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LAIRE/1097: Trotz Bierdel-Freispruch Sieg der EU-Flüchtlingsabwehr (SB)


Europäische Union weicht die Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten, durch ihre Grenzschutzbehörde Frontex auf


Der ehemalige Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur Elias Bierdel, der Kapitän Stefan Schmidt und der Erste Offizier Wladimir Daschkewitsch wurden am Mittwoch von einem Gericht in Agrigent auf Sizilien vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einwanderung freigesprochen. Vor fünf Jahren hatten sie 37 erschöpfte Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer aufgefischt und durften sie erst drei Wochen später in Sizilien an Land bringen, da sich die italienischen Behörden bis dahin einer Aufnahme widersetzt hatten.

Das Urteil wird von den meisten Zeitungen begrüßt, doch einige konnten es sich nicht verkneifen, gegen Bierdel auszukeilen. So weiß wohl nur die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" selbst, warum sie ausgerechnet nach solch einem glänzenden Freispruch behauptet, daß Bierdel der "Unglücksrabe" bleibt, der er "vor fünf Jahren geworden ist". Rätselhaft auch, wie eine Zeitung, die von Publizität lebt, dem ehemaligen Journalisten vorwerfen kann, er habe einen guten Zweck "mit unheiligen publizistischen Druckmitteln" verfolgt "und dabei den Ruf einer hochangesehenen Organisation nachhaltig beschädigt" - zitiert nach Pressestimmen im Deutschlandfunk. [1]

Kein Mensch betreibt seine eigene Rufschädigung, es sind immer die anderen, in diesem Fall Zeitungen wie die F.A.Z., die den Ruf einer Person oder Organisation schädigen. Die Stimmungsmache gegen Bierdel ging und geht noch heute keineswegs auf eine Naturgesetzlichkeit zurück, sondern auf Medieninteressen. Angesichts dessen, daß Jahr für Jahr Menschen aus Afrika in vermutlich vierstelliger Zahl beim Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben kommen, hätte es statt zur Verunglimpfung durch die Medien auch zu einer breiten, uneingeschränkten Solidarität mit Bierdel und seinen Mitstreitern kommen können. "37 Menschen aus Seenot gerettet! Gratulation an die Hilfsorganisation Cap Anamur!" So hätten die Überschriften aussehen müssen.

Haben sie aber nicht. Statt dessen wird Elias Bierdel vorgeworfen, er habe eine Medieninszenierung veranstaltet. Abgesehen davon, daß die Medien mitgemacht haben, gehört es zur tagtäglichen Arbeit fast aller Nichtregierungsorganisationen (NGO), mit teils spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam zu machen, da sie auf Spendengelder angewiesen sind und Themen lancieren, um etwas in Bewegung zu setzen. Nicht anders hatte es der Gründer der Organisation "Cap Anamur", Rupert Neudeck, gemacht, als er und andere Helfer zwischen 1979 und 1980 über zehntausend vietnamesische Bootsflüchtlinge aus dem Meer fischten. Ein wesentlicher Unterschied zu Bierdels Hilfsaktion ist nicht erkennbar: In beiden Fällen wurden Menschenleben gerettet, darauf kommt es doch an, oder?

Eine Unterschied gab es allerdings, aber den hat die Öffentlichkeit gemacht: Die Vietnamesen flohen vor dem "bösen" Bezwinger der US-Armee im "amerikanischen Krieg", der hier im Westen Vietnamkrieg genannt wird, den Nordvietnamesen. Wohingegen die Afrikaner "nur" flüchten, weil sie nicht von Despoten, Milizen oder Räuberbanden umgebracht werden und auch nicht in Armut leben und verhungern wollen. Die vietnamesischen Flüchtlinge kamen somit dem Westen ideologisch zupaß, die afrikanischen Flüchtlinge dagegen werden als Belastung angesehen.

Zu den vielen gehässigen Vorwürfen gegen Bierdel gehört die Behauptung, er habe als Bestandteil der Inszenierung die Flüchtlinge einheitlich in strahlend weiße T-Shirts eingekleidet. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Hätte er sie in ihren verschmutzten Lumpen belassen, hätten die Medienvertreter mit ihren Hochleistungs-Zooms stimmungsvolle Elendsbilder schießen können. So etwas wäre sehr viel werbewirksamer gewesen. Die weißen T-Shirts dürften den Flüchtlingen ein kleines bißchen Würde und Selbstachtung geschenkt haben, und es wäre wirklich nicht nett gewesen, wenn die Kleidungsstücke zuvor einmal durchs ölige Mittelmeer gezogen worden wären, um sie für die Pressevertreter unansehnlicher zu machen.

Ach ja, und dann gab es da noch jene angebliche "Siegerpose", in der sich Bierdel nach drei Wochen Irrfahrt im Mittelmeer hat ablichten lassen, als sein Schiff endlich in den Hafen von Empedocle auf Sizilien einlaufen durfte. Bierdel behauptet, daß er jemandem am Ufer zugewunken habe, das habe wie eine Siegerpose ausgesehen. Aber was soll's, selbst wenn in das Recken der Arme Siegerempfinden hineingespielt hat, wer wollte es ihm verdenken nach der Erleichterung?

Es gäbe einiges am gegenseitigen Geschäft zwischen Medien und NGO, die sich um Publizität bemühen, kritisch zu beleuchten. Doch darum geht es in diesem Beispiel nicht. Hier hat sich die Presse jemanden herausgepickt und erst dadurch wurde ein Flüchtlingshelfer zum "Unglücksraben". Und die F.A.Z. strickt kräftig weiter an dem negativen Bild, indem sie Bierdel anlastet: "Spendengelder in Höhe von zwei Millionen Euro wurden in nutzloses schwimmendes Kapital verwandelt. Was hätten die Notärzte, die für 'Cap Anamur' unterwegs sind, damit alles tun können!"

Hier wird dem ehemaligen Cap Anamur-Leiter das Verhalten der italienischen Regierung, die das Schiff festgesetzt hat, angekreidet. Man mag die Entscheidung, ein Flüchtlingsschiff zu erwerben, für unternehmerisch ungeschickt halten, aber wer hätte ahnen können, daß das Retten von Flüchtlingen diese häßliche Entwicklung nimmt?

Der Deutschlandfunk hat in den Pressestimmen auch den "Weser-Kurier" zum Bierdel-Urteil zitiert. Die bremische Zeitung warnt vor einer "Glorifizierung von Bierdels 'Heldentat'", da deren Folgen "alles andere als grandios" gewesen seien. "Fast alle Flüchtlinge wurden rasch nach Ghana abgeschoben; die 'Cap Anamur II' lag viele Monate beschlagnahmt an der Kette", schreibt das Blatt.

Folgt man der impliziten Logik dieser Aussage, so hätte die "Cap Anamur" nur Menschen aus Seenot retten sollen, denen in der Europäischen Union Asyl gewährt worden wäre. Das bedeutet aber, daß die Flüchtlingshelfer die Arbeit der Einwanderungsbehörden hätten übernehmen und die Herkunft der Flüchtlinge herausfinden müssen, um mutmaßliche "Wirtschaftsflüchtlinge" unverrichteterdinge wieder nach Afrika zu expedieren.

Nicht Bierdel war es, der die Bootsflüchtlinge nach Ghana zurückgeschickt hat, sondern die italienische Einwanderungsbehörde. Und ob die Flüchtlinge in einem anderen europäischen Land besser aufgenommen worden wären, muß bezweifelt werden, denn das Dublin-II-Abkommen sorgt dafür, daß Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem EU-Land stellen müssen, das sie zuerst betreten haben. Das wären in diesem Fall Italien oder Malta gewesen. Daß der Vorfall eine wesentlich andere Entwicklung hätte nehmen können, ist pure Hoffnung, mehr nicht.

Im übrigen muß der Vorwurf entkräftet werden, wonach Bierdel viel zu lange im Mittelmeer gekreuzt hat und er besser beraten gewesen wäre, beispielsweise nach Deutschland zu schippern. Im nachhinein ist man immer schlauer. Hier handelt es sich jedoch um einen Präzedenzfall. Bierdel konnte vorher nicht wissen, daß die italienischen Behörden ihn derart auflaufen lassen würden.

Der Freispruch für die Flüchtlingshelfer ist kein Freispruch für die Flüchtlinge. Sie werden weiterhin als "illegal" behandelt und kriminalisiert, so lange sie nicht beweisen können, daß sie politisch verfolgt wurden. Dazu räumt ihnen die EU-Grenzschutzbehörde Frontex gar nicht erst die Chance ein, sondern drängt die Flüchtlingsboote regelmäßig wie auch in speziellen Großmanövern ab und zwingt die Menschen zur Umkehr. Da wird nicht gefragt, aus welchem Grund sie sich aufs Meer gewagt haben.

Anscheinend ignoriert mancher Schiffskapitän im Mittelmeer inzwischen, Menschen aus Seenot zu retten. Er braucht dann nicht nur nicht von seine Route abzuweichen und keinen Zeitverlust hinzunehmen, sondern kann sich auch Ärger mit den Einwanderungsbehörden der europäischen Anrainerstaaten ersparen. Hierzu trägt der Bierdel-Vorfall bei - und ein Teil der Presse gefällt sich augenscheinlich darin, die Rettung von Schiffbrüchigen zu relativieren, indem Bierdel eine Schuld an seiner Verhaftung, der Beschlagnahmung der 'Cap Anamur' und der Abschiebung der geretteten Schiffbrüchigen untergeschoben wird.


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Anmerkungen:

[1] Deutschlandfunk, Pressestimmen, 8.50 Uhr, 8. Oktober 2009
http://www.dradio.de/presseschau/

8. Oktober 2009