dem Land vertrieb, nahm ich an der Errichtung von Protest-Zelten gegenüber seinem Büro teil. Wir lebten zusammen: Juden, Christen und Muslime - und dort wurde auch Gush Shalom geboren. Als die Deportierten nach einem Jahr zurückkommen durften, wurde ich zu einem öffentlichen Empfang für sie nach Gaza eingeladen und es ergab sich, dass ich zu Hunderten von bärtigen Gesichtern sprach. Unter ihnen waren einige der heutigen Hamas-Führer.

Deshalb kann ich die Bewohner des Gazastreifens nicht wie eine gesichtslose graue Masse von Menschen betrachten. Ich dachte während der letzten schrecklichen Hitzewelle unaufhörlich an sie, an Menschen, die unter furchtbaren Bedingungen, ohne Strom und Klimaanlage, ohne sauberes Wasser und ohne Medizin für die Kranken dahinvegetieren. Ich dachte an jene, die jetzt in während der letzten Kriege schwer beschädigten und nicht wieder reparierten Häusern leben. An die Männer und Frauen, die Alten, die Kinder, die Kleinkinder und die Babys.

Mir blutete das Herz und ich fragte mich: Wer ist daran schuld?

Ja, wer ist schuld an dieser fortgesetzten Brutalität?


DEN ISRAELIS zufolge "sind die Palästinenser selbst schuld". Tatsache ist: die palästinensische Führung in Ramallah hat entschieden, die Lieferung von elektrischem Strom nach Gaza von drei auf zwei Stunden zu beschränken. (Der Strom wird von Israel geliefert und von der Palästinensischen Behörde in Ramallah bezahlt)

Dies scheint wahr zu sein. Der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde, die von der Fatah geführt wird, und der palästinensischen Führung in Gaza, die von der Hamas bestimmt wird, gerät an einen hässlichen Höhepunkt.

Der nicht beteiligte Zuschauer fragt sich, wie kann das nur sein? Schließlich ist das ganze palästinensische Volk in existentieller Gefahr. Die israelische Regierung tyrannisiert alle Palästinenser, in der Westbank und im Gazastreifen. Sie hält den Gazastreifen unter einer strangulierenden Blockade: vom Land, vom Meer und von der Luft und baut Siedlungen in der ganzen Westbank, um die Bevölkerung zu vertreiben.

Wie können die Palästinenser in dieser verzweifelten Situation gegeneinander kämpfen - zum offensichtlichen Entzücken der Besatzungsbehörden?

Das ist schrecklich, aber traurigerweise nicht einmalig. Im Gegenteil, fast in allen Befreiungskämpfen ist Ähnliches geschehen. Während des irischen Kampfes um Unabhängigkeit kämpften die Freiheitskämpfer gegeneinander und erschossen sich sogar gegenseitig. Während unseres eigenen Kampfes um Staatlichkeit lieferte die Untergrund-Haganah die Irgun-Kämpfer an die britische Polizei aus, die sie folterte. Später hat die Haganah sogar ein Schiff beschossen, das der Irgun Rekruten und Waffen brachte.

Aber diese und viele andere Beispiele rechtfertigen nicht, was jetzt in Gaza geschieht. Der Kampf zwischen Fatah und Hamas, der auf dem Rücken von zwei Millionen Menschen ausgetragen wird, verurteilt diese zu unmenschlichen Bedingungen.

Als alter Freund des palästinensischen Volkes in ihrem Befreiungskampf bin ich sehr traurig.


ABER AN DER furchtbaren Blockade Gazas sind noch andere beteiligt.

Israel kann den Streifen nur von drei Seiten blockieren. Die vierte Seite ist die ägyptische Grenze. Ägypten, das in der Vergangenheit wegen der palästinensischen Brüder vier größere Kriege gegen Israel geführt hat (in einem von ihnen wurde ich von einem ägyptischen Maschinengewehr verletzt) nimmt jetzt an der grausamen Blockade des Streifens teil.

Was ist geschehen? Wie ist es geschehen?

Jeder, der das ägyptische Volk kennt, weiß, dass es eines der attraktivsten Völker auf Erden ist. Ein sehr stolzes Volk. Ein Volk voller Humor, sogar unter den schwierigsten Umständen. Mehrere Male hörte ich in Ägypten Phrasen wie "wir mögen die Palästinenser nicht besonders, aber sie sind unsere armen Cousins und wir können sie unter keinen Umständen allein lassen!"

Und das tun sie jetzt. Sie haben sie nicht nur verlassen, sondern arbeiten mit der grausamen Besatzung zusammen.

Warum dies? Weil die lokalen Herrscher in Gaza religiöse Fanatiker sind, genau wie die muslimischen Brüder in Ägypten, die die Todfeinde des heutigen Pharaos General Abd al-Fatah a Sissi sind. Wegen dieser Feindschaft werden Millionen Menschen in Gaza bestraft.

Jetzt geht ein Gerücht um, dass Ägypten einlenken würde, wenn die Gazaner mit einem ägyptischen Strohmann als Herrscher einverstanden wären.

Die israelische Blockade von Gaza ist vollkommen von der ägyptischen Blockade abhängig. Das stolze Ägypten, das behauptet, der Führer der ganzen arabischen Welt zu sein, ist zur Dienerin der israelischen Besatzung geworden.

Wer hätte das je geglaubt?


ABER DIE Hauptverantwortung für die Brutalität in Gaza liegt natürlich bei uns, bei Israel.

Wir sind die Besatzer - eine neue Art von Besatzung durch Blockade.

Die Rechtfertigung liegt auf der Hand: Sie wollen uns vernichten. Das ist die offizielle Doktrin der Hamas. Die Maus stößt entsetzliche Drohungen gegen den Elefanten aus.

Stimmt. Aber...

Aber wie alle religiösen Leute finden sie hundert verschiedene Wege, um Gott zu täuschen und seine Verbote zu umgehen.

Die Hamas hat erklärt, wenn Mahmoud Abbas mit Israel Frieden schließt und wenn das palästinensische Volk den Frieden durch eine Volksabstimmung bestätigen würde, dann würde Hamas dies akzeptieren.

Dazu gestattet der Islam eine Hudna (einen Waffenstillstand) mit Ungläubigen für unterschiedlich lange Zeit - 10, 50, 100 Jahre. Danach wird man sehen - Allah ist groß.

Auf vielerlei verborgene Art und Weise kooperiert Israel mit der Hamas, besonders gegen die noch extremeren Islamisten im Streifen. Wir könnten leicht einen Modus vivendi finden.


WARUM MUSS also das Volk in Gaza so schwer leiden? Keiner weiß das wirklich. Wegen der geistigen Unbeweglichkeit der Besatzung. Weil wir es so gewöhnt sind.

Hier ist eine geistige Übung. Was, wenn wir genau das Gegenteil machen?

Was, wenn wir dem Volk im Gaza-Streifen verkünden: Die palästinensische Behörde in Ramallah zahlt jetzt nur für zwei Stunden am Tag den Strom. Aber weil Israel euer Leiden sieht, hat es sich entschieden euch 24 Stunden lang kostenlos den Strom zu liefern.

Wie würde sich das auswirken? Wie würde Hamas reagieren? Wie würde das die Gewalt reduzieren und die Sicherheitskosten?

Auf lange Sicht gibt es viele israelische und internationale Pläne. Eine künstliche Insel im Mittelmeer vor Gaza. Ein Flugplatz auf der Insel. Ein Tiefseehafen.

Oder ein faktischer Frieden, auch ohne Friedenserklärung.

Ich glaube, dass dies der weiseste Weg wäre, den man gehen sollte. Aber leider hat die Weisheit wenige Chancen.


UNTERDESSEN GEHT die Brutalität weiter. Zwei Millionen Menschen leiden unter unmenschlicher Bedingungen.

Und die Welt? Sie ist leider zu beschäftigt. Sie hat keine Augen für Gaza. Es ist besser, nicht an diesen fürchterlichen Ort zu denken.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 08.07.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2017

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