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DILJA/1304: Referendum in der Türkei - Doppelzüngigkeit der EU tritt offen zu Tage (SB)


Verfassungsreform der Regierung Erdogan mit großer Mehrheit angenommen

Eine "Demokratisierung" der Türkei wäre der EU jedoch nur genehm, wenn damit ein Zuwachs ihrer Einflußmöglichkeiten einherginge


Fast 50 Millionen Wahlberechtigte waren am Sonntag in der Türkei aufgerufen, über das von der AKP-Regierung um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgelegte, 26 Punkte umfassende Paket für eine Reform der dem Land nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 aufgezwungenen Verfassung abzustimmen. Das Ergebnis fiel eindeutiger aus, als es sich die AKP-Regierung, die eine 55prozentige Zustimmung angestrebt hatte, zuvor in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte, denn es votierten mit 58 Prozent weitaus mehr Menschen für die Verfassungsreform, als die AKP auf eigene Wähler zurückgreifen kann, hatte sie doch die letzten Parlamentswahlen 2007 mit 46,6 Prozent gewonnen. Die demokratische Legitimation der Verfassungsreform steht somit außer Frage, zumal nicht die geringsten Anzeichen darauf hindeuten, daß bei diesem für Erdogan auch im Hinblick auf die im kommenden Jahr bevorstehenden Parlamentswahlen geradezu bahnbrechenden Ergebnis mit unlauteren Mitteln "nachgeholfen" worden sein könnte.

Dieses Referendum war an einem "historischen" Datum abgehalten worden, das zudem einen inhaltlichen Bezug zur Verfassungsreform aufwies. Vor genau 30 Jahren, am 12. September 1980, hatte im NATO-Staat Türkei das Militär mit klammheimlicher oder hier und da gar offener Unterstützung seiner westlichen Partner geputscht. Im Januar desselben Jahres hatten die USA mit der Türkei die Errichtung von 26 Militärstützpunkten inklusive des mit 5000 US-Soldaten bemannten Luftwaffenstützpunktes Incirlik vereinbart, nachdem die strategische Bedeutung der Türkei nach dem Sieg der islamischen Revolution im Iran 1979 noch enorm zugenommen hatte. Die Türkei avancierte zum Stützpfeiler wie Sprungbrett westlicher Interventionsabsichten und Hegemonialbestrebungen in der Region, und so konnte aus Sicht der NATO-Staaten eine politische Entwicklung der türkischen Republik, die mit dieser ihr zugeschriebenen Rolle nicht vereinbar gewesen wäre, unter keinen Umständen geduldet werden.

Der Militärputsch vom 12. September 1980 brach keineswegs aus dem Nichts über die türkische Bevölkerung herein, sondern wies eine Vorgeschichte auf, die seinen Eintritt sowie den weiteren Verlauf der Ereignisse vorhersagbar gemacht hatte. Infolge des "Ölschocks" von 1973 waren die Auslandsschulden der Türkei in den 1970er Jahren auf astronomische 20 Milliarden US-Dollar angestiegen, wodurch die Republik in eine Schuldknechtschaft- und abhängigkeit manövriert werden konnte, die ihrer damaligen politischen Führung, der Minderheitsregierung des Ministerpräsidenten Süleyman Demirel von der konservativen Gerechtigkeitspartei AP, eine gegen das eigene Volk gerichtete Politik abverlangte. Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, mußten die an die Kreditvergabe geknüpften Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) erfüllt werden, und so wurde dem Land eine soziale wie politische Eiszeit auferlegt: Löhne und Gehälter wurden eingefroren, Sozialleistungen wie Lebensmittelsubventionen drastisch gekürzt, die eigene Währung abgewertet, das Streik- und Tarifrecht aufgehoben usw.

Im September 1980 befand sich die Türkei in einer politisch insgesamt sehr aufgeheizten Lage, zu deren Zuspitzung das immer offenere Agieren rechter Todesschwadrone, der sogenannten "Grauen Wölfe", bei denen es sich um die Jugendorganisation der als faschistisch geltenden und die Minderheitsregierung Demirel stützenden Nationalen Bewegungspartei MHP handelte, beigetragen hatte. Politische Morde, die mehrheitlich auf die "Strategie der Spannung" der Konterguerilla der NATO (Gladio) zurückzuführen waren und das Land "putschbereit" machen sollten, führten wie auch die ungeachtet des Streikverbots durchgeführten Massenstreiks zur Machtergreifung der Militärs. Als 55.000 Arbeiter streikten und dieser Ausstand auf weitere 300.000 Beschäftigte ausgeweitet zu werden drohte, wurden mit brutalster Gewalt und massenhafter Repression die vom Westen gewünschten politischen Verhältnisse (wieder-) hergestellt.

Flankiert von 3000 Soldaten einer Schnellen Eingreiftruppe der NATO, die am Vortag des Putsches in der Türkei mit einem "Manöver" begonnen hatten, ging das türkische Militär gegen die Streikenden sowie die gesamte politische Opposition gewaltsam vor. Die Zahlen der Betroffenen der damit eingeleiteten und das Land noch über Jahre im politischen Würgegriff haltenden staatlichen Repression sind so hoch, daß im nachhinein mit politischer Naivität gefragt werden könnte, wieso die europäischen bzw. NATO-Partner der Türkei dies hätten zulassen können. Nach Angaben des Münchner Journalisten und Buchautors Nick Brauns [1] wurden nach dem Putsch 650.000 Menschen festgenommen, von denen ein Jahr später noch immer 123.000 politische Gefangene inhaftiert waren. Fast alle Gefangenen wurden gefoltert, 460 bereits im ersten Jahr nach dem Putsch exekutiert.

Um diesen nicht anders als diktatorisch zu nennenden Verhältnissen eine demokratische Fassade zu verleihen, verordnete der von den Militärs gebildete Nationale Sicherheitsrat 1982 dem Land eine Verfassung, die formal den Übergang zur Demokratie gewährleisten sollte, de facto jedoch die Macht der Militärs im Staat festschrieb. Über diese Verfassung durfte im ganzen Land keine kritische Diskussion geführt werden. Unter den gegebenen repressiven Bedingungen gaben 91 Prozent der Wähler ihre Zustimmung. Diese Verfassung, die nach Maßstäben und Werten westlicher Demokratievorstellungen auch von konservativer Seite aus nicht als "demokratisch" bezeichnet werden kann und wird, weshalb die EU nicht müde wird, zumindest pro forma eine Demokratisierung der Türkei anzumahnen, gilt seit fast dreißig Jahren in ihren Kernbestandteilen unverändert.

Dies erklärt die hohen Zustimmungswerte für die jetzige Reform der Erdogan-Regierung ungeachtet der kritischen Stimmen, die ihr ihre Halbherzigkeit vorwerfen und stattdessen eine völlige Neufassung der Verfassung, die dann tatsächlich als demokratisch bezeichnet werden könnte, vorschlagen bzw. einfordern. Erstaunlicherweise wird auch seitens der konservativen bundesdeutschen Presse in die Kritik miteingestimmt ganz so, als hätten die deutschen Bundesregierungen gleich welcher Parteizugehörigkeit seit 1980 nicht zunächst den Putsch und dann die anschließenden Putschverhältnisse unterstützt. So hieß es beispielsweise in der FAZ nach dem am Sonntag von der AKP-Regierung gewonnenen Verfassungsreferendum [2]:

Das Verfassungsreferendum in der Türkei war vor allem ein Referendum der verpassten Möglichkeiten. Viele undemokratische Bestandteile bleiben unangetastet. Erdogan hat im Falle eines Wahlsiegs im Jahr 2011 eine komplett neue Verfassung versprochen. Es bleibt abzuwarten, ob er sich daran erinnern wird. (...)

Von dem aufrichtigen Bestreben nach einer umfassenden Demokratisierung, auf die der Europas Demokratien um Jahrzehnte hinterherhinkende türkische Polizei- und Obrigkeitsstaat dringend angewiesen wäre, sind die Verfassungsänderungen allerdings keineswegs getragen.

Der nun angenommene Reformentwurf enthält, so halbfertig und unausgegoren die damit in Anspruch genommene Demokratisierung des türkischen Staates auch immer ausfallen mag, einige wesentliche Punkte, die für die kemalistische, das Land seit Gründung der Republik dominierende Elite inakzeptabel sein werden. Bei "Welt Online" liest sich der Zusammenhang zwischen der alten Verfassung, den politischen Verhältnissen in der Türkei und dem jetzigen Referendum unter Berücksichtigung der Kemalisten folgendermaßen [3]:

Die Republik stand bislang unter der Kuratel des Militärs. Die Generäle hatten nach dem Putsch 1980 rasch wieder freie Wahlen erlaubt, aber sie ließen eine Verfassung schreiben (und per Referendum legitimieren). Diese Verfassung richtete Auswahlmechanismen für Justiz, Verwaltung und Militär ein, die dem Militär - über die personelle Besetzung des Staatsapparates - großen Einfluss in der Politik sicherten. Ein positives Ergebnis der Volksabstimmung käme einer politischen Entmachtung der Armee gleich.

Viele Änderungen sind nicht kontrovers und entsprechen europäischen Vorstellungen. Datenschutz, mehr Rechte für Arbeitnehmer, Frauen, Rentner, ein Ombudsmann - all dies kommt in Brüssel gut an. Kritiker sehen jedoch eine Art "Zuckerguss" über den Punkten, auf die es eigentlich ankommt: Die Reform des Verfassungsgerichts und des "Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte". Beide Institutionen würden mehr Mitglieder bekommen, was das politische Gleichgewicht zugunsten der AKP verschieben könnte, ohne gegenwärtige Mitglieder aus diesen Institutionen entfernen zu müssen. Bisher tendierten sie zu einer "kemalistischen" Weltsicht, also zum Status quo zugunsten der Armee.

Diese Argumentation ist in sich zirkelschlüssig, wird doch geflissentlich außer acht gelassen, daß die Richterbestellung durch das Parlament in den meisten europäischen Staaten gang und gäbe ist und die höchste Gewähr einer "demokratischen" Justiz bietet, da die Abgeordneten vom eigentlichen Souverän, dem Volk, legitimiert wurden. Wenn nun in der bundesdeutschen Presse versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als seien die beschlossenen Reformvorhaben ihrerseits undemokratisch, weil sie den Einfluß der AKP-Regierung stärken würden, könnte sich dies schnell als Boomerang erweisen, der auf diejenigen, die diese Vorwürfe erheben, ein denkbar schlechtes Licht wirft. Die AKP repräsentiert als gewählte Regierung mehr als jede andere türkische Partei und vor allen Dingen auch mehr als der von Kemalisten und Militärs gebildete Rechtsblock den politischen Willen der Bevölkerung, und dies gilt für die mit noch größerer Mehrheit angenommene Verfassungsreform nicht minder.

Wer dann noch als Argument anbringt, daß nach dem angenommenen Referendum eine "Abrechnung mit den Putschisten von 1980" folgen könnte, weil die Reform es ermöglicht, "sie nachträglich vor Gericht zu stellen" [3], läuft Gefahr, als Parteigänger der kemalistischen Opposition bewertet zu werden. Erdogan selbst bezeichnete die jetzigen Verfassungsänderungen nur als einen ersten Schritt, wenn auch bereits "von historischer Bedeutung". Er strebt nach eigenem Bekunden ein Präsidialsystem nach dem Vorbild der USA an, womit er auch unter den EU-Europäern eigentlich schwerlich auf Kritik stoßen dürfte. Die EU-Kommission hat dem Reformpaket bereits ihren Segen erteilt und erklärt, dies sei ein positiver Schritt auf dem Weg zu einer liberalen Demokratie.

Zu den Änderungen gehört neben dem bereits erwähnten größeren Einfluß des Parlaments auf die Ernennung der Richter eine Einschränkung der Zuständigkeit der Militärgerichte, die von nun an nicht mehr über Zivilisten urteilen dürfen und auch in Fragen der Sicherheit des Staates und der Auslegung der Verfassung ihre bisherige Zuständigkeit an Zivilgerichte abgeben müssen. Es steht zu befürchten, daß die Klasse der Militärs, die sich ihrem Selbst- sowie dem bisherigen Verfassungsverständnis nach als die obersten Hüter des Staates und seiner (laizistischen) Grundsätze betrachtet, dies als inakzeptabel bewerten wird. Was dies in einer Republik, deren jüngere Geschichte eine ungleich höhere Zahl an Militärputschen und -putschversuchen aufweist als jeder andere westliche Staat, mag sich jeder ausmalen, der die Entwicklung und Konfliktlinien in der Türkei aufmerksam verfolgt.

Beim Putsch von 1980, der sich auf den Tag genau am Tag des Referendums zum 30. Mal jährte, soll das türkische Militär nach Angaben der New York Times erklärt haben, nicht ohne das Einverständnis der US-Regierung zu handeln. Ein Sprecher des US-Außenministeriums soll dies seinerzeit bestätigt und erklärt haben, daß die USA vom Staatsstreich des türkischen Militärs vorab informiert gewesen seien. Somit dürfte unter der Voraussetzung, daß eine Kontinuität zwischen der im Notfall zum Mittel des Militärputsches greifenden politischen Rechten in der Türkei und ihren in den NATO-Staaten und namentlich den USA zu verortenden Verbündeten unterstellt werden kann, die bange Frage danach, ob nach dem jüngsten Referendum der Türkei ein neuer Putsch drohen könnte, nicht ohne Einbeziehung Washingtons beantwortet werden können. Da die USA eine Entwicklung der türkischen Republik, wie dieser seit geraumer Zeit immer wieder unterstellt wird, hin zu einem "islamischen" Staat angesichts der kaum noch verhohlenen Angriffsabsichten gegenüber dem Iran kaum gutheißen wird, kann insofern keine Entwarnung gegeben werden.

Anmerkungen

[1] Der NATO-Putsch. Geschichte. Vor 30 Jahren ergriff das Militär die Macht in der Türkei. Das nordatlantische Bündnis, besonders die USA und Deutschland, sichert den Staatsstreich zu Beginn der neoliberalen Ära ab. Von Nick Brauns, junge Welt, 11.09.2010, S. 10

[2] Türkische Verfassung. Weitere Korrekturen nötig. Von Michael Martens, F.A.Z., 13. September 2010,
http://www.faz.net/s/RubA24ECD630CAE40E483841DB7D16F4211/Doc~E282AC33FADD24F73B206A2FB1B6D421B~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[3] Verfassungsreform. Türkei rüttelt mit Referendum an Atatürks Erbe. Von Boris Kálnoky, Welt Online, 12.09.2010,
http://www.welt.de/politik/ausland/article9581108/Tuerkei-ruettelt-mit-Referendum-an-Atatuerks-Erbe.html

13. September 2010