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LAIRE/1325: Festung Europa - aufgestockt und offensiv ... (SB)



Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll personell erheblich aufgestockt werden. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hat am Mittwoch in Brüssel seinen Haushaltsentwurf für den Zeitraum 2021 bis 2027 vorgestellt, demzufolge in den nächsten drei Jahren die Zahl der Mitarbeiter dieser Agentur von heute 1200 auf 6000 aufgestockt werden soll. Damit will Oettinger auch und möglichst rasch erreichen, daß Reisen und Warenverkehr innerhalb des Schengenraums nicht mehr an bestimmten Binnengrenzen - etwa zwischen Österreich und Deutschland - kontrolliert werden.

EU-Europa wird mehr und mehr zu einer Festung ausgebaut, die jedoch einen anderen Charakter hat, als diese vielbemühte Analogie suggeriert. Die "Mauern" der EU sind nicht absolut unüberwindlich, sie sollen es gar nicht sein, sondern sie stehen für ein Grenzregime, das nicht zuletzt aus Gründen der Druckentlastung für die Gebiete außerhalb der Mauern, aber auch des Arbeitskräftezuzugs nach innen eine geregelte Zuwanderung ermöglicht. Auch die neuen Frontex-Mitarbeiter werden die fast 66.000 Kilometer See- und gut 13.000 Kilometer Landgrenze der Europäischen Union nicht lückenlos bewachen können. Aber das Gros der Menschen, die einreisen würden, verstellten die EU und ihre Mitglieder ihnen nicht auf verschiedene Weise den Weg, wird durch diese und weitere Maßnahmen aufgehalten.

Dazu gehört die Einrichtung von Lagern im Vorfeld des Territoriums der EU-Mitgliedstaaten, sogenannten Auffanglagern oder "Hot spots", beispielsweise in Marokko, Tunesien und Libyen, sowie darüber hinaus die Finanzierung von Maßnahmen zur Grenzsicherung und Migrationsverhinderung in einer Reihe afrikanischer Länder. Es werden Menschen, die nach EU-Europa weiterziehen wollen, bereits in der Sahelzone gestoppt. Kein Flüchtling würde solche Lager freiwillig aufsuchen. Das bedeutet, daß Gewalt angewendet werden müßte, um die Menschen einzusammeln, in eines dieser Lager zu stecken und dort solange festzuhalten, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind. Im übrigen lehnen Länder wie Tunesien die Einrichtung von dauerhaften Lagern auf ihrem Territorium ab.

Auch wenn andere Punkte von Oettingers Haushaltsplan in den Medien sehr viel breiter diskutiert werden als die Frontex-Aufstockung, wird damit ein folgenreicher Schritt unternommen. Der Haushaltskommissar hat anscheinend die Gunst der Stunde genutzt, in der in Europa Stimmung gegen "die Fremden", die angeblich nicht zu uns gehören, gemacht wird, und ist mit der 500prozentigen Erhöhung des Frontex-Personals weit über das hinausgegangen, was bislang selbst seitens der EU-Kommission ins Gespräch gebracht worden war. Eher hätte man mit einer Verdoppelung des Mitarbeiterstabs gerechnet.

Seit zwei Jahren erfährt Frontex eine umfangreiche Reform. Eine Nachfolgeorganisation wurde in Rekordtempo binnen neun Monaten von den zuständigen EU-Einrichtungen verabschiedet und nahm 2016 ihre Arbeit auf. Die neue "Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz" heißt weiterhin Frontex, ist dieselbe juristische Person und setzt deren Tätigkeiten und Verfahren lückenlos fort. Allerdings wurde die Grenzschutzagentur zu einer schlagkräftigeren, mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Einrichtung gemacht. Im Unterschied zu früher stellt sie eigene Grenzschutzbeamte ein und ist auch nicht mehr auf die Ausrüstung der Nationalstaaten angewiesen. Die Beamten nehmen exekutive Funktionen wahr und dürfen auch ohne und sogar gegen den Willen der Mitgliedstaaten Grenzschutzmaßnahmen durchführen. Zudem dürfen sie mit Nachbarstaaten zusammenarbeiten. Das heißt, die Europäische Union hat sich eine Grenzschutzpolizei zugelegt, die deutlich die Hoheitsrechte der Unionsmitglieder berührt.

Es ist schon bemerkenswert, auf welchen Gebieten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie bisher ein Staatenbund bleiben wollen und auf welchen sie der EU Kompetenzen zugestehen, wie das eher von Bundesstaaten zu erwarten wäre. Beispielsweise bei der Grenzsicherung. Auch wenn sich Frontex als Ergänzung zu den nationalen Grenzschutzeinrichtungen und Küstenwachen positioniert, ähnelt die Einrichtung zunehmend der United States Border Patrol.

In einer Welt, die voller Grenzen ist, in der die Nationenkonkurrenz zu zwischenstaatlichen Konflikten führt, ein Kampf der Kulturen ausgetragen wird und in der grundsätzlich ein unerbittlicher Sozialkampf zwischen unten und oben, unten und unten sowie oben und oben tobt, von heute auf morgen komplett auf die Überwachung der eigenen Grenzen zu verzichten und überhaupt nicht zu wissen, wer einreist, öffnete sicherlich unter anderem auch den übelwollendsten Absichten Tür und Tor. Dennoch ist die Entwicklung, die in den letzten Jahren zu den Flüchtlingsströmen geführt hat, gegenüber denen nun das Grenzregime kräftig ausgebaut wird, kein Schicksalsschlag, der von irgendwoher kommt und an dem man vollkommen unbeteiligt ist. Die Staaten der Europäischen Union haben mit daran gestrickt und tun es auch weiter, daß das Wohlstandsgefälle zu anderen Weltregionen in den letzten drei Jahrzehnten kräftig gewachsen ist.

Wer Deutschland am Hindukusch verteidigt, muß sich nicht wundern, wenn die Menschen vom Hindukusch hierherkommen. Ein Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan wäre ein erster Schritt der Grenzsicherung der EU. Eine Absage an jegliche Partnerschaftsabkommen, bei denen die afrikanischen Staaten letzten Endes übervorteilt werden - nicht zuletzt weil sie weiterhin entweder als bloße Ressourcenstaaten oder Absatzmärkte für hiesige Waren behandelt werden, während sich die EU auf bestimmten Gebieten fortwährend abschottet -, wäre ein zweiter Schritt. An der syrischen Regierung gäbe es sicherlich vieles zu kritisieren, aber mit Dauerbezichtigungen, unbewiesenen Unterstellungen und der Unterstützung von oppositioniellen Halsabschneidern einen Umsturz herbeiführen zu wollen, erzeugt Flüchtlinge am laufenden Band. Sich dieser Interventionen zu enthalten, wäre ein dritter Schritt.

Vielleicht müssen zehntausend, hunderttausend oder mehr als eine Million Schritte getan werden, bevor eine Welt geschaffen ist, die kein Grenzregime, wie es die EU derzeit aufbaut, kennt. Aber ohne die Füße zum ersten, zweiten und dritten Schritt in Bewegung gesetzt zu haben, kommt man nicht von der Stelle.

2. Mai 2018


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