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LAIRE/1229: Auf Messers Schneide - Armut und Hunger in Jemen (SB)


Ein Leben unterhalb des Wahrnehmungshorizonts der Geostrategen

Die Bevölkerung Jemens wird mit Kräften weit außerhalb ihrer Reichweite konfrontiert


Mit seiner geostrategisch exponierten Lage am Roten Meer, dem Golf von Aden und dem Arabischen Meer weckte der Süden der Arabischen Halbinsel, das Gebiet der heutigen Republik Jemen, bereits vor rund eineinhalb Jahrhunderten die Begehrlichkeiten fremder Interessen. Von Norden her dehnten die Osmanen ihr Reich auf die Halbinsel aus, während die Briten 1839 die gut geschützt in ehemaligen Vulkankratern gelegene Hafenstadt Aden besetzten. Sie diente dem Empire als wichtiger Militär- und Handelsstützpunkt auf dem langen Weg um Afrika herum nach Indien und darüber hinaus. Mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 gewann der Jemen weiter an Bedeutung.

Im heutigen Zeitalter des in der Gestalt des Globalisierung fortgesetzten Imperialismus erfüllen die Seehäfen und Befestigungsanlagen Jemens und seine vorgelagerte Inselgruppe Sokotra im Indischen Ozean nach wie vor eine wichtige geostrategische Funktion. Das Land liegt zwar an der Peripherie des weiteren Mittleren Ostens, den zu kontrollieren sich der US-amerikanische Imperialismus auf die Fahne geschrieben hat, aber Jemen kommt aufgrund der geographischen Bedingungen - eine 2400 Kilometer lange Küste entlang einer der weltweit wichtigsten Seewege - sowie seiner Lage an der Schnittgrenze zum afrikanischen Kontinent auch in absehbarer Zukunft eine besondere Bedeutung zu. Da wundert es nicht, daß der UN-Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern USA, Rußland, China, Großbritannien und Frankreich sich und anderen Interessenten das Mandat erteilt hat, im Golf von Aden auf Piratenjagd gehen zu dürfen. Im Seegebiet zwischen Jemen und Somalia tummeln sich inzwischen Kriegsschiffe aus aller Herren Länder.

Die Piratenjagd, zu der auch die Bildung von Geleitzügen gehört, dient den Militärs erstens als Übung unter realen Bedingungen zur Weiterentwicklung der eigenen Kontrollfähigkeit von Warenverkehr gegenüber Milizen bzw. Seeräubern aus marginalisierten und nur noch mangelhaft versorgten Regionen. Zweitens wird damit eine schleichende Aushöhlung des Seerechts und des Souveränitätsanspruchs von kleineren Staaten betrieben und auf diese Weise angetestet, inwieweit die Staatengemeinschaft diese Entwicklung mitträgt.

Zwar befindet sich nicht Jemen, sondern das gegenüberliegende Somalia im Fadenkreuz der multinationalen Weltpolizei, die sogar - angeblich ausnahmsweise - das Mandat des Sicherheitsrats erhielt, Seeräuber bis ins somalische Territorium und an Land verfolgen und mit Waffengewalt stellen zu dürfen, aber nicht nur die Seeräuber haben ihr Operationsgebiet im Laufe der Jahre ausgedehnt, sondern auch die Militärs, so daß auch Jemen in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt ist. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA dienten den USA als Anlaß, eine "Koalition der Willigen" um sich zu scharen und die Operation Enduring Freedom (OEF) auszurufen, die, mit einem weltweiten Kontroll- und Verfügungsanspruch ausgestattet, vor der ostafrikanischen Küste Patrouille fährt.

Wenn sich irgendwelche Staaten für Jemen interessieren, dann geschieht dies nie ohne Blick auf seine geostrategische Bedeutung. Zum Beispiel ist Jemen Schwerpunktland der deutschen Entwicklungshilfe, und die USA haben ihre Militärhilfe für das Land massiv aufgestockt. Die Waffen sollen der Regierung zugute kommen, damit sie Al-Qaida-Milizen, die angeblich in dem Land untergetaucht sind, bekämpft.

Was aber geschieht mit den Menschen, die in Jemen leben - kommt ihnen die hohe Aufmerksamkeit anderer Staaten zugute? Nicht im mindesten. Rund 350.000 Einwohner leben in Flüchtlingslagern. Abgesehen von Verarmungs- und Verelendungsfolgen aufgrund der tiefen innergesellschaftlichen Risse zwischen der Zentralregierung unter Präsident Abdullah Ali Saleh und den nördlichen Huthi-Stämmen einerseits sowie Regierung und separatistischen Kräften im Süden andererseits, sorgt auch das Ausland allenfalls für eine Linderung der Not, nicht jedoch für ihre vollständige Beseitigung.

Dem Welternährungsprogramm (WFP) gehen inzwischen die Mittel aus. Ab Juni wird die UN-Einrichtung keine Hilfsmittel mehr verteilen können, sollten keine Spenden eintreffen. Ein Appell vom Dezember 2009 war bis Ende März nur zu 20 Prozent erfüllt worden. Man rechnet deshalb damit, daß ab Juni jeder dritte Einwohner - mehr als sieben Millionen Menschen - nicht genügend zu essen haben wird. Heute schon sieht es nicht viel besser aus. 2,7 Mio. Jemeniten gelten nach WFP-Kriterien als "schwer ernährungsunsicher", was bedeutet, daß sie mindestens ein Drittel ihres knappen Einkommens für Brot ausgeben müssen. Wenn die Flüchtlinge vom WFP nicht mehr versorgt werden, werden sie voraussichtlich wieder in ihre Stammesgebiete in der Region Saada zurückkehren. Nach einer Serie von Kämpfen zwischen Huthis und Regierung sind die Gebiete mit Minen und nicht-explodierter Munition verseucht und somit gefährlich.

Obgleich Jemen in den Augen der Geostrategen vom Orient bis zum Okzident ein attraktives Land ist, findet das keinen Widerhall in der Bekämpfung der Not der Einwohner. Die Hilfe der Staatengemeinschaft wird darauf beschränkt, die Bevölkerung zu befrieden, so daß die eigenen Interessen nicht durch Aufständische gefährdet werden. Falls das einmal nicht gelingt, haben Saudi-Arabien und die USA im vergangenen Jahr am Beispiel der Huthi vorexerziert, daß es keine Skrupel gibt, die Einwohner zu bombardieren und gewaltsam "zur Räson" zu bringen.

22. April 2010