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DILJA/1393: In memoriam Jassir Arafat (SB)


Exhumierung des 2004 verstorbenen Palästinenserführers soll dessen mögliche Vergiftung klären



Vor acht Jahren, am 11. November 2004, starb in einem Militärkrankenhaus im Süden von Paris der Palästinenserführer Jassir Arafat im Alter von 75 Jahren. Als am 12. November 2004 zwei ägyptische Militärhubschrauber in Ramallah landeten, um den Leichnam Arafats zu seiner letzten Ruhestätte zu bringen, bedrängten Tausende Palästinenser den Landeplatz, um ihrem Präsidenten die letzte Ehre zu erweisen und ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Das Begräbnis Arafats ließ jeden Zweifel an der politischen Bedeutung, die dieser Palästinenser für sein Volk und dessen Befreiungskampf auch in seinen letzten Tagen, Wochen und Monaten gehabt hat, verstummen. An Jassir Arafat, dessen Todesursache offiziell noch immer als ungeklärt gilt, zu erinnern, erscheint gerade in diesen Tagen mehr als geboten, da angesichts der nun wohl bevorstehenden Exhumierung des Palästinenserführers die Gefahr besteht, daß im Zuge der medialen Aufregung um die Frage nach einer möglicherweise nun nachweisbaren Vergiftung Arafats in Vergessenheit geraten könnte, daß die über seinen Tod hinausreichende Bedeutung damit nur mittelbar und rudimentär in Verbindung steht.

Jassir Arafat war unbezweifelbar die von allen Palästinensern und palästinensischen Organisationen anerkannte Führungspersönlichkeit des ganzen palästinensischen Volkes und wurde von vielen seiner eigenen Landsleute respektiert, geachtet und geliebt und sicherlich auch kritisiert und vielleicht sogar gehaßt. Gleichwohl und ungeachtet aller politischen Differenzen, die es zu seinen Lebzeiten innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung wie auch in der palästinensischen Gesellschaft insgesamt gegeben haben mag, war es mit einem lebenden Arafat nicht möglich, die palästinensischen Organisationen, wie es in den Folgejahren geschah, bis über die Grenze einer politischen und sogar geographischen Spaltung hinaus gegeneinander auszuspielen. Arafat stand mit allem, was er für die Palästinenser repräsentierte und wovon er ungeachtet seiner prinzipiellen Verhandlungsbereitschaft gegenüber Israel zu keinem Zeitpunkt vollständig abzurücken bereit war, für den Anspruch der Palästinenser auf eine Beendigung der jahrzehntewährenden israelischen Besatzung.

Der Tod Arafats hat eine bis heute nicht geschlossene Lücke hinterlassen, weil es keinem palästinensischen Führer oder Politiker nach ihm vergönnt war, so sehr mit dem Selbstverständnis und der Identität des palästinensischen Volkes identifiziert zu werden, daß niemand es gewollt hätte, sich wegen politischer oder strategischer Differenzen gegen ihn zu stellen. Der weit über seinen Tod hinausreichende Respekt, den die Palästinenser und Palästinenserinnen bis heute Arafat zollen, steht in unmittelbarer Verbindung zu dessen Unbeugsamkeit, die ihn, obgleich er zu Kompromissen, die von etlichen Palästinensern sogar als zu weitgehend empfunden wurden, bereit war, eine gewisse "rote Linie" niemals überschreiten ließen. Jassir Arafat lebte in den letzten beiden, seinem Tod vorausgehenden Jahren unter direkter Besatzung in seinem vom israelischen Militär seit dem Frühjahr 2002 belagerten Hauptquartier in Ramallah. Schon zu diesem Zeitpunkt war in Israel laut über die Tötung Arafats nachgedacht worden.

"Die Welt" merkte in ihrer heutigen Online-Ausgabe anläßlich des jüngst von einem Schweizer Institut in der Kleidung Arafats nachgewiesenen Poloniums an, daß die Tatsache, daß die britische Polizei nach dem Mord an dem russischen Ex-Spion und Regierungskritiker Alexander Litwinenko, der 2006 nachweislich durch Polonium-210 vergiftet worden war, zu dem Ergebnis gekommen war, daß nur ein "gut ausgebildeter staatlicher Geheimdienst" Polonium-210 als Gift nutzbar machen könne, im Fall Arafats den Verdacht auf die Israelis lenken würde. Erinnert wurde in diesem Zusammenhang an "Drohungen aus Jerusalem" vor Arafats Tod [1]:

Niemand zweifelt daran, dass die Israelis in einem ihrer beiden nuklearen Forschungsreaktoren auch Polonium herstellen können. Unbestätigten Berichten zufolge sollen in den 50er-Jahren mindestens zwei Forscher am israelischen Weizmann-Institut an den Folgen einer Polonium-Vergiftung gestorben sein. Auch an Drohungen aus Jerusalem hatte es vor Arafats Tod nicht gemangelt: Der damalige Ministerpräsident Ariel Scharon hatte 2002 der Zeitung "Ma'ariv" gesagt, er bedaure, Arafat 1982 während des Libanonkriegs nicht "eliminiert" zu haben. Sein Tod hätte viele Menschenleben gerettet. Gleichzeitig verwies er aber auf ein israelisches Versprechen, Arafat nichts anzutun: "Und Versprechen müssen gehalten werden." Scharons Stellvertreter und späterer Nachfolger, Ehud Olmert, ging im September 2003 noch weiter und sagte, es sei "definitiv eine Möglichkeit, Arafat zu töten". Israel werde alle Terrorführer eliminieren, und Arafat sei ein Terrorführer.

Auf Initiative der Witwe des legendären Palästinenserführers, Soha Arafat, die an ein Verbrechen glaubt, wird in Kürze aller Voraussicht nach eine Exhumierung des in Ramallah in einem Mausoleum bestatteten Leichnams vorgenommen werden, um mit letzter wissenschaftlicher Sicherheit zu klären, was den Verdacht, Arafat könnte einem Giftmord zum Opfer gefallen sein, erhärtet hat. Der katarische Fernsehsender Al Dschasira hatte das Institut für Strahlenphysik in Lausanne mit einer Expertise zum Tod Arafats beauftragt. In dem Institut waren persönliche Kleidungsstücke und Gegenstände Arafats, die ihm zu diesem Zweck ausgehändigt worden waren, untersucht worden. Dabei war eine ungewöhnlich hohe Dosis von Polonium-210 festgestellt worden, was nach Angaben des Institutsdirektors François Bochud die Schlußfolgerung zuläßt, daß Arafat vergiftet worden sein könnte, was sich wiederum jedoch nur durch eine Exhumierung zweifelsfrei nachweisen ließe. In einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger erklärte Bochud auf die Frage, wer Polonium-210 besitze [2]:

Nur wer Zugang zu einem Atomreaktor hat, kann sich so viel Polonium 210 beschaffen, um einen Menschen zu töten. Der Stoff unterliegt der Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Israel hat Polonium 210 hergestellt, Russland ebenso. Aber auch Frankreich, die USA oder der Iran sind dazu in der Lage. Der Stoff wird auch in Atombomben benutzt.

Nach Bochuds Angaben ist bislang nur ein Mord mit Polonium dokumentiert, nämlich der des russischen Regimekritikers Litwinenko. Zwischen dessen und Arafats Fall gäbe es Unterschiede, aber auch Parallelen. Beide sind innerhalb weniger Wochen verstorben, beide hatten vergleichbare Verdauungsprobleme. Bei einer Vergiftung mit Polonium reichen einige Mikrogramm im Essen oder Trinken, so der Schweizer Experte. Danach verblieben dem Opfer nur noch wenige Wochen bis zu seinem Tod. In Israel sieht man diesen Enthüllungen gelassen entgegen. Avi Dichter, der frühere Chef des israelischen Inlands-Geheimdienstes Shin Bet, erklärte die Angelegenheit zu einem innerpalästinensischen Vorgang. Vom israelischen Armee-Rundfunk befragt danach, ob Arafats Speisen möglicherweise mit Polonium-210 vergiftet gewesen sein könnten, erklärte Dichter lapidar: "Fragen Sie mich als sein Koch?" [3]

Der Verdacht, Arafat könnte - möglicherweise von einem gegnerischen Geheimdienst - ermordet worden sein, ist beileibe nicht neu. Dieser Frage ist unter anderem auch Emmanuel Francois-Suppey in seiner 2008 in Deutschland erstausgestrahlten Fernsehdokumentation "Die letzten Tage einer Legende - Jassir Arafat" nachgegangen, die im Schattenblick rezensiert wurde. In dieser Rezension ging der Schattenblick abschließend auf ein Interview mit dem früheren Leibarzt Arafats, Dr. Ashraf Al Kurdi ein, was hier aus aktuellen Anlaß noch einmal zitiert wird [4]:

Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein bei der Tehran Times erschienenes Interview, das die freiberufliche Journalistin Trish Shuh mit Jassir Arafats ehemaligem Leibarzt, Dr. Ashraf Al Kurdi am 18. Januar 2005 in der jordanischen Hauptstadt Amman führte. Das Interview trug den Titel "Arafat's doctor demands answers" und ist in einer Übersetzung des MA-Verlags vollständig im Schattenblick veröffentlicht worden. Dr. Al Kurdi wird in seinen Aussagen so konkret, daß zu fragen ist, warum er nicht auch für die Dokumentation befragt werden konnte.
Seiner Auskunft nach ist er erst am 16. Tag nach der schweren Erkrankung des 75-jährigen Arafats offiziell zu ihm gerufen worden. Arafats Ehefrau Suha habe seine Konsultation so lange hinausgezögert. Der Palästinenserpräsident, der zuvor in einem sehr guten Gesundheitszustand gewesen sei, wies nach Al Kurdis Auskunft Anzeichen einer Vergiftung auf. Der Leibarzt habe in Ramallah sogar gehört, wie Arafat selbst äußerte, er sei vergiftet worden. Obwohl die Todesursache Arafats bis zuletzt unklar gewesen war, habe sich die palästinensische Führung, die zum Zeitpunkt von Arafats Tod bis auf den Vorsitzenden Mahmud Abbas in Paris anwesend war, dagegen ausgesprochen, eine Autopsie durchführen zu lassen. Auf die Frage, ob es im Falle einer Exhumierung von Arafats Leichnam für forensische Untersuchungen eine zeitliche Grenze gebe, antwortete Al Kurdi schließlich: "Es kommt auf die verwendeten Stoffe an. Ich vermute, daß Arafat an einem 'tödlichen Gift', einem Katalysator, gestorben ist. Das war die Todesursache."

Anmerkungen:

[1] Arafat mit radioaktivem Stoff vergiftet? Al-Dschasira: Methode wie bei Litwinenko, von Michael Borgstede, Die Welt, 05.07.2012
http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article107907283/Arafat-mit-radioaktivem-Stoff-vergiftet.html

[2] "In Urinspuren von Arafat war die Radioaktivität am höchsten." Interview mit François Bochud, dem Direktor des Instituts für Strahlenphysik in Lausanne, von Thomas Knellwolf, Schweizer Tages-Anzeiger, 05.07.2012
http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/In-Urinspuren-von-Arafat-war-die-Radioaktivitaet-am-hoechsten/story/30667456

[3] Palästinenser wollen Arafat exhumieren lassen. Der Standard (Online-Ausgabe), 4. Juli 2012,
http://derstandard.at/1339639713236/Palaestinenser-wollen-Arafat-exhumieren-lassen

[4] Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → REDAKTION:
REZENSION/008: Jassir Arafat - "Die letzten Tage einer Legende" (SB),
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/redakt/mrrz0008.html
(zu dem Film von Emmanuel Francois-Suppey, Sunset Press Productions Frankreich (2007), deutsche Erstausstrahlung am Dienstag, 15. Juli 2008, PHOENIX 22.15 Uhr)

5. Juli 2012