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DILJA/1399: Chávez und kein Frieden (SB)


Totgewünschte leben länger

Hugo Chávez, wiedergewählter Präsident Venezuelas, auf dem Weg gesundheitlicher Besserung



Als die realsozialistische Staatenwelt unter Moskauer Führung ihre Existenz aufgab bzw. sich zu diesem Schritt veranlaßt oder genötigt sah, setzte auf vergleichsweise leisen Sohlen eine Offensive der vermeintlichen Siegermächte ein. Hatte sich in der finalen Auseinandersetzung mit dem größten Herausforderer, der der alteingesessenen Welt kapitalistischer Verwertung mit dem Sieg der russischen Oktoberrevolution je erwachsen war, der direkte Kampfeinsatz unter Einsatz vernichtendster Militärgewalt verboten, wollte man nicht den eigenen Untergang riskieren, konnte und mußte nach der sogenannten Zeitenwende 1989/90 abermals umdisponiert werden.

In den Schaltzentralen westlicher Hegemonialkräfte dürfte der Jubel über die Selbstabtretung der Sowjetunion kaum verhallt sein, als aus ihrer Sicht neue und weiterführende Aufgaben in Angriff genommen werden mußten. Der Systemherausforderer namens Kommunismus respektive Sozialismus war in seiner bis dato in Erscheinung getretenen Gestalt allem Anschein nach entscheidend geschlagen worden, doch das implizierte noch lange nicht den tatsächlich erhofften Sieg im Ideenstreit über Formen, Systeme und Gegenentwürfe menschlicher Vergesellschaftung. Die weltweit dominierende kapitalistische Verwertungsordnung hatte sich keineswegs mit offenem Visier dieser Auseinandersetzung um Gesellschaftsmodelle und -utopien gestellt, wie es auch gegenüber dem Anspruch bürgerlicher Demokratien angemessen gewesen wäre, behaupten diese doch, daß der eigentliche Souverän, also das Volk, über die Gesellschaftsordnung, in der er zu leben wünscht, selbst zu entscheiden habe.

Die DDR als ein zweiter deutscher Staat, der angetreten war, den Weg zum Sozialismus zu beschreiten, war seitens der kapitalistischen Bundesrepublik wie auch des westlichen Staatenblocks unter Führung der USA, in den diese nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschweißt worden war, ebenso zum Feind erklärt wie das gesamte Staatensystem der Sowjetunion. Die realen Optionen, frei von äußerem Druck und Zwängen die Verwirklichung einer Gesellschaftsutopie in Angriff zu nehmen, deren Realisierung menschheitsgeschichtlich noch immer der Erfüllung harrt, waren somit stark eingeschränkt, ohne daß deshalb die Anziehungs- und Überzeugungskraft des sozialistischen Gegenentwurfs bei vielen Menschen auch in der alten Bundesrepublik sowie den übrigen westlichen Staaten erheblich geschmälert worden wäre. Allen Widrigkeiten zum Trotz hatte der sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat, der einzige deutsche Staat, von dem tatsächlich nie Krieg ausging, soziale Errungenschaften zu verzeichnen, die ihn keineswegs zum unausweichlichen Verlierer im Systemstreit prädisponierten.

Nach der Zeitenwende 1989/90 wähnte sich die kapitalistische Staatenwelt als klare Siegerin und sah sich in der Rolle des nun alleinigen Welthegemons. Die wenigen verbliebenen kleinen Inseln wie beispielweise Kuba, auf denen noch immer die rote Fahne wehte, konnten, so wird man geglaubt haben, den historischen Sieg nicht gefährden. Nun galt es, die möglicherweise noch immer virulenten Restbestände zu entsorgen. Um eine hundertprozentige Sicherheit vor Aufrührern, Umstürzlern und Revolutionären, die der kapitalistischen Heilslehre in ihrer nun neoliberalen Ausprägung und Zuspitzung den Kampf ansagen und die Gefolgschaft aufkündigen könnten, zu gewährleisten, sollten, wie anzunehmen ist, auch die Ideen vergessen gemacht, die Geschichtsschreibung entsprechend korrigiert und der geschlagen geglaubte Erzfeind dämonisiert werden.

Was aber könnte als dies mit Hugo Chávez Frías zu tun haben, dem am 7. Oktober vergangenen Jahres mit klarer Mehrheit für eine weitere Amtszeit von 2013 bis 2019 wiedergewählten Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela? Chávez wird wie kaum ein anderer Politiker mit der Linksentwicklung nicht nur Venezuelas, sondern der gesamten Region, von der namentlich die USA einst geglaubt haben, sie hätten die Kontrolle über diesen "ihren Hinterhof" sicher, in Verbindung gebracht. Die Frage danach, wie groß sein Anteil an dieser Entwicklung tatsächlich sein mag, kann getrost vernachlässigt werden, liegt ihr doch nicht selten als eigentliche Absicht das Interesse zugrunde, den nach dem ersten Wahlsieg des venezolanischen Präsidenten in die Wege geleiteten Entwicklungsprozeß, der in Venezuela frei nach dem Befreier Simon Bolívar "Bolivarische Revolution" genannt wird, zurückzuschrauben und den Zustand der vorherigen Herrschaft wieder herzustellen.

Wäre der unbestreitbar für sehr viele Menschen überzeugende Hugo Chávez tatsächlich der charismatische Führer, dem die an einer solchen monokausalen Zuordnung interessierten inländischen wie ausländischen Gegner des heutigen Venezuelas ihr Dilemma verdanken, könnte ihr "Problem" vielleicht gelöst werden, wenn es ihnen gelänge, Chávez auszuschalten. Letztendlich wird es sich bei diesen Gegnern der "Bolivarischen Revolution" um dieselbe internationale Klasse handeln, der auch das sozialistische Kuba seit jeher ein Greuel ist und die den Niedergang der Sowjetunion als Zeitenwende feierte und frohlockte, nun bald weltweit freie Bahn zu haben.

Hugo Chávez hat allerdings, nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Akzeptanz bei der überwiegend armen Bevölkerung Venezuelas, die schon nach wenigen Regierungsjahren gesehen hat, daß dieser Präsident ihnen nicht so leere Versprechen macht wie all die Regenten aus dem bürgerlich-kapitalistischen Lager vor ihm, 2002 einen Putschversuch überlebt und überstanden; und auch alle weiteren Bestrebungen, mit tatkräftiger Unterstützung aus dem westlichen Ausland dieses Experiment eines neuen Sozialismus lateinamerikanischer Prägung zu Fall zu bringen, sind bislang gescheitert.

Daß die Gegenkräfte des heutigen Venezuelas in ihrer mißlichen Lage, da weit und breit weder ein Kandidat noch eine Partei oder ein Programm zu sehen ist, der, die bzw. das auch nur in der Lage zu sein verspräche, Chávez bzw. die Regierungspartei PSUV auf regulären Wegen entmachten zu können, nun glauben, aus der schweren Erkrankung des "Comandante" Kapital schlagen zu können, unterstreicht im Grunde nur ihre Hilflosigkeit. Schon mehrfach soll in der Oppositionspresse Venezuelas dessen Tod vermeldet worden sein. Die Regierung in Caracas hält mit einer ihrer Informationspolitik dagegen und bringt seit seiner letzten, im Dezember auf Kuba vorgenommenen Operation nahezu täglich Kommuniqués heraus, um die Bevölkerung über die jeweilige Lage zu informieren.

Dies offensichtlich mit Erfolg. So hat ein in den USA ansässiges Meinungsforschungsinstitut (International Consulting Services) eine breitangelegte Umfrage durchgeführt mit dem Ergebnis, daß 65,1 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner die Informationspolitik über den Gesundheitszustand des Präsidenten als ausreichend bis gut bewerten. Mit der späteren Vereidigung des Erkrankten - der ursprüngliche Termin wäre der 10. Januar gewesen - sollen sich demnach sogar 68,5 Prozent einverstanden erklärt haben [1]. Laut einem Kommuniqué vom vergangenen Sonntag soll eine Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes von Hugo Chávez eingetreten sein. Der Präsident sei bei Bewußtsein und kommuniziere mit Angehörigen, Ärzten und Beratern, die Lungenentzündung sei unter Kontrolle, allerdings müsse die Ateminsuffizienz weiter behandelt werden, hieß es [2].

In einer großen deutschen Zeitung wurde zur selben Zeit angemerkt, daß "die Tage des auf Kuba dahinsiechenden Hugo Chávez gezählt sind" [3]. Eine solche Haltung scheint sich auch die deutsche Bundesregierung zu eigen gemacht zu haben. Bislang wurde jedenfalls nur von dem Linksabgeordneten Gehrcke bekannt, daß er dem Präsidenten Venezuelas Genesungswünsche gesandt habe. Das offizielle Berlin scheint sich vornehm zurückzuhalten in der stillen, wenn auch sicherlich irrigen Hoffnung, daß ein Ende der Ära Chávez mit einem Ende des nach wie vor lebendigen Entwicklungsprozesses in Sachen Sozialismus, der von Lateinamerika aus auf den "alten" Kontinent überschwappen könnte, gleichzusetzen sei.

Im Dunstkreis bundesdeutscher Regierungsberater kursiert bereits der schon 1989/90 vielbenutzte Begriff der "Zeitenwende", um im Zusammenhang mit dem möglichen Ausscheiden des venezolanischen Präsidenten aus der aktiven Politik Spekulationen und Perspektiven zu verbreiten, deren Urheber und möglichen Nutznießer in diesem weit über die Landesgrenzen hinaus schwelenden Konflikt unschwer auf der Seite der einheimischen Oligarchie und ihren ausländischen Verbündeten, den westlichen Hegemonialstaaten, zu verorten sind. So wurde in einer aktuellen Analyse der die deutsche Bundesregierung in außenpolitischen Fragen beratenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) angemerkt, daß ohne Chávez womöglich mit gravierenden Umbrüchen nicht nur in Venezuela selbst, sondern auch auf Kuba sowie in dem Staatenbündnis ALBA zu rechnen sei [4].

Offensichtlich ist für die Analysten und Wortführer der alten Ordnung der Gedanke, daß die ihnen so verhaßte Linksentwicklung in Lateinamerika nicht auf einen einzigen Menschen, wie charismatisch auch immer er sein mag, monokausal zurückgeführt und damit perspektivisch auch rückgängig gemacht werden kann, sondern längst von den Bevölkerungen vieler Länder dieser Region mehrheitlich zu ihrer eigenen Sache gemacht und in Anspruch genommen wird, unerträglich. "Mittelfristig stehen in Kuba wie Venezuela Demokratie und die Transformation der wirtschaftlichen Ordnung auf der Tagesordnung" [5], glaubt die SWP mitteilen zu können und läuft doch Gefahr, als Verbreiterin von Positionen bewertet zu werden, die auf purem Wunschdenken beruhen und den Nachweis ihrer faktischen Plausibilität weitestgehend schuldig bleiben.

Das Interesse an der Entwicklung Venezuelas und im Zuge dessen auch an Hugo Chávez könnte schließlich auch hierzulande bei immer mehr Menschen erwachen, die mit der Sozial-, Armuts- und sogenannten Verteidigungspolitik im eigenen Lande überhaupt nicht einverstanden sind, kritische Überlegungen anstellen und dabei vor der Systemfrage keineswegs Halt machen und schließlich auch wissen wollen, welche Erfahrungen Menschen in anderen Regionen der Erde, aber womöglich vergleichbarer Lage, beim Kampf gegen das vorherrschende Kapitalismusmodell und den Neoliberalismus sowie der Inangriffnahme der Umsetzung der Gesellschaftsutopie Sozialismus bereits gemacht haben.


Anmerkungen:

[1] OAS-Generalsekretär Insulza: "Keine institutionelle Krise in Venezuela", Amerika21, 13.01.2013
http://amerika21.de/meldung/2013/01/75459/oas-mud-beschwerde

[2] Regierung: Gesundheitszustand von Hugo Chávez hat sich verbessert, Amerika21, 15.01.2013
http://amerika21.de/meldung/2013/01/75632/chavez-besserung

[3] Ein bisschen Öffnung. Kubas neues Reisegesetz soll vor allem Geld in die Staatskasse spülen. Von Hildegard Stausberg, Die Welt, 15.01.2013
http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article112765642/Ein-bisschen-Oeffnung.html

[4] Hoffnung auf die Zeitenwende. Informationen zur Deutschen Außenpolitik - german-foreign-policy, 17.01.2013,
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58510

[5] Günther Maihold: Zeitenwende in Lateinamerika. Venezuela und Kuba nach Hugo Chávez, SWP-Aktuell 2, Januar 2013; zit. n. [4]

17. Januar 2013