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STREITSCHRIFT/034: Raus aus Afghanistan! (Hans Fricke)


Raus aus Afghanistan!

Von Hans Fricke, 11. April 2010


Der Tod von drei Bundeswehrsoldaten, ihre zum Teil schwer verletzten acht Kameraden und die Lage in Afghanistan werfen Fragen auf, denen sich die Bundesregierung nicht mehr länger entziehen darf. Während sich über 80 Prozent der befragten Bundesbürger für einen Abzug der Bundeswehr aussprechen und die Friedensbewegung einen schnellen und kompletten Abzug fordert, beharrt Bundeskanzlerin Merkel (CDU) unterstützt von ihrem Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) trotzig auf eine Fortsetzung dieses grundgesetzwidrigen Krieges.

Auch der Friedensforscher Peter Strutinsky verlangt den kompletten Rückzug in den nächsten Monaten. "Die Anwesenheit fremder Truppen in Afghanistan seit 2001 hat nicht eines der dortigen Probleme gelöst, sondern viele Probleme verschärft", sagte Strutynski der "Frankfurter Rundschau". "Deshalb müssen alle Soldaten raus", forderte der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel. Nach einem Abzug der ausländischen Truppen werde es sicherlich nicht sofort Frieden in Afghanistan geben. "Doch auch jetzt herrscht dort kein Frieden. Mit einem Abzug geben wir die Verantwortung zurück in die Hand der Afghanen. Sie müssen sich zusammenraufen", sagte Strutynski. Auch der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Renke Brahms, erklärte am 7. April 2010, die Frage nach einer neuen Strategie in Afghanistan sei drängender denn je.

Die Bundesregierung sollte mittlerweile begriffen haben, dass ihr jahrelanges Gerede von der "Verteidigung Deutschlands am Hindukusch", von humanitärer Aufbauhilfe und von den Segnungen westlicher Freiheit und Demokratie für die Afghanen von den Bundesbürgern kaum noch ernst genommen wird. Sie wissen inzwischen von der barbarische Kriegsführung der US-Armee und ihrer Verbündeten, von den Zerstörungen, dem Leiden und Sterben unschuldiger Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Und mit jedem Kriegsmonat, jedem Kriegsverbrechen der Besatzer und jedem getöteten oder verwundeten Bundeswehrsoldaten nehmen Skepsis und Misstrauen zu, dass es dem Westen mit seiner Aggression in Afghanistan nicht um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie am Hindukusch, sondern um die strategische Lage Afghanistans, um den wirtschaftlichen und militärischen Einfluss von USA und NATO in diesem Zentrum zwischen China, Iran, Pakistan, Indien und den asiatischen früheren Sowjet-Republiken und um die Ausbeutung der riesigen Erdöl- und Erdgaslagerstätten im Raum des Kaspischen Meeres geht. Das unterstrich auch der frühere britischen Umweltminister Michael Meacher mit seiner öffentlichen Erklärung, dass "die Pläne militärischer Aktionen gegen Afghanistan und Irak weit vor dem 11.9. ausgearbeitet waren" und Bestandteil des Planes "für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert" sind, wobei die Anschläge am 11.9. "den Vereinigten Staaten einen idealen Vorwand" gaben, "den Plan für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert (PNAC) umzusetzen und Gewalt zur Sicherung der Weltherrschaft einzusetzen".

Was die deutsche Bevölkerung von ihren kriegsbegeisterten Politikern zu erwarten hat, machte bereits der damalige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) in einem Vortrag an der Universität Heidelberg am 27. November 2001 deutlich, als er über mögliche künftige Einsatzgebiete auch der Bundeswehr sagte: "Ein Beispiel hierfür wäre der Kaspische Raum - das Dreieck zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und dem Mittleren Osten - der als Folge einer Reihe destabilisierender Faktoren, wie religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen oder die strittige Nutzung und Verteilung der strategischen Ressourcen Öl und Gas, leicht zur Krisenregion der nächsten Jahrzehnte werden kann." Deutlicher kann man die neuerlichen Großmachtpläne des deutschen Imperialismus und Militarismus und den Auftrag ihrer Bundesregierungen zu ihrer Durchsetzung wohl kaum formulieren. Und sein Nachfolger, der "Deutschland am Hindukusch-Verteidiger" Peter Struck (SPD), setzte noch eins drauf, indem er erklärte: "Meine weiteren Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass der Schwerpunkt der Aufgaben der Bundeswehr auf absehbare Zeit im multinationalen Einsatz und jenseits unserer Grenzen liegen wird." Und weiter: "Für die Bundeswehr stehen Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie zur Unterstützung von Bündnispartnern auch über das Bündnisgebiet hinaus im Vordergrund. Die ausschließlich für die Landesverteidigung vorgehaltenen Fähigkeiten werden in aktiven Strukturen nicht länger benötigt."

Was stören diese der Verfassung verpflichteten Minister und ihre Regierungschefs die grundlegenden Festlegungen der Artikel 87a und 115a des Grundgesetzes, wonach die Streitkräfte nur zur Verteidigung eingesetzt werden dürfen und dass der "Verteidigungsfall" vorliegt, wenn "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht".

Neununddreißig getötete Bundeswehrsoldaten, viele Verwundete und nach Angaben der Selbsthilfeorganisation für Soldaten "SKARBÄUS" mindestens 3.000 an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) leidende ehemalige in Afghanistan eingesetzte Soldaten hat diese Politik bis heute bereits zur Folge, von den nach vielen Tausenden zählenden Opfern unter der afghanischen Zivilbevölkerung gar nicht zu reden und ein Ende ist - geht es nach dem Willen der politisch Verantwortlichen der USA und der BRD - nicht abzusehen. Wie aussichtslos sich die Lage für die Besatzer in Afghanistan inzwischen darstellt, geht allein aus folgendem hervor: In der Zeit von März bis September 2009 haben die deutschen Soldaten fast dreimal so häufig Kampfunterstützung aus der Luft angefordert wie das ganze Jahr 2008. Die Zahl der Sicherheitsvorfälle hat sich seit 2006 nahezu verdreifacht. Die Taliban haben regen Zulauf. Schon im Jahr 2006 zählte die UNO insgesamt bis zu 2.200 illegale bewaffnete Gruppen. Mit bis zu 200. 000 Kämpfern, die über mehr als 3,5 Millionen leichte Waffen verfügen (inzwischen setzen sie schon Granatwerfer ein) kontrollierten sie nach Schätzungen der internationalen Expertengruppe "Senlis Council" bereits 54 Prozent des afghanischen Territoriums. In weiteren 38 Prozent waren sie präsent. Das ist umso bemerkenswerter, als damals schon fast 100.000 Soldaten aus NATO-Staaten am Hindukusch stationiert waren.

"Wichtig ist, die Deutschen in Kundus zu bekämpfen und zu töten. Die Deutschen sind der wichtigste Feind im Norden, und wegen ihrer Stationierung in Kundus wird diese Stadt bald zum Kandahar des Nordens." Diese Ankündigung von Taliban-Kommandeur Quari Bashir Haqqani macht deutlich, dass der Boden für die Bundeswehr auch im Norden immer heißer wird. Aus den von ihnen kontrollierten Gebieten im Süden stößt die afghanische Guerilla über Provinzen im Westen immer weiter auf die von den Deutschen gehaltenen Positionen vor. Wie ernst die Drohung der Taliban zu nehmen ist, beweisen die Kämpfe am Karfreitag nahe Kundus und die Tatsache, dass wenige Stunden vor der Trauerfeier in Selsingen die Bundeswehr in Kundus erneut Ziel eins Anschlages war. Das alles und noch viel mehr Bedrohliches für die deutschen Soldaten ist der Bundeskanzlerin und ihrer Regierung bekannt, und dennoch zeigt sie sich uneinsichtig und besteht auf der Fortsetzung des Krieges, ja sogar auf eine Aufstockung der Kräfte und Mittel.

Deshalb nennt DIE LINKE die Teilnahme Merkels an der Trauerfeier auch heuchlerisch. "Die Bundeskanzlerin trägt die Verantwortung für den Tod der drei Soldaten", erklärte Vorstandsmitglied Christine Buchholz. "Denn sie schickte sie nach Afghanistan, obwohl sie wusste, dass sich die Sicherheitslage im Norden dramatisch verschlechtert hat." Und deshalb sind auch die offiziellen Trauerbekundungen der Regierenden in Bund und Ländern und die Reden der Bundeskanzlerin und des Verteidigungsministers bei der Zeremonie im niedersächsischen Selsingen wenig überzeugend. Die Erklärung von Angela Merkel, die Fallschirmjäger im Alter von 25, 28 und 35 Jahren seien "für ihr Land" gestorben, entspricht angesichts der wohlweißlich verschwiegenen ökonomischen und politischen Hintergründe des Afghanistankrieges und seiner massiven Ablehnung durch unsere Bevölkerung nicht den Tatsachen. Auch ihre Versicherung "Deutschland verneigt sich vor Ihnen" hinterlässt angesichts der Realität und der Stimmungslage in unserem Land ebenso den unangenehmen Beigeschmack taktischen Kalküls wie die ursprünglich nicht geplante Teilnahme der Kanzlerin an dieser Trauerfeier. "Kaum echte Anteilnahme, sondern sorgsame Rücksichtnahme auf Stimmungen in ihrer Partei und bei der Wählerklientel der Union haben ihre Entscheidung (doch noch an der Trauerfeier teilzunehmen) bestimmt", meint Peter Richter unter der Überschrift "Politik im Schaukelstuhl" in "Neues Deutschland" vom 10. April 2010. Es ist sehr bedauerlich, dass die einzige Bundestagspartei, die sich diesem jahrelangen Morden und Zerstören und der systematischen Täuschung unserer Bevölkerung durch Politik und Konzernmedien energisch widersetzt, die Partei DIE LINKE ist, wogegen alle anderen Parteien diesen für unser Volk verhängnisvollen und für noch mehr Bundeswehrsoldaten tödlichen Weg unterstützen und vor der Landtagswahl in NRW mit allerhand Parolen und Versprechungen von diesem lebenswichtigen Kernproblem abzulenken versuchen.

Deshalb sollten alle Wählerinnen und Wähler in NRW in den letzten Wochen vor der Landtagswahl verantwortungsbewusst prüfen, ob sie ihre Stimme einer der Kriegsparteien oder der wegen ihrer konsequenten Haltung gegen den Krieg in vielerlei Hinsicht verleumdeten und schikanierten Linkspartei ihre Stimme geben. Zu Recht fordert deshalb Linksparteivize Klaus Ernst eine Regierungserklärung zum Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. Die Bundesregierung müsse Parlament und Öffentlichkeit ihre Einschätzung der Lage in Afghanistan darlegen, erklärte Ernst. Die Strategie der "Befriedung durch Abschreckung" sei "gescheitert". Wenn im Alltag des Einsatzes oft nur die Wahl bleibe, "ob Zivilisten oder Soldaten zu Opfern werden, dann kann man das nicht einfach so weiterlaufen lassen." Nicht Fortsetzung des Afghanistankrieges der Bundeswehr bis zu seinem bitteren und demütigenden Ende und nicht eine Erhöhung der deutschen Einsatzkräfte sind nötig, sondern eine Wende im Denken und Zurückholung der Soldaten, bevor noch weitere Mütter ihre Söhne, Frauen ihre Männer und Kinder ihre Väter beweinen müssen - so, wie es in der Nationalhymne des "Unrechtsstaates" DDR heißt: "...dass nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint".


Hans Fricke ist Autor des zur diesjährigen Leipziger Buchmesse im GNN-Verlag Schkeuditz erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken, 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2010