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LAIRE/1274: Zufall? Zivilpolizist mit Pistole auf Stuttgart 21-Demo in Rangelei verstrickt (SB)


Stuttgart 21-Demo nach Lesart der Behörden und Konzernpresse "eskaliert"

Wollte ein Zivilpolizist bei einer Sachbeschädigungen ermitteln oder sollte er als Agent Provocateur tätig werden?


Möglicherweise steht der Widerstand in der Bevölkerung gegen das milliardenschwere Bahnprojekt Stuttgart 21 auf so breiten Füßen, daß die Exekutivorgane des Staates keine andere Möglichkeit sehen, als die uralte Repressionsmethode des Teilens und Herrschens auf die Spitze zu treiben, um das Bauvorhaben durchzusetzen. Bei der letzten Montagsdemonstration gegen die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs sind Demonstranten in ein abgesperrtes Gelände eingedrungen und haben, abgesehen vom Bauzaun, anscheinend auch Baufahrzeuge und ähnliches beschädigt. Polizisten sollen verletzt worden sein.

Zu den Vorfällen existieren allerdings einander widersprechende Versionen. So behauptet die Polizei [1], daß einer ihrer Zivilbeamten sich offen als Polizist ausgegeben habe, um gemeinsam mit einem Kollegen die Personalien einer Person aufzunehmen, die sich an einem Baufahrzeug zu schaffen gemacht habe. Der Beamte sei dann angegriffen und schwer verletzt worden. Aus der Sicht der Demonstranten war der als Demonstrant auftretende Zivilbeamte auffällig geworden, er habe sich wie ein Agent Provocateur verhalten [2]. Demnach kam es zu einer Rangelei mit einer anderen Person. Auf einer im Internet verfügbaren Filmsequenz ist zu sehen und zu hören, daß der Pistolenträger ausgeschimpft und aufgefordert wird, zu verschwinden. Was dieser auch tat. Wobei der Eindruck entsteht, als ginge er recht zielstrebig auf einen kräftig gebauten, groß gewachsenen und in auffälligem Grün gekleideten Mann am Straßenrand zu.

Welche Darstellung des Geschehens eher zutrifft, läßt sich für einen Außenstehenden selbstverständlich nicht mit letztgültiger Gewißheit sagen. Auch bzw. insbesondere Bilder trügen. Es fällt allerdings auf, daß der Bewaffnete - falls er es ist, der nach Polizeiangaben "schwer verletzt" wurde - problemlos gehen konnte und nicht zu bluten schien. Darüber hinaus ist bekannt, daß die Polizei in der Vergangenheit in der Konfliktarena "Stuttgart 21" Agent Provocateures eingesetzt hat. Bisher haben sich die Ordnungshüter nicht dahingehend geäußert, daß sie von dieser Praxis fortan Abstand nehmen werden.

Politisch wäre zu erwarten, daß vor der geplanten Volksabstimmung über Stuttgart 21 die Widerstandsbewegung gespalten werden soll, indem Teile von ihr kriminalisiert werden. Da viele Gegner des Bahnprojekts aus dem bürgerlichen Lager stammen, könnte das Kalkül lauten, diese Fraktion so zu verschrecken, daß sie nicht mehr willens ist, gegen das Projekt zu stimmen. Die Behauptung der Polizei, einer ihrer Beamten sei schwer verletzt worden, und der Auftrag an die Staatsanwaltschaft, wegen versuchten Totschlags zu ermitteln, erwecken den Anschein, als solle hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden.

Kann es sein, daß mit einer administrativen Eskalationsstrategie des Konflikts um Stuttgart 21 auch Munition für die Innenministerkonferenz geliefert werden sollte? Für diese Vermutung spräche, daß auf einem anderen Internet-Clip der S21-Demonstration und der Erstürmung des Baugeländes der Knall einer für einen Feuerwerkskörper recht wuchtigen Explosion festgehalten wurde. Polizisten und Demonstranten zuckten erschrocken zusammen. Falls es dieser Knall war, der zu dem von der Polizei behaupteten Knalltraumata mehrerer Beamter führte, so muß das schon verwundern, denn die Beamten trugen Helme, die den Knall gedämpft haben dürften. Allerdings trugen auch Demonstranten Knalltraumata davon. Doch wer warf den Knallkörper? Was war sein/ihr Motiv?

Vor dem Hintergrund dieser sich zuspitzenden Entwicklung keilt die baden-württembergische Opposition kräftig gegen den frischgekürten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann aus, der ihrer Ansicht nach dieses oder jenes zu tun und zu lassen habe. Hier soll nicht behauptet werden, daß der erste grüne Landesvater in der Bundesrepublik ein Bollwerk der Standhaftigkeit gegen Stuttgart 21 ist. Im Gegenteil. Aber er ist eben auch kein Mappus und hat zumindest zugesagt, ein Referendum über die Frage abhalten zu lassen, ob das Bahnprojekt in seiner ursprünglichen Form fortgesetzt werden soll oder nicht. Das ist die seltene Chance für den eigentlichen Souverän, sein Interesse gegenüber der politischen Klasse außerhalb des vierjährigen Wahltheaters zumindest partiell durchzusetzen.

Es fällt auf, daß ausgerechnet einen Tag vor dem Auftakt der zweitägigen Innenministerkonferenz ein Undercover-Agent der Polizei auf einer Demonstration in ein Handgemenge verstrickt wird. Das wirft Fragen auf. Wollte der Spitzel die Pistole verwenden? Sollte der Widerstand gegen Stuttgart 21 kriminalisiert und der ganze Konflikt verschärft werden, indem ein "Demonstrant" eine Waffe zieht und abfeuert? Oder wurde ein Szenario aufgebaut, das dem der Demonstration gegen das G8-Treffen in Genua 2001 ähnelt, wo der junge Italiener Carlo Giuliani von einem Caribineri erschossen wurde? Fragen, die bislang nicht beantwortet wurden, aber angesichts der Interessenslage und der Summen, die bei diesem Bahnprojekt im Spiel sind, nicht ungestellt bleiben sollten.

Auch ohne daß solche Spekulationen Bestätigung erfahren, werden die Innenminister eine Fortsetzung der Terrorismusgesetzgebung beschließen, die ursprünglich unter dem Eindruck der 9/11-Anschläge verabschiedet worden war. Während die schweren Gewalttaten, die mutmaßliche islamistische Fundamentalisten sowie Linksradikale in der Bundesrepublik in den letzten Jahren begangen haben sollen, sehr weit hinter denen der Rechtsradikalen zurückbleiben, richten die Innenminister den Schwerpunkt ihrer Aufmerksamkeit auf erstgenannte Gruppierungen. Wobei mit "den Salafisten" eine gesamte Religionsgemeinschaft faktisch in eins mit militanten islamischen Fundamentalisten gesetzt und jedes Abfackeln eines Pkw als Vorbereitung auf linksextremen Terrorismus interpretiert wird. Man hat es hier also mit einem fundamentalistisch simplen Weltbild der Administration zu tun.

Fußnoten:

[1] http://presse.polizei-bwl.de/_layouts/Pressemitteilungen/DownloadPdf.aspx?ItemUrl=http://presse.polizei-bwl.de/Lists/Pressemitteilungen/2255_.000

[2] http://www.bei-abriss-aufstand.de/

22. Juni 2011