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DILJA/1230: Staatskrise in Griechenland - die EU ist Teil des Problems, nicht der Lösung (SB)


Griechenland am Gängelband der Europäischen Union

Der drohende Staatsbankrott fungiert als Letztbegründung für die gewaltsame Durchsetzung neoliberaler Positionen


Der inzwischen abgewählte frühere Ministerpräsident Griechenlands, Kostas Karamanlis von der konservativen "Nea Dimokratia" (Neue Demokratie, ND), hatte angesichts der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise seines Landes am 2. September dieses Jahres die Reißleine gezogen und die Auflösung des Parlaments angekündigt. Da ein solcher Schritt laut griechischer Verfassung innerhalb von 21 bis 30 Tagen zu einer Neuwahl führen muß, die denn auch von Karamanlis für den 4. Oktober ausgerufen und durchgeführt worden war, liegt die Mutmaßung nahe, daß der konservative Regierungschef das Ende seiner Regierungszeit absichtlich und gezielt herbeigeführt haben könnte. Offiziell hatte Karamanlis sein Vorgehen im Herbst mit der fehlenden Kooperationsbereitschaft der Opposition zu begründen gesucht, was keineswegs plausibel anmutet, zumal in einer parlamentarischen Demokratie die stärkste Kraft die Regierung stellt und dafür keineswegs auf die Unterstützung ihrer politischen Gegner angewiesen sein dürfte.

Karamanlis hatte desweiteren behauptet, daß die von seinem größten vermeintlichen Widersacher, dem Führer der sozialdemokratischen PASOK ("Panellino Socialistiko Kinima", Panhellenische Sozialistische Bewegung) Georgios Papandreou, wiederholt vorgebrachte Forderung nach Neuwahlen die griechische Wirtschaft bedrohen würde. Der ND-Politiker machte geltend, daß er und seine Partei "ein frisches Mandat" bräuchten für die kommenden beiden schwierigen Jahre. Bei der Eröffnung einer Handelsmesse in Thessaloniki hatte er am 12. September erklärt, daß es das Ziel seiner Regierung sei, "das Staatsdefizit in den Griff zu bekommen und die Wirtschaft schrittweise zu reformieren". Unmittelbar vor den vorgezogenen und von Karamanlis selbst herbeigeführten Neuwahlen machte der frühere Regierungschef noch Negativwahlkampf in eigener Sache, indem er ein "hartes Sparprogramm" ankündigte sowie ein Einfrieren der Löhne im öffentlichen Dienst.

Da seine Partei laut Umfragen mit deutlichen 7 Prozent hinter der oppositionellen PASOK lag und somit keine realistischen Aussichten auf einen Wahlerfolg hatte, könnte dieser Schritt Karamanlis' Bestandteil einer Partei- wie Landesgrenzen übergreifenden Strategie zur Etablierung einer faktischen Notstandsregierung gewesen sein. Alle veröffentlichten Umfragen hatten einen Wahlsieg der PASOK am 4. Oktober vorausgesehen, dieser trat dann auch in deutlicher Höhe ein. Bei den letzten regulären Wahlen im Oktober 2007 hatte die Nea Dimokratia eine knappe Mehrheit von 41,85 Prozent erreichen können, mit der die Partei nur aufgrund der der stärksten Parlamentsfraktion zugeschlagenen Bonussitze auf 152 der insgesamt 300 Parlamentssitze gekommen war. Nach insgesamt fünfjähriger Regierungszeit hatten sich die Versprechen der offen neoliberalen Partei endgültig verbraucht, hatten doch der Abbau sozialer Leistungen und Privatisierungen, Stellenabbau und Mehrwertsteuererhöhungen nicht zu dem mit diesen tiefen staatlichen Einschnitten in Aussicht gestellten Aufschwung geführt.

Die Realität einer massiv verstärkten sozialen Krise strafte die Regierungsversprechen Lügen, ohne daß deshalb der eigentliche Souverän Griechenlands der oppositionellen PASOK tatsächlich das Vertrauen ausgesprochen hätte. Laut Meinungsumfragen vertrauen 90 Prozent der Bevölkerung weder der einen noch der anderen der beiden Großparteien ND und PASOK, die die politischen Geschicke Griechenlands seit dem offiziellen Ende der Militärdiktatur vor 35 Jahren ausnahmslos in Gestalt zweier einander sehr ähnelnder Familiendynastien kontrollierten.

Da die Versprechen der Karamanlis-Regierung angesichts einer seit längerem zugespitzten sozialen Realität bereits heute weitgehend ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten, wartete die PASOK vor der Wahl mit Behauptungen auf, an die sie inzwischen schon nicht mehr erinnert werden möchte, hatte sie doch in Aussicht gestellt, die neoliberale Politik Karamanlis' zu beenden. Die Staatsausgaben hätten erhöht werden sollen, die Arbeitslosigkeit bekämpft, lauteten die Häppchen, die sich die PASOK dem Wahlvolk im Vertrauen auf ein baldiges Vergessen hinzuwerfen getraute. Dabei sind die verheerenden Negativfolgen, die Griechenland heute an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht haben, von ND und PASOK, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten an der Regierung abgelöst hatten, wobei die PASOK noch die insgesamt längere Regierungszeit aufzuweisen hat, gleichermaßen zu verantworten.

Da die PASOK in der Vergangenheit dieselbe neoliberale Politik betrieben hatte, die sie vor der Wahl zu beenden versprach, fehlte es ihr eigentlich an politischer Glaubwürdigkeit. Nach nur kurzer Amtszeit sprach sie denn auch bald wieder Klartext. Der neue Regierungschef Giorgos Papandreou begann nach wenigen Wochen, die vorherige Politik der Privatisierungen, des Einfrierens der Löhne im öffentlichen Sektor sowie eines Abbaus des Rentensystems, genannt Rentenreform, wieder aufzugreifen bzw. nahtlos fortzusetzen. Da der Papandreou-Clan alias die PASOK über weitaus bessere Kontakte zu den Gewerkschaften verfügt als die ND, die mit ihren Rentenkürzungsplänen noch am Widerstand der Gewerkschaften gescheitert war, hat sich die Regierungsumbildung bereits jetzt als kluger Schachzug erwiesen aus Sicht derjenigen, die sich der Durchsetzung des neoliberalen Diktats verschrieben haben. Die der PASOK nahestehenden Gewerkschaftsverbände GSSE und ADEDY haben schon ihre Bereitschaft signalisiert, den massiven Sozialabbau mitzutragen.

Die vermeintlich innenpolitischen und innenwirtschaftlichen Verhältnisse im EU-Staat Griechenland können jedoch nicht annähernd angemessen geschildert werden, ohne die EU selbst als maßgeblichen Akteur mit einzubeziehen. So vertrat die Nea Dimokratia im Wahlkampf offen die Position des "notwendigen Sparens", was ihr Verluste selbst unter ihren Stammwählern eingebracht haben dürfte, während die PASOK erst nach der Wahl in diese vermeintliche Sachzwangslogik einstimmte. Hatte sie zunächst noch behauptet, durch verstärkte staatliche Investitionen "die Wirtschaft ankurbeln" zu wollen, mußte sie alsbald zurückrudern, weil dies mit einer weiteren Neuverschuldung der Staates einhergegangen wäre in einer Situation, in der Griechenland ohnehin schon am Pranger der EU-Oberen stand wegen eines Haushaltsdefizits, das mit geschätzten sechs mit acht Prozent weit über dem im EU-Stabilitätspakt festgeschriebenen Toleranzwert von drei Prozent liegt.

Als Ende Juni ein Haushaltsdefizit von 7,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts konstatiert wurde, wurden als Ursachen der Wirtschafts- und Staatsfinanzkrise steigende Ausgaben, Steuereinbußen, die von der Regierung Karamanlis beschlossenen Steuererleichterungen für Unternehmen und dergleichen mehr benannt. Der damit unterstellte kausale Zusammenhang stellte eine weder beweis- noch widerlegbare These dar, offenbart jedoch die Absicht, die konservative Regierung weiter zu diskreditieren wie um ihren vermeintlichen Gegenpart auf sozialistischer und damit links angehauchter Basis als vielversprechende Regierungsalternative aufzubauen. Laut EU "darf" Griechenland - wie jedes andere Unionsmitglied auch - nur ein maximal dreiprozentiges Haushaltsdefizit aufweisen. Wird diese Marge überschritten, zieht die EU-Administration ihre Samthandschuhe endgültig aus und übt zusätzlichen Druck auf ihre schwächsten und in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckenden Mitglieder aus, wie derzeit Griechenland, aber auch Irland.

Von Solidarität keine Spur. Die EU, ein Zusammenschluß der reichsten Industriestaaten Westeuropas mit den angrenzenden Staaten Süd- und Osteuropas, leitete durch die EU-Kommission bereits im Frühjahr ein Defizitverfahren gegen Griechenland ein, wie das Prozedere genannt wird, mit dem ein kriselnder Mitgliedstaat nicht finanziell unterstützt, sondern unter so massiven Druck gesetzt wird, daß er die von der EU im Einklang mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) geforderten Sparmaßnahmen schließlich gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen sich gezwungen sieht und dabei vor der Anwendung massiver repressiver Mittel auch nicht mehr Halt macht. Schon seit Jahren wird aus Brüssel von Griechenland gefordert, das Rentensystem zu "sanieren", also abzubauen und das Arbeitsrecht zu "liberalisieren", also stärker auf die Interessen der Unternehmer abzustimmen.

Der nun abgewählte ehemalige ND-Regierungschef Karamanlis hatte keinen Hehl aus seiner Bereitschaft gemacht, dem Diktat aus Brüssel Folge zu leisten. In einer Fernsehansprache hatte er vor (!) der Wahl in erstaunlicher Offenheit bekannt, daß die Regierung "in manchen Bereichen tiefere Einschnitte [hätte] wagen müssen, ohne Rücksicht auf Opposition und Gewerkschaften". So ist es fast erstaunlich, daß die ND am 4. Oktober immerhin noch knapp 34 Prozent der Stimmen erhielt; die PASOK kam mit 44 Prozent der Stimmen und 160 von 300 Parlamentssitzen wie erwartet an die Regierung. Die Regierung Papandreou korrigierte die Schreckenszahl eines bei 7 Prozent des BIP liegenden Defizits auf vollends katastrophale, geschätzte 12,7 Prozent nach oben und lieferte der EU-Kommission damit eine Steilvorlage. In Brüssel wurde berechnet, daß Griechenland mit einem Schuldenstand von fast 125 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der am höchsten verschuldete Staat der EU-Zone sei.

An dieser Stelle erwies sich am Beispiel des in einer massiven Wirtschafts- und Staatskrise steckenden Griechenlands, was im Ernstfall von der Europäischen Union, von der sich die jüngst beigetretenen osteuropäischen Staaten soviel haben versprechen lassen, tatsächlich zu halten ist. Die Souveränität des Landes wurde kurzerhand außer Funktion gesetzt, so sie denn überhaupt noch vorhanden war. Die Finanzminister der EU beschlossen am 2. Dezember, die Haushaltspolitik Griechenlands künftig unter die Aufsicht Brüssels zu stellen. Die Regierung in Athen müsse, so hieß es in der Ministerrunde einhellig, zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um das Defizit unter Kontrolle zu bringen. Die Sprache der EU-Technokraten ist hier sehr wohl entlarvend, werden doch mit keiner Silbe die sozialen Nöte der Bevölkerung angesprochen, die durch den von Brüssel aufgezwungenen "Sparkurs" noch massiv anwachsen werden.

Ungeachtet der Beteiligung führender Gewerkschaftsverbände an dem nun von PASOK betriebenen rigorosen "Sparkurs" ist es in Griechenland bereits zu einer Streikwelle gekommen. Lehrer, Ärzte und Journalisten schlossen sich mit Warnstreiks an, um ihren Protest gegen die angekündigten Kürzungen zum Ausdruck zu bringen. Die Regierung Papandreou ficht all dies nicht an. Sie malt das Gespenst eines Staatsbankrotts an die Wand, um ein Bedrohungsszenario zu schaffen, demgegenüber der Sozialabbau der Bevölkerung als das vermeintlich kleinere und deshalb hinzunehmende Übel schmackhaft gemacht werden soll. "Griechenland steht vor der Gefahr, in Schulden zu versinken", so Papandreou. Daß dies so ist, liegt nicht unwesentlich an der sogenannten Stabilitätspolitik der EU, die in schlechtester neoliberaler Manier die Währungsstabilität an den Zenit allen Wirtschaftens stellt. Papandreou gab als Ziel seiner Regierung vor, das Haushaltsdefizit bis 2013 unter die geforderten drei Prozent des BIP zu senken. Um dies zu erreichen, will er über mehrere Jahre hinweg die Staatsausgaben um zehn Prozent senken.

Doch obwohl dies schon nicht hinnehmbare Einschnitte für die Bevölkerung mit sich bringen wird, wurden dem Land noch engere Daumenschrauben angelegt. Am 17. Dezember stufte die Rating-Agentur "Standard & Poor's Corp" (S&P) Griechenland herab, weil die Streikwelle der Bevölkerung die Fähigkeit der Regierung, die erklärten Sparziele auch tatsächlich umzusetzen, in Frage stelle. Die Folge: Kredite, die Griechenland braucht, nur um die auf seine hohen Staatsschulden anfallenden Zinsen zu bezahlen, werden noch teurer. Das dem Neoliberalismus innewohnende Prinzip, verschuldete Staaten noch tiefer in Abhängigkeitsverhältnisse zu manövrieren, bis sie ein bloßer Spielball übergeordneter Institutionen und Agenturen geworden sind, ging sofort zum nächsten Schritt über. S&P drohte mit einer weiteren Herabstufung der Bonitätsbewertung. Dieser Mechanismus kann sehr wohl bis zum Staatsbankrott getrieben werden. Sollte nach Ansicht der Rating-Agenturen die Zahlungsfähigkeit eines Staates einen bestimmten Level unterschreiten, werden dieses Land wie auch seine Banken keinerlei Kredite mehr von der Europäischen Zentralbank (EZB) bekommen können. EZB-Präsident Trichet hatte vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuß des Brüsseler Europaparlaments bereits am 7. Dezember in Hinsicht auf die Situation in Griechenland erklärt, daß dessen Regierung "sehr mutige Entscheidungen" würde treffen müssen.

Der allem Anschein nach zu eben diesen Zwecken ins Amt gebrachte neue Ministerpräsident Papandreou erklärte am 11. Dezember im griechischen Fernsehen, daß das Land "revolutionäre Reformen" bräuchte, um das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen, wie es der Regierungschef beim EU-Gipfel in Brüssel zuvor seinen Amtskollegen versprochen hatte. Der angeblich drohende Staatsbankrott müsse durch drastische Sparmaßnahmen abgewendet werden, lautet das von der EU wie auch der neuen griechischen Regierung gleichermaßen vertretene Credo. Daß die EU, die vorgibt, durch die hohe Verschuldung Griechenlands in ihrer Eigenschaft als Währungsunion insgesamt gefährdet zu sein, dessen Staatsfinanzkrise verstärkt hat, wird dabei geflissentlich ignoriert. Papandreou begründete den massiven Sparkurs, der, wie unschwer vorherzusagen ist, nur mit brutalen repressiven Methoden gegen eine heute schon vielfach notleidende Bevölkerung durchzusetzen sein wird, mit der Gefahr, eine Souveränität zu verlieren, von der angesichts der Daumenschrauben, die die EU-Kommission dem Land anzulegen imstande ist, faktisch ohnehin nicht mehr die Rede sein kann.

Das Beispiel Griechenlands mitsamt seiner unweigerlich bevorstehenden faktischen Ent-Demokratisierung muß zudem als signifikant angesehen werden für die Gesamtentwicklung innerhalb eines Staatenbundes, der unter Preisgabe der Möglichkeiten der Nationalstaaten, sich eine von ihrem Souverän bestimmte Wirtschaftsform und politische Ordnung zu wählen, auf die neoliberale Agenda zwangsverpflichtet wurde. Solidarität mit der gegen die unmittelbar bevorstehende Sparpolitik protestierende Bevölkerung Griechenlands wäre somit das Gebot der Stunde für alle im EU-Raum lebenden Menschen, und zwar aus dem ureigensten Interesse heraus, nicht früher denn später derselben Sachzwangslogik unterworfen zu werden, heißt "Sparpolitik" doch im Kern nichts anderes, als unter ohnehin zugespitzten Bedingungen die Umverteilung von unten nach oben mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen.

23. Dezember 2009