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DILJA/1362: Das zweite Vietnam der USA? Unerwünschte Kriegsentwicklung in Afghanistan (SB)


US-geführte Kriegsallianz in Afghanistan ohne Ausweg

Westlicher Hegemonialkrieg entwickelt sich zu einem "zweiten Vietnam"


Am vergangenen Wochenende hatten die westlichen Besatzungsstreitkräfte in Afghanistan ihren in diesem bislang fast zehnjährigen Krieg größten Verlust an Menschenleben zu verzeichnen. Niemals zuvor waren durch einen einzigen Angriff der Aufständischen soviele Soldaten getötet worden. Wie die NATO-Einsatztruppe ISAF am 6. August in Kabul bestätigte, wurde in der vorherigen Nacht ein US-Transporthubschrauber durch eine von Talibankämpfern abgeschossene Rakete aus der Luft geholt; alle Insassen - 30 US-Soldaten, sieben Angehörige der afghanischen Streitkräfte sowie ein Übersetzer - kamen dabei ums Leben. Im Nordwesten Pakistans wurden ebenfalls am Samstag an einem Versorgungsterminal außerhalb der Stadt Peshawar 28 Tanklastwagen durch eine Bombe angegriffen, die 16 Fahrzeuge vollständig zerstörte und einen Großbrand auslöste. Verletzte oder Tote hat es nach Polizeiangaben nicht gegeben.

Dieser Angriff traf die Logistik der westlichen Kriegführung in Afghanistan an seiner empfindlichsten Stelle, müssen doch rund 80 Prozent der Nachschub- und Versorgungsgüter für die rund 130.000 dort stationierten ausländischen Soldaten inklusive des Treibstoffs über die Landroute transportiert werden. Bereits im vergangenen Jahr wurden über 200 Transport- und Militärfahrzeuge zerstört; und so löste der jüngste Angriff auf die Achillesferse der gesamten Kriegführung nicht nur unter den Militärs in Kabul, sondern auch im Berliner Verteidigungsministerium große Besorgnis aus. Allein unter militärischen Gesichtspunkten wird die Frage, ob sich dieser Krieg bzw. die Beteiligung Deutschlands daran "noch lohne", ob also die aufgewendeten Mittel, die in Kauf zu nehmenden Verletzten und Toten auch unter den eigenen Soldaten noch in einem aus Sicht der politischen Verantwortungsträger sinnvollen und vertretbaren Verhältnis zu seinem bislang erzielten und möglicherweise noch realisierbaren Nutzen steht, kaum noch zu beantworten sein.

Dabei ist es schon makaber und politisch eigentlich völlig unverantwortlich, eine solche Frage nach militärischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen bewerten zu wollen. Tatsächlich scheint sich jedoch die Politik der Kriegführung namentlich im Afghanistankrieg derart zugespitzt zu haben, daß die militärische Logik, käme sie tatsächlich zum Tragen, weitaus früher zu einem Abbruch militärischer Maßnahmen führen würde als die Entscheidungen, die gemäß des Primats der Politik Vorrang vor dem Militärischen haben und in demokratisch strukturierten Staaten auch haben müssen. Mit anderen Worten: Es muß für die Fortführung des Afghanistan-Krieges, der seitens der NATO-Staaten in dem Land am Hindukusch seit fast einem Jahrzehnt geführt wird, ohne daß die Realisierung der Kriegsziele näher gerückt oder das Land auch nur ansatzweise hätte unter Kontrolle gebracht werden können, Gründe geben, die nicht militärischer, sondern politischer Natur sind.

Um zu verdeutlichen, wie verfahren, um nicht zu sagen aussichtslos sich die militärische Lage im Afghanistankrieg nicht erst angesichts der aktuellen, massiv verstärkten Angriffe der Aufständischen, sondern schon seit mindestens zwei Jahren darstellt, genügt ein kurzer Rückblick. Anfang Oktober 2009 waren zwei US-amerikanische und zwei afghanische Soldaten in der Provinz Nuristan durch einen Angriff mehrerer hundert Aufständischer auf zwei Stützpunkte getötet worden, am Tag zuvor waren zwei weitere US-Soldaten von einem afghanischen Polizisten erschossen worden. Zu jener Zeit waren dies die höchsten Verluste, die die Besatzungsstreitkräfte seit über einem Jahr zu verzeichnen hatten. Insgesamt 394 von ihnen waren 2009 bis zu diesem Zeitpunkt bereits getötet worden, mehr als in all den Kriegsjahren zuvor.

Da auch die Anzahl der stationierten ausländischen Soldaten, die Ende 2009 bei knapp 100.000 gelegen hatte, gegenüber 2006 mehr als verdreifacht worden war, liegt die Schlußfolgerung, daß die Ablehnung der Besatzungstruppen und darauf fußend auch der Besatzungswiderstand ansteigt, je mehr fremde Soldatenstiefel das Land betreten, auf der Hand. Die zusätzliche Truppenaufstockung der Obama-Regierung von knapp 100.000 im Jahr 2009 auf derzeit 140.000 bestätigt dies; offenkundig konnte der den Besatzungsstreitkräften entgegengebrachte militärische Widerstand in den zurückliegenden Jahren nicht eingedämmt oder gar gebrochen werden, sondern hat - im Gegenteil - an Zahlenstärke und militärischer Schlagkraft noch dazugewonnen. Am vergangenen Sonntag erklärten Repräsentanten westlicher Geheimdienste nach Angaben der Nachrichtenagentur dapd in Hinsicht auf den von den Taliban abgeschossenen Transporthubschrauber und die dadurch verursachten 38 Todesopfer, daß Hinweise untersucht werden, denen zufolge "sich unter den ebenfalls an Bord befindlichen afghanischen Soldaten ein Selbstmordattentäter befunden haben könnte". Ein NATO-Offizier wird mit den Worten zitiert, daß es, sollte es den Taliban gelingen, "ihre Kämpfer immer öfter in die westlichen Truppen zu schleusen", "mit unserer Sicherheit endgültig vorbei" [1] sei.

Doch zurück ins Jahr 2009 und zur damaligen Lageeinschätzung westlicher und auch deutscher Militärexperten, die angesichts der seit Mai 2009 anwachsenden Kämpfe sowie der Ausdehnung der Kriegshandlungen auf das benachbarte Pakistan Parallelen zum Vietnam-Krieg zogen, der bekanntlich mit dem erzwungenen und von den amerikanischen Eliten sehr wohl als "Gesichtsverlust" empfundenen Rückzug der "Supermacht" USA endete. So erklärte der frühere Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Lothar Rühl bereits vor zwei Jahren, daß es nicht mehr angebracht sei, von einem Afghanistankrieg zu sprechen, da die dortigen Kämpfe mit denen in Pakistan zu einem "Kriegsgebiet Südwestasien" verschmolzen seien. Rühl sagte einen Übergang von einem Guerilla- zu einem Partisanenkrieg voraus und zog eine Parallele zum Vietnamkrieg, in dem eine solche Entwicklung 40 Jahre zuvor ungeachtet der militärischen Überlegenheit der US-Streitkräfte, die bis 500.000 Soldaten im Land hatten, und der einheimischen Armee zu verzeichnen gewesen wäre. Südvietnam sei, so Rühl, durch diesen Krieg "ausgehöhlt" worden, und genau dieses Problem stelle sich nun in Afghanistan und Pakistan [2].

Mit einer solchen Einschätzung stand bzw. steht Lothar Rühl nicht allein. Ebenfalls vor zwei Jahren traf Jürgen Heiducoff, ein Oberstleutnant der Bundeswehr, der als militärpolitischer Berater an der deutschen Botschaft in Kabul tätig gewesen war, in einer Analyse der damaligen Lage Feststellungen, die weder in Berlin noch in Brüssel, Washington oder Kabul auf großes Verständnis gestoßen oder überhaupt zur Kenntnis genommen worden sein dürften. In einem von der jungen Welt dokumentierten Beitrag [3], in dem er seine "persönliche Meinung" darlegte, erklärte er, daß es für die Afghanen keinen Unterschied mache, ob die teilnehmenden ISAF-Staaten diesen Krieg als Krieg (wie die USA) oder als "militärischen Einsatz" (wie Deutschland) bezeichneten; sie würden in zunehmendem Maße deren Vorgehensweise als die von Besatzern betrachten. Seiner Einschätzung (von 2009) zufolge würde die Aufstandsbewegung die meisten Teile Afghanistans zwar "nicht wirklich" kontrollieren, doch man könne ihre "zunehmende Flexibilität und Bewegungsfreiheit" nicht leugnen, weshalb es ihnen möglich sei, in Gebieten zuzuschlagen, in denen niemand mit ihnen rechne. Ihr Einfluß reiche, so Heiducoff, nicht nur an die Stadtgrenzen Kabuls heran, sondern zum Teil auch in die Stadt hinein. Durchaus aufschlußreich sind auch seine Einschätzungen über die Aufständischen [3]:

Die Aufständischen sind nicht mit den Taliban der 90er Jahre und auch nicht mit der Terrororganisation Al Qaida gleichzusetzen. Sie rekrutieren sich zunehmend aus den Söhnen der verarmten paschtunischen Bauern, die keine Perspektive im Lande Karsais sehen. Sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft unter der gegebenen Machtkonstellation verloren. Sie haben keine Zeit, weitere Jahre zu warten, bis der Einfluß der Zentralregierung bis in ihre Lebenssphäre reichen wird. Ihre Familien würden verhungern. Sie verstehen die Politik der Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft nicht. Wie sollten sie dies auch, wurden doch ihre Dörfer regelmäßig immer wieder bombardiert?

Der deutsche Bundeswehroffizier benannte in seinem Beitrag auch die "bisher ständig zunehmende unverhältnismäßige militärische Gewalt beim Einsatz der westlichen Truppenkontingente" und stellte bereits vor zwei Jahren fest, daß neben den nächtlichen Hausdurchsuchungen, den Verletzungen von Tradition und Ehre, den willkürlichen Festnahmen sowie der schnellen Anwendung von Schußwaffen in unklaren Situationen "vor allem die immer wieder zu beklagenden zivilen Opfer den Hauptgrund für den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Karsai-Administration dar[stellten]" [3]. Da das Töten und Verletzen von Zivilisten in den seitdem vergangenen beiden Jahren nicht beendet oder zumindest reduziert, sondern im Zuge der forcierten Angriffe sogar noch intensiviert wurde, haben Heiducoffs Einschätzungen und Mahnungen nichts an Aktualität eingebüßt. Sein Fazit - "Seien wir ehrlich, ISAF wird es auch künftig nicht möglich sein, das gesamte Land zu kontrollieren" - ist zwar plausibel und stichhaltig, enthält jedoch den "Fehler", daß es, wie zu vermuten steht, in einem unauflösbaren Widerspruch zu den Zielsetzungen steht, um deretwillen die beteiligten Nationen unter Führung der USA diesen Krieg zu führen und eben nicht zu beenden gewillt sind.

Diese Gründe müssen aus Sicht derer, die diesen Krieg zu verantworten haben, so unabweislich und alternativlos sein, daß sie bereit zu sein scheinen, sehenden Auges in ein "zweites Vietnam" zu schliddern. Namentlich die US-amerikanische Führung müßte sich der tatsächlichen Dimension dieser Gefahren- und Gemengelage, um das einmal aus ihrer Sicht zu formulieren, eigentlich bewußt sein, dürfte doch der wohl einflußreichste Clan außenpolitischer Berater, Vordenker und Militärstrategen, nämlich der als geostrategischer Großmeister geltende Politikwissenschaftler, Rockefeller-Zögling und Sicherheitsberater zur Amtszeit des demokratischen Präsidenten James Carter (1977-1981), Zbigniew Kazimierz Brzezinski und dessen Familie noch immer über einen erheblichen Einfluß in Washington verfügen. In der Washington Post hatte Zbigniew Brzezinski im August 2007 dem damals noch recht unbekannten Barack Obama den politischen Weg geebnet; Sohn Mark Brzezinski arbeitete frühzeitig als außenpolitischer Berater in Obamas Wahlkampfteam mit.

Parallelen liegen nicht nur zwischen dem Vietnam-Krieg der USA vor vier Jahrzehnten und dem Krieg in Afghanistan auf der Hand, sondern auch zum Afghanistankrieg der Sowjetunion, die sich, wie man heute weiß, in Afghanistan in einen für sie nicht gewinnbaren Krieg hatte manövrieren lassen. Dieser währte acht Jahre und endete 1988 mit einem den wenig später erfolgten Niedergang der Sowjetunion einleitenden Rückzug. Diese Entwicklung eingefädelt und befördert zu haben, sollte sich abermals zehn Jahre später Zbigniew Brzezinski rühmen, so als sei dies seinem persönlichen taktischen Geschick und einer entsprechenden Weitsicht zu verdanken gewesen. Bislang hat ihm diesen wenn auch zweifelhaften Ruhm noch niemand streitig gemacht. Die Sowjetunion hatte ihren Einmarsch nach Afghanistan mit einer verdeckten Einmischung der USA begründet, was ihr zunächst niemand geglaubt hatte. Am 15. Januar 1998 gab Zbigniew Brzezinski der französischen Wochenzeitung "Nouvel Observateur" ein Interview, in dem er auf die Frage, ob er diese Einmischung nicht bereue, antwortete [4]:

Was denn bitte? Diese geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie bewirkte, daß die Russen in die afghanische Falle getappt sind. Sie sind in die afghanische Falle getappt, und Sie wollen, daß ich das bedauere? Am Tag, als die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, habe ich dem Präsidenten Carter sinngemäß geschrieben: Wir haben jetzt die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu bescheren. Moskau hat fast zehn Jahre lang einen für sein Regime unerträglichen Krieg führen müssen, einen Krieg, der die Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Reiches nach sich gezogen hat.

Legen die aktuellen Kriegsereignisse sowie die Zuspitzung der letzten Jahre, die offensichtlich den Wunschvorstellungen und Zielvorgaben der westlichen Besatzungsstreitmacht zuwiderläuft, nicht die Vermutung nahe, daß sich die US-geführte Kriegskoalition in Afghanistan ebenfalls in einen für die beteiligten Regierungen "unerträglichen" Krieg manövriert hat? Und stehen nicht insbesondere die USA, die es am allermeisten besser wissen könnten, im Begriff, ihrerseits in eine Falle zu laufen, die sie nach eigenem Bekunden ihrem einstigen Systemfeind so erfolgreich gestellt haben? Beschert sich Washington ein "zweites Vietnam"? Die Stichhaltigkeit der Argumente, die für eine solche Schlußfolgerung und Einschätzung sprechen, bringt umso dringlicher die Frage aufs Tapet, welchen Zielen dieser Krieg tatsächlich dienen soll. Wer vermag noch zu glauben, daß es sich um einen Verteidigungskrieg der westlichen Staatengemeinschaft handelt, weil angeblich vom damaligen Afghanistan aus Nine-Eleven organisiert worden sei?

Weitaus plausibler ist demgegenüber die Annahme, daß dieser Krieg globalstrategisch aus Sicht derer, die ungeachtet des bereits eingetretenen militärischen Desasters nicht bereit sind, ihn abzubrechen, ein absolut notwendiger Schritt ist, um die eurasische Landmasse unter die eigene Kontrolle zu bringen. Das gegenwärtige "Kriegsgebiet Südwestasien" (Rühl) liegt geostrategisch sozusagen auf dem Weg bzw. ist ein unverzichtbarer Brückenpfeiler, wenn es gilt, mittel- bis langfristig die verbliebenen Konkurrenten wie Rußland, aber auch China, unter Kontrolle zu bringen. Die Hartnäckigkeit, mit der die heutigen Entscheidungsträger an dem Afghanistan- und Pakistankrieg festhalten, scheint den Verdacht zu erhärten, daß der Westen angesichts des sich abzeichnenden Kampfes um die Globalkontrolle über die verbliebenen Nahrungsressourcen, Energieträger und Rohstoffe sein finales Heil in der Kontrolle Eurasiens unter Einsatz aller dafür erforderlichen militärischen Mittel sucht bzw. finden zu können glaubt.



Anmerkungen

[1] US-Hubschrauber in Afghanistan abgeschossen, junge Welt, 08.08.2011, S. 1

[2] Kriegsgebiet Südwestasien, german foreign policy, 16.06.2009

[3] Vom Konflikt zum Krieg. Dokumentiert. Volksaufstand und Versöhnung in Afghanistan - ein langer Prozeß. Von Jürgen Heiducoff, junge Welt, 31.07.2009, S. 10

[4] Zitiert aus: Warum Tschetschenien? Von Thomas Immanuel Steinberg, junge Welt, 25.09.2004

10. August 2011