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DILJA/1293: Sozialismus in Venezuela? Ein Alptraum nicht nur der katholischen Kirche (SB)


Kardinal Urosa wettert gegen den gewählten Präsidenten Venezuelas

Nulltoleranz der politischen Rechten gegenüber dem Bestreben der Bolivarischen Republik, die Idee des Sozialismus zu verwirklichen


Der Erzbischof von Caracas, der Hauptstadt der Bolivarischen Republik Venezuela, Kardinal Jorge Urosa Savino, ist kein unbeschriebenes Blatt, wenn es gilt, den Erzfeind jeder heiligen und nach Auffassung nicht nur der katholischen Kirche gottgewollten Ordnung zu bekämpfen und im engsten Wortsinn zu verteufeln. Der Feind steht links, wußten Kirchenführer seines Schlages schon seit Anbeginn aller Zeiten, zu denen sich Menschen aufgemacht haben, der bestehenden Räuberei, der gesellschaftlichen Umlastung von "unten" nach "oben" zugunsten ihrer privilegierten Eliten, Akzeptanz und Gefolgschaft aufzukündigen, zumeist verbunden mit dem aktiven und engagierten Bestreben, eine den eigenen Wünschen, Zielvorstellungen und Überzeugungen entsprechende gesellschaftliche Lebensform allen Widrigkeiten entgegen aus der Taufe zu heben.

Der Kampf um ein solches Menschheitsmodell, ob nun mit dem Begriff "Sozialismus", "Kommunismus" oder noch ganz anders benannt, weist eine Vielzahl an Fehl- und Rückschlägen auf, woraus aus Sicht seiner Protagonisten jedoch zu keinem Zeitpunkt die Schlußfolgerung gezogen wurde, ihn wegen seiner vermeintlichen Unrealisierbarkeit aufzugeben und schon im ideellen Ansatz vor der letztendlich kanonenbefeuerten "Macht" des Bestehenden zu kapitulieren. Diese Anmerkungen mögen genügen um anzudeuten, warum es auf der Seite der politischen Rechten, der Bewahrer und unermüdlichen Verteidiger eines gesellschaftlichen Systems, das nie etwas anderes getan hat als die Privilegien einer immer kleiner werdenden Elite zu Lasten einer immer größer werdenden Menge benachteiligter Menschen zu wahren, ein so profundes Interesse daran haben (müssen), daß sich in keinem Winkel der Welt eine Entwicklung Bahn bricht, die allen Unkenrufen zum Trotz doch so etwas wie eine glaubwürdige Alternative zur vorherrschenden Gesellschaftshierarchie darstellt und den - wenn auch von seinen Gegner etwas voreilig für tot erklärten - Menschheitstraum "Sozialismus" plötzlich in greifbare Nähe zu rücken imstande ist.

Eben dies ist in Venezuela inzwischen längst geschehen, wobei die Frage, ob in der heutigen "Bolivarischen Republik Venezuela" der "Sozialismus" bereits verwirklicht wäre oder nicht, zweitrangig, um nicht zu sagen irrelevant ist, weil allein schon die von der Regierung Chávez und einer im Aufbau befindlichen und von vielen "einfachen" Menschen getragenen Volksmacht gleichermaßen vorangetriebene Entwicklung Ergebnisse hervorgebracht hat, die für sich sprechen und erklären, warum gerade dieser Präsident seit seinem ersten Wahlsieg auch alle weiteren Wahlen mit klarer Mehrheit für sich entscheiden konnte. All dies ist nicht nur der auf der politischen Bühne weitgehend entmachteten Unternehmerschaft des Landes, ihren politischen Interessenvertretern, sprich den konservativen Parteien, sowie ihren Helfershelfern in den Konzernmedien ein Dorn im Auge, sondern selbstverständlich auch der katholischen Kirche.

Diese griff nun in Gestalt Kardinal Urosas tief in die Mottenkiste der politischen Verleumdung, um in einem Land, in dem der Katholizismus weit verbreitet ist, in Hinsicht auf die im September bevorstehenden Parlamentswahlen Ressentiments gegen Präsident und Regierung nach besten Kräften zu schüren. Gegenüber einem Rundfunksender in Rom verstieg sich der venezolanische Kardinal zu Äußerungen, die geeignet sind, den Kirchenführer und womöglich auch den Vatikan zumindest vor der lateinamerikanischen Öffentlichkeit in ein schlechtes Licht zu rücken. So erhob der Kardinal gegen Präsident Chávez den Vorwurf, dieser würde Venezuela in eine "marxistisch-kommunistische Diktatur" nach dem "ausländischen Beispiel" [1] der früheren Sowjetunion führen. Wenn dies so wäre, könnten die Gegner des heutigen Venezuelas beruhigt die Hände in den Schoß legen und auf die Implosion der Bolivarianischen Bewegung, analog zur Selbstauflösung der Sowjetunion 1989/90, warten.

Da sie dies nicht tun, sondern im Vorfeld der Parlamentswahlen einen erhöhten Aktivitätspegel an den Tag legen, scheinen sie sehr wohl zu wissen, wie unzutreffend dieser historische Analogschluß ist. Wäre Venezuela, wie sie auf wenn auch recht einfältige Art nahezulegen versuchen, eine Ein-Mann-Diktatur, bräuchten die Gegner von Präsident, Regierung und anwachsender Basisbewegung in Hinsicht auf die Parlamentswahlen gar nicht zu agitieren und zu mobilisieren, weil ein Diktator sich weder ums Parlament noch um irgendeine andere Institution eines demokratischen Staates zu kümmern bräuchte - sonst wäre er ja keiner.

Kardinal Urosa erhob desweiteren Vorwürfe gegen das Parlament, genauer gesagt gegen die von der Regierungspartei PSUV gestellte Mehrheit in der venezolanischen Nationalversammlung. Diese habe, so der Kirchenführer im Gestus eines (vermeintlich) versierten Staats- und Verfassungsrechtlers, die Verfassung verletzt, indem sie Gesetze aus der Verfassungsreform verabschiedet habe, die im Referendum von 2007 abgelehnt worden seien. Daß ausgerechnet ein erklärter Chávez-Gegner wie Kardinal Urosa die angebliche Verletzung einer Verfassung beanstandet, die nach dem Amtsantritt von Präsident Chávez ein erster Meilenstein war, um unter Beteiligung vieler gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen die Grundlage für den noch immer nicht abgeschlossenen Entwicklungs- und Transformationsprozeß zu schaffen, entbehrt nicht einer gewissen Komik.

Eine reale, um nicht zu sagen verfassungsrechtliche Grundlage hat dieser Schnellschuß allerdings nicht. In den einschlägigen, dem Gesetzgebungsverfahren gewidmeten Verfassungsartikeln steht nirgends geschrieben, daß Entwürfe, die Gegenstand einer (gescheiterten) Verfassungsreform waren, nicht später im Gesetzgebungsverfahren als Gesetze verabschiedet werden könnten. Für Fragen der Verfassungsmäßigkeit verabschiedeter Gesetze ist - laut Verfassung - nicht ein Kirchenführer zuständig, sondern der Senat für Verfassungsfragen beim Obersten Gerichtshof. Kardinal Urosa maßt sich insofern ein Urteil und eine Entscheidungskompetenz an, die zwar seine politischen Absichten offenlegen, im übrigen jedoch ebenso substanzlos sind, wie es eine Gesetzes- oder Parlamentsschelte durch Repräsentanten einer der beiden deutschen Großkirchen in Deutschland wäre.

Urosa allerdings, der vom in Bayern geborenen Papst Benedikt XVI. 2005 zum Erzbischof von Caracas und 2006 zum Kardinal ernannt wurde, woraus auf eine gewisse Rückendeckung für den regierungsfeindlichen Kirchenmann seitens des Vatikan geschlußfolgert werden kann, griff Präsident Chávez sogar persönlich an. Dieser habe eine "gewalttätige, ausschließlich totalitäre Tendenz" [1], befand der Kardinal, der damit nicht nur den Präsidenten verunglimpfte, um nicht zu sagen beleidigte, sondern dessen Wählerschaft gleich mit. Auf diese Ebene persönlicher Entgleisungen begab der Präsident sich seinerseits nicht, womit er die Vorhaltungen des Kardinals schon entkräftete bzw. auf diesen zurückfallen ließ. In seiner wöchentlichen Kolumne schrieb Chávez, es widerspräche "unserer Verfassung, wenn Urosa und die CEV [die Venezolanische Bischofskonferenz, Anm. d. SB-Red.] es nicht schaffen, den säkularen Charakter unseres Staates anzuerkennen und zusammen versuchen, sich als Staatsmacht darzustellen" [1]. Zugleich ergriff der Präsident die Gelegenheit, das Verständnis seiner Regierung von Demokratie, Sozialismus und Marximus noch einmal auf den Punkt zu bringen [1]:

Wir schreiten voran zur umfassenden Demokratisierung, die wir den Bolivarianischen Sozialismus nennen und deren ursprüngliches Ziel darin besteht, dem Volk die Macht zu geben, so dass es sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen kann. Der Marxismus ist für uns ein Werkzeug, das uns hilft, die Menschheit, die Gesellschaft, und die Geschichte zu verstehen, und nicht ein Dogma oder eine Vorschrift.

Bei den bevorstehenden Wahlen wird sich herausstellen, ob dieses politische Programm, der hier angedeutete Kampf um sozialistische Ziele, abermals die mehrheitliche Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung findet oder ob Einflüsterungen von der Machart Kardinal Urosas den Lebensnerv der Menschen überhaupt zu treffen imstande sind. Der Kirchenführer darf sich jedenfalls nicht darüber wundern, daß angesichts seines Affronts an seine zustimmende Beteiligung am Putschversuch gegen Präsident Chávez im Jahr 2002 erinnert wird. Urosa, damals noch Erzbischof von Valencia, hatte am Tag nach dem Putsch, als noch nicht absehbar war, daß sich das Volk Venezuelas "seinen" Präsidenten binnen weniger Tage zurückholen würde, gegenüber der Zeitung Notitarde den Staatsstreich gerechtfertigt.

Chávez sei "ein Albtraum" [2] gewesen, so befand der - wenn auch voreilig - siegessichere Kirchenführer im April 2002. Für Urosa, die katholische Kirche und die politische Rechte beileibe nicht nur in Venezuela dauert dieser "Albtraum" bis heute an, ein Schrecken, von dem die ehemaligen Machthaber noch immer nicht begriffen haben, daß das ihnen verhaßte Phänomen einer sozialistischen Entwicklung niemals (allein) mit dem Wirken eines einzigen Menschen erklärt werden kann, mögen diesem auch noch so charismatische Eigenschaften zugeschrieben werden (können).

Anmerkungen

[1] Klerus im Clinch mit Chávez, Politische Aussagen des Erzbischofs von Caracas heizen Konflikt zwischen Regierung und Kirche in Venezuela an, von James Suggett, übersetzt von Regina Ellwanger, amerika 21, 15.07.2010,
http://amerika21.de/nachrichten/2010/07/3880/kirche-chavez

[2] Putschisten gegen Robin Hood. In Venezuela muß sich Kardinal Urosa für Angriffe auf Hugo Chávez verantworten, von André Scheer, junge Welt, 20.7.2010

20. Juli 2010