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DILJA/1375: Repressionslogik made in USA - Occupy-Wallstreet-Proteste werden nicht geduldet (SB)


Brachiale Polizeigewalt im Mutterland zivilgesellschaftlicher Umsturzbewegungen


Seit September vergangenen Jahres macht in den USA die "Occupy-Wallstreet"-Bewegung von sich reden. Die scheinbar über Nacht entstandenen Proteste "von unten" weisen eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem sogenannten Arabischen Frühling auf. Auch zu der Bewegung der Empörten in Spanien besteht eine inhaltliche wie strukturelle Nähe und Ähnlichkeit, handelt es sich doch in beiden Fällen um Bürgerproteste von Menschen, die nicht länger gewillt sind, den sich auch in die gesellschaftliche Mitte unaufhaltsam hineinfressenden sozialen Niedergang widerspruchslos hinzunehmen. Als am 24. September 2011 in New York eine recht überschaubare Gruppe friedlich demonstrierender Frauen bei ihrem Protestmarsch von Polizeikräften regelrecht angegriffen und, wie auf Youtube kurz darauf zu sehen war, mit brutalster Polizeigewalt konfrontiert wurde, hatte dies einen Effekt, mit dem die Stadtoberen nicht gerechnet haben dürften.

Das Youtube-Video wurde eine Million Mal heruntergeladen. Die Empörung US-amerikanischer Bürger und Bürgerinnen wuchs angesichts der gut dokumentierten Polizeibrutalität gegenüber Protestierenden, die sich ihrerseits strikt an das Konzept gewaltfreien Widerstands gehalten hatten, explosionsartig an mit dem Resultat, daß sich binnen weniger Tage, Wochen und Monate immer mehr Menschen der Protestbewegung, die bald unter dem Namen "Occupy Wallstreet" nicht nur stadt- oder landesweit bekannt werden, sondern ihren Weg in die Nachrichtenkanäle weltweiter Medien finden sollte, anschlossen. Die New Yorker Polizei, für die Sicherheit auch im Wallstreet-Bezirk verantwortlich, beförderte mit ihren Übergriffen das Anwachsen einer Bewegung, die sie mit harter Hand an der Entstehung eher gern gehindert hätte. Namhafte Intellektuelle schlossen sich der sich schnell ausbreitenden Protestbewegung an, so beispielsweise der Filmemacher Michael Moore, der auf seine Weise zu den zivilgesellschaftlichen Protesten beitrug [1]:

Es hat bereits angefangen, auf andere Städte überzugreifen. Und es wird sich weiter ausbreiten. - Es werden Zehntausende und Hunderttausende von Menschen sein. - Die Mehrheit der Amerikaner ist wütend auf die Wall Street - Deswegen haben wir bereits eine Armee von Amerikanern, die nur darauf warten, dass irgendjemand etwas tut, und etwas hat gerade begonnen.

Die Anregungen für dieses "Etwas Neues", wie Moore sagte, hätte - wenn es denn der Anregung überhaupt bedurft hätte - den Publikationen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Gene Sharp entnommen sein können. Sharp gilt als einer der profiliertesten Verfechter des sogenannten Gewaltfreien Widerstands in der westlichen Hemisphäre. Der heute 83jährige Veteran, um nicht zu sagen geistige Vater zivilgesellschaftlicher Umsturzbewegungen, wie sie in vielen Ländern der Welt in der Nach-Kalter-Krieg-Zeit anzutreffen waren und sind, wird als wesentlicher Ideengeber der demokratischen Revolutionen in den Ländern des Arabischen Frühlings gesehen. Diese Ideen konnten zur Zeit des Kalten Krieges, als Gene Sharp bereits als Vordenker der Friedensbewegung galt und die bundesdeutschen Grünen um Petra Kelly ohne Erfolg versuchten, sein Werk ins Deutsche übersetzen zu lassen, noch nicht ihre volle Wirkung entfalten. Offensichtlich war "die Zeit" erst nach dem vermeintlichen Zusammenbruch des Sowjetsystems "reif" für die subtileren und nach Maßgabe auch der psychologischen Kriegführung, wie sie insbesondere auch von US-amerikanischen Geheimdiensten und Forschungsinstituten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben worden war, weitaus effizienteren Konzepte zur Durchsetzung US-amerikanischer oder generell westlicher Interessen.

Das 1983 von Gene Sharp gegründete "Albert Einstein Institute" (AEI) gilt als US-amerikanische Nichtregierungsorganisation, die sich weltweit der Verteidigung von Freiheit und Demokratie sowie der Reduzierung politischer Gewalt durch gewaltfreie Aktionen [1] verschrieben hat. Das AEI steht bzw. stand nach eigenen Angaben Widerstands- und Demokratiebewegungen beratend zur Seite, so auch in Myanmar, Thailand, Tibet, Estland, Lettland und Litauen, in Serbien und Weißrußland. Die Liste dieser Namen - und welch ein Narr würde hier einen Zufall vermuten wollen - ähnelt in frappierender Weise den Staaten, die nach Auffassung Washingtons bzw. der westlichen Staatenelite eine ihm nicht genehme politische Führung oder ein aus westlicher Sicht inakzeptables politisches Gesellschaftssystem aufweisen. In der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" wurde das Werk Gene Sharps im März 2011, als die "Revolutionen" in Tunesien und Ägypten scheinbar mit Erfolg soeben durchgeführt werden konnten, gebührend gewürdigt [3]:

Die von Sharp entwickelten Strategien des gewaltlosen Widerstands sollen für das Gelingen der Revolutionen in Tunis und Kairo maßgeblich gewesen sein. Es war nicht das erste Mal, dass Sharps Ideen von Praktikern rezipiert wurden. Mitte der Achtziger übergab Kelly seine Schriften dem DDR-Bürgerrechtler Gerd Poppe, was dieser heute als eine wichtige Inspiration für den Herbst 1989 wertet. Deutlicher war die serbische Studentenbewegung Otpor von Sharp beeinflusst. Zur Vorbereitung des Sturzes von Präsident Milosevic im Jahr 2000 verteilten seine Helfer in Zusammenarbeit mit der Demokratie-Stiftung Freedom House 5000 Exemplare seines Buches Von der Diktatur zur Demokratie. Ehemalige Otpor-Mitglieder berieten wiederum ukrainische, georgische und später ägyptische und tunesische Dissidenten und verbreiteten dort die Bücher Sharps und die diese zusammenfassenden Filme.

Sharps Hauptwerk, das inzwischen in 41 Sprachen übersetzte Buch "Von der Diktatur zur Demokratie" [4], diente demnach als Anleitung, weil darin niedergeschrieben und erklärt sei, wie man "gewaltfrei Revolutionen macht und Diktatoren stürzt" [3]. Wer aber definiert, welcher Staat und welcher Regent als Diktatur bzw. Diktator gilt und welcher nicht? Es liegt auf der Hand, daß Sharp und die Seinen die alleinige Definitionshoheit, die Washington als Gravitationszentrum des westlichen Hegemonialbestrebens in dieser Frage beansprucht, ohne jede Bezugnahme auf die Problematik einer solch hochbrisanten Thematik zu akzeptieren und zur Grundlage der eigenen, gewaltfreien Propaganda zu machen bereit sind. Damit erweisen sich die ideellen Vorkämpfer scheinbar gewaltfreier Protestformen als formal ausgegliederte Appendices einer Administration, die seit langem erkannt hat, daß ihre atomaren Overkill-Kapazitäten nicht ausreichen und nahezu hinderlich sind, um die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln einer ausreichend großen Anzahl der auf dem gesamten Planten lebenden Menschen zu erlangen. Sharps Rezeptbuch gewaltfreier Protestformen enthält eine Vielzahl von Methoden, wie in der Zeit nachzulesen ist [3]:

198 Methoden werden aufgelistet. Sie umfassen alle Arten von Streiks, Boykotten, Demonstrationen sowie den Aufbau einer Parallelgesellschaft - etwa des Schwarzmarkts oder der Untergrundpresse. Auch das "Sick-In" ist dabei, ein massenhaftes Krankmelden zu einem abgesprochenen Termin. Sharp möchte seinen Lesern vor allem klarmachen, dass sie in Wirklichkeit die Macht über die Regierenden haben, da sie die Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat jederzeit aufkündigen können.

Doch was geschieht, wenn wie im Herbst vergangenen Jahres bis dato unbescholtene US-Bürger anfangen, die Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat aufzukündigen und, wie in vielen Städten der USA bereits geschehen, mit Protestmärschen, Kundgebungen, Platzbesetzungen und, ganz in der Manier des Arabischen Frühlings, mit Zeltlagern eine andere Welt durchsetzen wollen und einer Regierung, die die Interessen der 99 Prozent ihrer Bürger, die sich durch sie nicht (mehr) vertreten fühlen, offenbar ignoriert, den Gehorsam verweigern? Daß die US-amerikanische Occupy-Wallstreet-Bewegung immer und immer wieder mit brutaler Polizeigewalt konfrontiert ist, stellt keinen Widerspruch zur Politik der Regierung in Washington dar, sondern ist nur konsequent zu nennen. Schließlich kann ihr vorgebliches Bemühen, die übrige Welt an ihren Demokratie-Vorstellungen genesen zu lassen, aller Schönfärberei entkleidet, als ziviles Mittel felsenharter Weltmachtsansprüche identifiziert werden, die selbstverständlich keinen innenpolitischen Protest im freiesten aller freien Länder zulassen.

Anmerkungen

[1] http://www.democracynow.org/seo/2011/9/28/something_has_started_michael_moore_on
zitiert aus: The People vs. Wall Street. Brutale Polizeiübergriffe lassen die Proteste gegen die Wall Street in New York und in anderen Städten der USA rasch anschwellen. Von Tomasz Konicz, telepolis, 30.09.2011,
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35585/1.html

[2] The Albert Einstein Institution - Background
http://www.aeinstein.org/organizationsc506.html

[3] Der Demokrator. Ein Mann wird überall gelesen, wo friedliche Revolutionen entstehen: der 83-jährige Gene Sharp. Jetzt braucht ihn Nordafrika. Und morgen China? Von Johannes Thumfart. DIE ZEIT, 3.3.2011, Nr. 10, S. 1,
http://www.zeit.de/2011/10/Gene-Sharp/seite-1

[4] "Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung". Von Gene Sharp. 2008 erstmals auf deutsch erschienen im C.H. Beck Verlag, München


4. Januar 2012