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LAIRE/1354: Verteilung - in keinem Verhältnis ... (SB)



Die von den Parteispitzen der Großen Koalition beschlossene Grundrente zurrt die Armut in Deutschland weiter fest. Auch die Menschen, die ab Januar 2021 als "anspruchsberechtigt" eingestuft werden sollen, bleiben trotz der Grundrente weiter deutlich unter der Armutsschwelle. Außerdem werden der ärmeren Teile der Bevölkerung tiefer gespalten und gegeneinander ausgespielt, indem die Bedingungen so festgelegt sind, daß Menschen, die nicht auf eine 35jährige Lohnarbeitszeit kommen, keine Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, keine Grundrente erhalten - die "Würde", die man laut Regierung plötzlich den Anspruchsberechtigten mit der Gewährung einer Grundrente zuerkennen will, ist eben doch antastbar. Wer beispielsweise "nur" dreißig Jahre im Niedriglohnsektor gearbeitet hat, muß demnach weiter in Unwürde leben.

Die Mainstreammedien sind an der Spaltung beteiligt, indem sie sich in der Berichterstattung auf Fragen beschränken wie, ob das Grundrentenmodell im Verhältnis zum Hartz-IV-System gerecht ist oder nicht. Einkommensgerechtigkeit wird nur hinsichtlich verhältnismäßig geringer Unterschiede innerhalb der Armutsklasse diskutiert. Auf gar keinen Fall darf die Frage aufgeworfen werden, ob es gerecht ist, daß die Reichen über das Zigfache an Einkommen gegenüber dem der Armen verfügen. Manuela Schwesig, SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, stellte im Deutschlandfunk klar, worum es ihr geht:

"Wir reden über Leute, ich will es an einem konkreten Beispiel deutlich machen, über eine Köchin, die auch viele Jahre gearbeitet hat, eingezahlt hat, auf 40 Jahre kommt, aber am Ende eine Rente von 640 Euro hat, weniger als wenn sie nie gearbeitet hätte, und das ist eine Ungerechtigkeit, die unser Sozialstaat so nicht stehen lassen kann." [1]

Wer wie Schwesig "Ungerechtigkeit" anprangert, aber mit keinem Wort die gewaltige Einkommenskluft in Deutschland erwähnt, der redet dem obersten ein Prozent nach dem Munde und positioniert sich als Sachwalterin der vorherrschenden Umverteilung von unten nach oben. Die Einkommensschere öffnet sich immer weiter.

Mindestens 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in der Bundesrepublik sind arm. Die jetzt vereinbarte Grundrente soll nur einem Teil dieser verarmten Gruppe zugute kommen, nämlich 1,2 bis 1,5 Mio. Menschen. Es müssen aber drei bis vier Millionen ältere Menschen mit Einkünften unterhalb des Grundsicherungsniveaus auskommen.

Bezahlt werden soll das Almosen aus einer Finanztransaktionssteuer, die es noch gar nicht gibt, und deren Summe schon auf 1,5 Mrd. Euro gedeckelt ist. Das macht etwa 80 Euro pro Person und Monat, rechnete der Sozialwissenschaftler und emeritierte Professor der Universität Köln Christoph Butterwegge im Deutschlandfunk vor. Kämen die 80 Euro Grundrente auf die Grundsicherung von 808 Euro drauf, landete man noch immer weit unterhalb der von der Europäischen Union angesetzten Armutsgrenze, die sich bei Alleinstehenden in Deutschland auf 998 Euro beläuft. [2]

Die Finanzbehörden und die Deutsche Rentenversicherung werden überprüfen, über welches Einkommen die Rentnerinnen und Rentner verfügen. Das Vermögen bleibt (noch) ungezählt und unangetastet. Für eine alleinstehende Person, die auf Grundrente Anspruch erheben darf, besteht eine Einkommensgrenze von 1.250 Euro. Für diejenigen, die mit einem Partner oder eine Partnerin zusammenleben, soll diese Grenze nicht beim Doppelten, sondern schon bei 1.950 Euro liegen. Das bedeutet, es wird gar nicht, wie von der CDU-Parteivorsitzenden Annegret Kamp-Karrenbauer, der kommissarischen SPD-Vorsitzenden Malu Dreyer und anderen behauptet, die Lebensleistung belohnt. Denn die kann ja nicht davon abhängig sein, in welchen Lebensverhältnissen sich jemand momentan befindet, sondern sie wurde, wie der Name sagt, bereits abgeleistet.

Der Grundrentenkompromiß der GroKo setzt die Verarmungspolitik der Vorgängerregierungen fort. Dazu zählen grundlegende politische Entscheidungen wie, die Löhne in Ostdeutschland noch immer nicht auf das Westniveau anzuheben, den Niedriglohnsektor auszubauen, die langjährige Weigerung, einen Mindestlohn einzuführen, und, nachdem dies geschehen ist, den Mindestlohn so festzulegen, daß Menschen weiter verarmen, weil er viel zu niedrig angesetzt ist und zahlreiche Ausnahmen ermöglicht. Das gegenwärtige gesellschaftliche Arbeitsmodell läßt wiederum viele Schlupflöcher offen, beispielsweise die Verabschiedung von Werkverträgen, so daß zum Vorteil der Unternehmen die tarifgebundenen Löhne nach und nach erodiert werden.

Unter solchen verarmungsbegünstigenden Voraussetzungen ist die Regierung jetzt um den Eindruck bemüht, sie mache etwas für die Rentnerinnen und Rentner. Das tut sie nicht. Die Betroffenen müssen weiterhin an existentiell wichtigen Dingen wie Essen, Medikamenten oder Heizung sparen, geschweige denn, daß ihre kulturelle Teilhabe gefördert würde, indem sie beispielsweise von der finanziellen Not befreit werden, in die sie allein durch einen einzigen Theaterbesuch pro Monat gebracht würden. Auch das ist letztlich eine existentielle Frage, denn Menschen, die mangels Finanzmittel isoliert und vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt werden, verlieren viel eher ihren Lebenswillen.

Wenn man davon ausgeht, daß die Politik genau weiß, was sie tut, dann sind solche Effekte womöglich gar nicht unerwünscht. Der Staat hat ein Interesse daran, daß die Menschen entweder möglichst bis an ihr Lebensende produktiv sind, oder aber nur kurze Zeit Renten beziehen, also vorzeitig ableben, um "die Sozialsysteme" nicht zu belasten. In die gleiche Richtung geht die Diskussion, das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anzuheben. Der Lebensabend wird zugunsten der Produktivität und Nützlichkeit für die Gesellschaft verkürzt. Wenn es den Fortschritten der Medizin zu verdanken ist, daß die Menschen immer älter werden, dann hat die Medizin offenbar nicht den Zweck, den Menschen einen ausgedehnten und weniger leidvollen Lebensabend zu ermöglichen, sondern sie zwecks Steigerung der Produktivität des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb fit zu machen.

Wer arbeitet, muß mehr haben, sagt Schwesig und tritt damit Arbeitslosen gegen das Schienbein, da sie nicht gearbeitet haben - als läge die Entscheidung dafür ausschließlich in deren Hand. Teile und herrsche, dieses uralte Prinzip der Herrschaftssicherung, wird im sogenannten Sozialstaat auch mit der Grundrente auf subtile Weise zur Anwendung gebracht.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/schwesig-spd-zur-grundrente-jeder-euro-ist-hier-zu-recht.694.de.html?dram:article_id=463102

[2] https://www.deutschlandfunk.de/kompromiss-zur-grundrente-butterwegge-altersarmut-laesst.694.de.html?dram:article_id=463110

11. November 2019


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