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DILJA/1319: Kampagnenthema Nahrung - Venezuela Vorbild in puncto Hungerbekämpfung (SB)


Venezuela - das Beispiel, vom dem hierzulande niemand etwas wissen will

Während in Deutschland die ARD-Themenwoche "Essen ist Leben" anläuft, hat Venezuela die UN-Milleniumsziele in Sachen Armuts- und Hungerbekämpfung vorzeitig erfüllt


Mit viel medialem Getöse ist mittlerweile die bundesweite ARD-Themenwoche "Essen ist Leben" angelaufen. Alle angeschlossenen Fernseh- und Rundfunkanstalten beteiligten sich in der Zeit vom 22. bis zum 29. Oktober mit einer Vielzahl dem Thema Nahrung gewidmeten Beiträgen an einer Kampagne, über deren tatsächliche Stoßrichtung noch Unklarheit vorherrschen dürfte. Unter Federführung des Norddeutschen Rundfunks (NDR) durchgeführt, fasse der Titel dieser insgesamt fünften Themenwoche eine "breite Themenpalette" zusammen, die "vom Hunger in der Welt und in Deutschland bis zur Frage: Wie ernähre ich mich richtig?" reiche, so NDR-Intendant Lutz Marmor [1]. Für viele Menschen in Deutschland können Hunger und Mangelernährung keine Fremdwörter sein oder Begriffe darstellen, mit denen sie bestenfalls bemitleidens- und bespendenswerte Menschen in den fern Deutschlands und Europas definierten Hungerregionen der Welt assoziieren können.

Ein Schattendasein in Hinsicht auf ein äußert geringes, wenn überhaupt vorhandenes Interesse der vorherrschenden Medien führen seit vielen Jahren hier in der Bundesrepublik Deutschland die sogenannten Lebensmitteltafeln, ohne die es in einem der reichsten Staaten der Welt sicherlich längst zu nicht mehr zu leugnenden Hungertoten gekommen wäre. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich um ein bundesweites Netz auf das ehrenamtliche Engagement von rund 40.000 unbezahlten Helfern gestütztes System, dem 848 "Tafeln" in ganz Deutschland angehören. Ihnen allen gemein ist, daß auf diesem Wege Lebensmittel, bei denen es sich ausnahmslos um Spenden aus dem Bereich der Nahrungsindustrie handelt, zu einem Minimalpreis an bedürftige und mittellose Menschen abgegeben werden.

Durch diesen ohne Beteiligung und finanzielle Unterstützung offizieller Regierungsstellen organisierten Notbehelf werden rund eine Million Menschen versorgt. Im Juni 2009 stellte sich bei einem Treffen des Bundesverbands Deutsche Tafel in Göttingen heraus, daß die Zahl der Tafel-Kunden seit 2008 um 100.000 gestiegen und erstmals die Grenze von einer Million überschritten habe. Eine weitere Verschlechterung der Situation wurde vorhergesagt, da im Zuge der Wirtschaftskrise zwar nicht das Spendenaufkommen gesunken, die Nachfrage jedoch so sehr gestiegen sei, daß die pro Tafel-Kunden ausgegebene Menge an Lebensmitteln gesunken sei.

Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes, appellierte an die Politik, endlich eine Lösung für dieses Problem zu finden und nicht länger eine ihr obliegende Aufgabe, nämlich die Daseinsvorsorge, den Tafeln zu überlassen. Am 24. Dezember 2009 erneuerte der Bundesverband diesen Aufruf und kritisierte die Bundesregierung für ihre Untätigkeit. Die Daseinsvorsorge müsse eine staatliche Aufgabe bleiben, so Häuser abermals, doch gefruchtet haben diese Appelle und Proteste bekanntlich bis heute nichts. In Mecklenburg-Vorpommern, also auch im Einzugsbereich des Norddeutschen Rundfunks, werden, wie der Vorsitzende des hiesigen Landesverbandes, Willi Grabow, am 11. August 2010 erklärte, inzwischen rund 25.000 Menschen, unter ihnen 10.000 Kinder, täglich versorgt, was gegenüber 2009 eine Zunahme um 5.000 Menschen darstelle.

Kaum einen Monat später äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Thema. Vor ihrer Abreise zum Gipfeltreffen der Vereinten Nationen mit dem Schwerpunkt Hungerbekämpfung beklagte sie Defizite beim Kampf gegen Hunger und Armut auf der Welt und beschwor die Staatengemeinschaft, wie um von sich bzw. der Politik der deutschen Bundesregierung abzulenken, "schneller" zu werden. Der Hunger im eigenen Land, die offenkundige Notlage von mindestens einer Million Menschen, die sich dank der Tafeln mehr schlecht als recht über Wasser halten können, ist in ihrer Lesart kein Thema wie auch in den hiesigen Medien die Auffassung vorgehalten wird, Hunger sei ganz woanders und hier in Deutschland habe man bestenfalls mit einer den Betroffenen durch das Bezichtigungsargument, sie würden sich "nicht richtig" ernähren, zulastbaren Mangel- und Fehlernährung zu kämpfen.

Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß das Beispiel eines Staates, dessen Regierungspolitik in Sachen Armuts- und Hungerbekämpfung nachweislich so erfolgreich ist, daß in diesem Land die auf dem Milleniumsgipfel ausgegebene Zielsetzung, Armut und Hunger bis 2015 zu halbieren, vorzeitig erfüllt werden konnte, hierzulande auf ein breites Desinteresse gestoßen ist. Die Rede ist von Venezuela, dem aus Sicht der hiesigen Eliten schlechtgelittensten Staat Lateinamerikas, dessen sozialistische Regierung um Präsident Hugo Chávez den Frontstaaten kapitalistischer Verwertungsdoktrinen und neoliberaler Zukunftsmodelle gerade deshalb so verhaßt sein dürfte, weil ihre Sozialpolitik Ergebnisse aufgezeigt hatte, die das mit Ewigkeitscharakter wiedergekäute Sozialversprechen der westlichen Staatenwelt allein durch ihr Beispiel Lügen zu strafen imstande ist.

Wer den offiziellen Verlautbarungen der venezolanischen Regierung keinen Glauben schenken möchte, weil die Konsequenzen, Schlußfolgerungen und Fragestellungen, die sich daraus in Hinsicht auf die bundesdeutschen Verhältnisse ableiten ließen, einfach zu unbequem sind, wird doch nicht gänzlich ignorieren können, was die zuständigen Stellen bei den Vereinten Nationen dazu erklärt haben. So hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) unlängst Venezuela auf einer Pressekonferenz in Caracas ausdrücklich zu den Fortschritten bei der Reduzierung von Armut und Hunger beglückwünscht [2]. Alfredo Missair, Sprecher der FAO, erklärte bei dieser Gelegenheit, daß Venezuela mit seiner Sozialpolitik die Milleniumsziele für 2015 vorzeitig erfüllt habe und als Vorbild für die Region Lateinamerikas gelten könne.

Wie der venezolanische Vizepräsident Elías Jaura anläßlich des Welternährungstages am 16. Oktober 2010 bekanntgegeben hat, erhalten in Venezuela bis zu fünf Millionen Menschen durch öffentliche Mensen, Schulkantinen und Obdachlosenküchen tägliche, vom Staat finanzierte Mahlzeiten. Die Regierung Venezuelas, so Jaura, betrachte die Ernährungssicherheit als ein Menschenrecht und werde dies künftig nicht mehr den "freien Märkten" überlassen [2]. Nach Regierungsangaben ist der durchschnittliche Kalorienverbrauch in Venezuela in den zurückliegenden zehn Jahren um 31 Prozent gestiegen. Zu diesem Erfolg beigetragen hätten Jaura zufolge auch das staatliche Lebensmittelunternehmen PdVAL sowie die Supermarktkette Mercal, weil diese verbilligte Lebensmittel anböten zugunsten von 14 der insgesamt 27 Millionen Venezolaner.

Dies wurde vom FAO-Sprecher Missair am 18. Oktober ausdrücklich gelobt. Missair unterstrich, daß in Venezuela die Zahl der von Unterernährung betroffenen Menschen in den 1990er Jahren noch bei 7,7 Prozent gelegen habe, inzwischen jedoch auf aktuell 3,7 Prozent reduziert werden konnte. Wie Marilyn Di Luca, Direktorin des Nationalen Ernährungsinstituts (INN), bei der Vorstellung des venezolanischen Ernährungsberichts bekräftigte, werde an der vollständigen Bewältigung des Problems gearbeitet. "Wir müssen die Strategie verfeinern und auf Karten im gesamten Land die Gemeindebezirke lokalisieren, wo die größte Notwendigkeit besteht um dieses Ziel zu erreichen", so Di Luca [3].

Gegenüber dem lateinamerikanischen Fernsehsender TeleSur unterstrich Di Luca, daß die verbesserte Ernährungssituation in Venezuela auf die Politik der Regierung Chávez und im wesentlichen auch auf eine gesteigerte Lebensmittelproduktion, die mit dem gestiegenen Bedarf habe Schritt halten können, zurückzuführen sei. "Die Tonnen an verteilten Lebensmitteln im gesamten Land liefern die Dinge, die die Menschen brauchen und mehr als sie brauchen. Heute haben alle Zugang zu Fleisch. Der Verbrauch an Hühnerfleisch stieg um 45 Prozent, beim Getreide um 80 Prozent und Mais um 200 Prozent, verglichen mit den früheren Jahren" [3], erläuterte die INN-Direktorin.

Wenn Venezuela und damit ein Staat, dessen gesellschaftlich- technologischer Entwicklungsstand eigentlich nicht mit dem eines weltweit führenden Industriestaat, nämlich Export-Vizeweltmeister Deutschland verglichen werden kann, in der Armuts- und Hungerbekämpfung greifbare Resultate aufweist, während in dem vergleichsweise reichen Deutschland die bittere Realität verarmter und sehr wohl auch hungernder Menschen totgeschwiegen wird, spricht dies Bände und stellt der aufwendig inszenierten ARD-Themenwoche nicht gerade ein gutes Zeugnis aus. "Hunger gibt es in Europa nun wirklich nicht", lautete eine am 24. Oktober 2010 auf NDR Info im Zuge der ARD-Themenwoche kolportierte Behauptung...

Anmerkungen:

[1] ARD Pressemeldung "Essen ist Leben": ARD stellt Paten der Themenwoche 2010 vor, Stand: 09.03.2010,
http://www.ard.de/intern/presseservice/-/id=8058/nid=8058/did=1404636/8od1je/index.html

[2] UN-Organisation lobt Sozialpolitik Venezuelas, amerika21.de, 21.10.2010,
http://amerika21.de/meldung/2010/10/16051/uno-venezuela-sozialpolitik

[3] Bessere Ernährungssicherheit in Venezuela. Regierung und UNO ziehen positive Bilanz der Lebensmittelproduktion und -versorgungssituation in dem südamerikanischen Land. Anerkennung von UNO. Von Albert Köstler, amerika21.de, 23.10.2010,
http://amerika21.de/nachrichten/2010/10/16152/ernaehrungssituation-venezuela

25. Oktober 2010