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STREITSCHRIFT/022: Nachlese zum "Tag der Deutschen Einheit" (Hans Fricke)


Nachlese zum "Tag der Deutschen Einheit"

Von Hans Fricke, 5. Oktober 2009


Kaum einer der führenden Politiker unseres Landes, die am 3. Oktober mit selbstzufriedenen Mienen und nicht minder selbstzufriedenen Reden und Erklärungen per Bildschirm Gäste in bundesdeutschen Wohnzimmern waren, wird in seiner Feierlaune einen Gedanken daran verschwendet haben, dass zur Bilanz von 19 Jahren deutsche "Einheit" neben vielen anderen sozialen Ungerechtigkeiten die skandalöse Tatsache gehört, dass immer mehr lohnabhängig Beschäftigte gezwungen sind, nur noch für Miete, Strom und Lebensmittel in bescheidenem Umfang zu arbeiten. Unbezahlte Überstunden, gar nicht oder nur dürftig bezahlte Praktikanten, Löhne von zwei und drei Euro pro Stunde, Menschen, die trotz harter Arbeit, einer 60- und mehr Stundenwoche nur noch durch staatliche Leistungen überleben können und Chefs, die sogar die Trinkgelder ihrer Beschäftigten kassieren, macht das von ver.di und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten initiierte "Niedriglohn-Barometer deutlich.

1267 Arbeitnehmer gaben bundesweit im Internet Auskunft über Einkommen, Arbeitsbedingungen und ihre persönliche Situation. Immer häufiger verdrängen Mini-Jobs reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet bereits im Niedriglohnsektor - das sind bundesweit mehr als 6,5 Millionen Menschen.
Im Gebäudereinigungshandwerk, in der Landwirtschaft, im Handel, in Callcentern, Friseursalons und Hotels, bei Wachdienstfirmen und in vielen anderen Bereichen arbeiten immer mehr für immer weniger. Und auch eine exzellente Ausbildung schützt keineswegs vor niedriger Entlohnung.

Die meisten Dumpinglöhne wurden aus Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt gemeldet, sagt NGG-Sprecherin Silvia Tewes. Viele Niedriglöhner müssten das schmale Gehalt mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. "Ich kann nicht mehr zahlen, hol dir den Rest vom Amt." - dieser Spruch sei bei Arbeitgebern inzwischen normal. Nach Ansicht von Tewes wird auf diese Weise "Ausbeutung durch Steuermittel subventioniert".
Die Ergebnisse der Internetumfrage sind erschreckend: Ein Fahrer einer Lieferfirma für Tiefkühlkost zum Beispiel gab an, bei 70 bis 80 Stunden pro Woche auf einen Bruttolohn von maximal 800 Euro zu kommen. Die Ostsee-Zeitung, Rostock, veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 5. Oktober 2009 die folgenden Antworten aus dem Internet-Fragebogen aus Mecklenburg-Vorpommern:

Wachdienst-Mitarbeiter

Wir müssen bei 4,50 Euro brutto pro Stunde mindestens 200 Stunden im Monat arbeiten gehen, um ungefähr 1000 Euro brutto zu bekommen, Wochenenden und Feiertage eingeschlossen. Davon kann man nicht leben und die Familien kennen uns kaum noch. Und dafür hat man dann am Zahltag gerade mal rund 800 Euro auf dem Konto. Das ist keine Motivation."
"Bruttoarbeitslohn von 860,60 Euro (Stundenlohn: 4,40 Euro brutto): Ich arbeite nur für Miete, Strom und ein paar Lebensmittel."

Bäckereiverkäuferin

"Als Verkäuferin arbeite ich seit Mai in einer Bäckerei. Der Bruttostundenlohn von 5,55 Euro wird nur auf dem Papier erreicht. Die Arbeitszeit wird von Ladenöffnung um 6 Uhr bis zum Ladenschluss um 17 Uhr berechnet. Die Arbeiten vor Ladenöffnung und die Putzarbeiten nach Ladenschluss werden nicht als Arbeitszeiten gesehen. Das heißt, meine Kolleginnen und ich arbeiten 1 bis 1,5 Stunden am Tag unentgeltlich. Letzte Woche habe ich 68 Stunden gearbeitet. Die unbezahlten Stunden vor und nach den Öffnungszeiten nicht mit eingerechnet."
"Bilden sich Freundschaften unter Kollegen, die zusammen arbeiten, werden diese prompt getrennt. Willkür und Schikane sind an der Tagesordnung. Auch Geiz. Das ist moderne Sklaverei. Die Chefs haben es nicht verstanden, dass ein Unternehmen mit seinen Mitarbeitern wächst oder fällt und sie nutzen das Zeitalter von Hartz-IV schamlos aus."

Taxiunternehmer

"Als Besitzer eines Taxiunternehmens bin ich bereit, 7,50 Euro zu zahlen. Leider beauftragen die Kommunen aber oftmals Firmen, die Dumpinglöhne zahlen. Ich frage mich, wie ich da noch mithalten soll."

Callcenter-Agent

"Ich bin 25 Jahre alt, habe zwei Kinder, vier und sieben Jahre, und lebe mit meinem Partner zusammen. Ich arbeite seit einiger Zeit im Callcenter für fünf Euro brutto die Stunde - ein Witz. Leider gibt es für mich keine andere mögliche Tätigkeit, da ich durch die Kita-Öffnungszeiten nur von sieben bis 16 Uhr arbeiten kann. Daher ist der Job eine Notlösung. Denn für monatlich 600 Euro brutto arbeitet keiner freiwillig. Viele meiner Kollegen arbeiten ebenfalls 30 Stunden die Woche, viele sogar 40. Zusätzlich darf die Mannschaft auch noch jedes vierte Wochenende einen Sonnabend für sechs Stunden arbeiten. Angeblich darf man die Tage dann irgendwann mal abbummeln - aber diese Versprechen verlaufen meist im Sand."
"Ich bin im Bereich der technischen Hotline tätig und habe einen 30-Wochenstunden-Arbeitsvertrag mit täglich wechselndem Schichtsystem. Die Schichtpläne sind maximal auf 14 Tage ausgerichtet, sodass eine familiäre Planung darüber hinaus nicht möglich ist. Mein Stundenlohn beträgt 6,50 Euro brutto und der monatliche Netto-Lohn beläuft sich im Durchschnitt auf 650,00 Euro. Ich fahre täglich insgesamt 80 Kilometer, das bedeutet 130 Euro-Benzinkosten pro Monat. Von Seiten meines Arbeitgebers erfolgt keine Fahrtkostenrückerstattung. Abzüglich der Fahrtkosten beträgt mein verfügbares Nettoeinkommen für den Lebensunterhalt 520 Euro. Schichtzuschläge erhalte ich nicht. Über die jährliche Einkommensteuererklärung könnte ich die Aufwendungen für die Fahrtkosten geltend machen, bekomme hier aber nichts zurück, da ich im Jahr nur rund 38 Euro Steuern zahle."

Für die mit Dumpinglöhnen abgespeisten Arbeitnehmer bedeuten ihre Mini-Einkommen auch Mini-Renten. Wer schon heute nicht genug verdient, um einigermaßen über die Runden zu kommen, geht im Alter erst recht am Bettelstab. Und die Partei, die die diese schamlose Ausbeutung ohne Skrupel hartnäckig verteidigt, lässt durch ihren Vorsitzenden Guido Westerwelle erklären, dass es mit ihr den Mindestlohn nicht geben wird. Der Staat solle sich nicht einmischen. Oder höchstens dann, um den ALG-II-Empfängern etwas wegzunehmen, um den von Westerwelle geforderten fühlbaren Unterschied zwischen durch Arbeit verdientem und durch Sozialhilfe ausgeschüttetem Geld herzustellen. Seine bis zum Überdruss strapazierte größte politische Manifestation: "Arbeit muss sich wieder lohnen" war nichts anderes als Bauernfängerei, denn dass damit nicht gemeint ist, die Löhne zu erhöhen, steht außer Zweifel. Für diesen Frontmann der Besserverdienenden sind Leute, die keine Arbeit haben, Schmarotzer an der Gesellschaft. Er ist der Führer der sich selbst so nennenden Leistungsbereiten. Das sind Leute, die unheimlich viel für sich persönlich und ihre Klientel leisten und dabei, ohne mit der Wimper zu zucken, in Kauf nehmen, dass dafür Millionen ehrlich und fleißig arbeitende Menschen mit ihren Familien heute und im Alter finanziell auf der Strecke bleiben.

Die Republik im gelben Fieber, die beiden sogenannten Volksparteien verdientermaßen weiter geschwächt und ein ehemaliger Politclown als künftiger Außenminister, den die Profite der "Leistungsträger" über alles gehen. Da fragen sich viele: Womit haben wir das verdient? Doch das Votum der Wähler, auch wenn es knapp war, hat uns diese Lage beschert.

Klar dürfte sein, dass die sich gern sozialdemokratisch gebende Kanzlerin Merkel passe ist. Denn die Druckverhältnisse bei Schwarz-Gelb sind alles andere als die in der großen Koalition. FDP und CDU-Wirtschaftsflügel zielen auf einen neoliberalen Umbau, wobei die CSU dafür und dagegen ist. Wenn sich der Nebel gelichtet hat, wird zum Vorschein kommen, worum es in den nächsten vier Jahren geht: Weniger sozialer Ausgleich, Steuersenkungen für Besserverdienende finanziert durch eine höhere Mehrwertsteuer und höhere Belastung der Kranken bei explodierenden Gewinnen des Pharma-Kartells. Genau dafür ist die FDP mit wirksamer Unterstützung durch die Konzern-Medien gewählt worden.

Die entstandene Lage und zu erwartenden dramatischen Folgen der neoliberalen Politik von Schwarz-Gelb haben am 3. Oktober mehr als 500 Teilnehmer der zum dritten Mal stattfindenden Protestveranstaltung des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV) zum "Tag der Deutschen Einheit" veranlasst, eine Willensbekundung anzunehmen, in der es unter anderem heißt:

"Mit dem Anschluss der DDR an die BRD am 3. Oktober wäre es die Pflicht der Bundesregierung gewesen, das Grundgesetz zu achten und zu gewährleisten, dass auch das vereinigte Deutschland an keinen militärischen Einsätzen im Ausland teilnimmt. Dieses Ansinnen aller friedliebenden Bürger wurde zutiefst enttäuscht. Deshalb fordern wir den unverzüglichen Ausstieg aus militärischen Einsätzen im Ausland (...) 

Viele Bürger hatten vor 19 Jahren die Illusion, gleichberechtigte Partner in einer sozialen Marktwirtschaft zu sein. Stattdessen verstärkte das Kapital die Ausbeutung und leitete mit Hilfe der Bundesregierung einen umfassenden Sozialabbau ein, dessen Kern Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind. Wir fordern wirkungsvolle Maßnahmen zur existenzsichernden Arbeit für alle arbeitsfähigen Bürger. Wir fordern eine radikale Senkung der gesetzlichen Arbeitszeit. Wir fordern die Einhaltung des Sozialpaktes der UNO.

Den Bürgern der DDR wurden blühende Landschaften und eine Verbesserung ihrer Lebenslage versprochen. Stattdessen ist der Osten Deutschlands in großen Teilen durch Deindustrialisierung, Überalterung und Abwanderung gekennzeichnet. Große Gebiete Ostdeutschlands wurden zu Armutsregionen mit risikovoller Zukunft. Wir fordern wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Verarmung, Entvölkerung und Entrechtung der Menschen Ostdeutschlands (...) 

Das Rentenrecht wird nach 19 Jahren immer noch in "West" und "Ost" unterschieden, angewendet und für viele Bürger als Rentenstrafrecht praktiziert. Wir fordern in Interesse der jetzigen und zukünftigen ostdeutschen Rentnergenerationen die umgehende Anpassung des Rentenwert-Ost an den aktuellen Rentenwert (...) 

Durch den Beitritt der DDR an die BRD bestanden Möglichkeiten, die Erfolge des Bildungswesens der DDR auf Gesamtdeutschland zu übertragen. Stattdessen werden einem großen Teil der Jugend Bildung und Ausbildung vorenthalten und deutlich gemacht, dass sie nicht gebraucht wird und überflüssig ist. Wir fordern eine grundlegende Reform des Bildungssystems der BRD, damit die Jugend aus allen Elternhäusern in gegenseitiger Achtung und gleichberechtigt an der Bildung teilnehmen kann (...)" 

Die eingangs erwähnten Politiker, an ihrer Spitze der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin, die großen Wert darauf legen zu betonen, dass sie ihr hohes Amt im Interesse aller Deutschen ausüben, müssen sich fragen lassen, wie lange noch sie sich mit Hilfe ihrer maßlosen Hetze gegen die DDR, die in diesem "Super-Jubiläumsjahr" einem neuen Höhepunkt zustrebt, an diesen existenziellen Forderungen vorbeimogeln wollen.

An der unstrittigen Tatsache, dass im "Unrechtsstaat" DDR seine Bürger vier Jahrzehnte in Frieden lebten, Angehörige ihrer Armee nicht im Ausland für Profitinteressen des Kapitals ihr Leben lassen mussten, jeder eine zumutbare Wohnung und sein geregeltes Auskommen hatte, seine Zukunft real planen konnte, seinen Kindern eine kostenlose moderne Bildung, der ganzen Familie eine ebenfalls kostenlose und moderne medizinische Behandlung zuteil werden lassen und der Pflege im Alter ohne finanzielle Sorgen entgegensehen konnte, sich von "Arbeitgebern" nicht demütigen, schikanieren, rigoros ausbeuten und wie den letzten Husten behandeln lassen musste, lässt sich auch 19 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 nicht durch Totschweigen oder durch Dummschwätzerei aus der Welt schaffen.

Was die Bundesbürger brauchen, sind keine politischen Worthülsen, unglaubwürdige Wahlversprechen, Spektakel mit importierte Riesenpuppen auf der Berliner Festmeile und Vertröstungen auf die Zukunft, sondern hier und heute endlich eine reale Politik im Interesse der übergroßen Mehrheit unserer Bevölkerung.

Es bleibt zu hoffen, das der Regierung Merkel II eine massive linke Phalanx entgegen tritt, wie man sie in diesem Land lange nicht mehr gesehen hat.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009