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DILJA/1417: Bärenfalle Ukraine (SB)


Schritt für Schritt in die Konfrontation?



Beim ersten Treffen seit Monaten zwischen den Staatschefs der Ukraine und Rußlands, Petro Poroschenko und Wladimir Putin, am Dienstag im weißrussischen Minsk kam es zu einer ersten diplomatischen Annäherung. Poroschenko erklärte, alle Beteiligten - auch Putin - hätten seinen Friedensplan unterstützt. So schnell wie möglich solle in der Ostukraine eine Feuerpause erwirkt werden, worüber die Ukraine, wie der russische Präsident deutlich machte, mit den Aufständischen als ihren direkten Ansprechpartnern verhandeln möge. Rußland könne sich um vertrauensbildende Maßnahmen bemühen und den Friedensprozeß, so er begänne, unterstützen. Bereits am heutigen Mittwoch soll es zu einem ersten Treffen einer Kontaktgruppe, bestehend aus Vertretern der Ukraine sowie der Aufständischen, aber auch Rußlands und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kommen, die den getroffenen Vereinbarungen gemäß regelmäßig in Minsk konferieren wird.

Dem Vernehmen nach haben Putin und Poroschenko bei ihrem ersten Vieraugengespräch auf gegenseitige Schuldzuweisungen weitgehend verzichtet. Ob es tatsächlich im Ukrainekrieg zu einer Feuerpause, deeskalierenden Gesprächen und Verhandlungen sowie einer politischen Beilegung des Konflikts kommen wird, ist eine noch völlig offene Frage, über die auch deshalb kaum belastbare Prognosen abgegeben werden können, weil die Rolle der NATO-Staaten in diesem Konflikt eine weitaus aktivere sein könnte, als es nach Lage der Dinge den Anschein hat. Mit den Worten "In Minsk entscheidet sich das Schicksal der Welt und Europas" wird Poroschenko, dessen Handschlag mit Putin in alle Welt übertragen wurde, in den Medien zitiert. Übertrieben ist diese Formulierung keineswegs, trägt doch der sogenannte Ukraine-Konflikt ein Eskalationspotential in sich, das bis zu einer Direktkonfrontation zwischen Rußland und der gesamten NATO weitergetrieben zu werden droht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte kurz vor dem Zweistundengespräch zwischen Poroschenko und Putin Flagge gezeigt, indem sie zum ersten Mal seit Ausbruch der Krise nach Kiew kam. Poroschenko hielt anläßlich des 23. Jahrestages der Unabhängigkeit des Landes Militärparaden in der Hauptstadt ab und kündigte an, für die weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee in den kommenden Jahren 2,2 Milliarden Euro bereitzustellen. Die Zusage der deutschen Kanzlerin über Finanz- und Wirtschaftshilfen für die Ukraine und eine Kreditbürgschaft über 500 Millionen Euro stellt insofern nicht nur eine politische Rückenstärkung dar, sondern kommt auf dem Finanzwege einer militärischen Unterstützung gleich.

Längst werden in diesem von vielen Experten als extrem gefährlich eingeschätzten Konflikt auch wirtschaftliche Druckmittel zum Einsatz gebracht. Dem voraus- und damit einhergehend wurde auf westlicher Seite gegen Rußland ein Bezichtigungsgefüge in Stellung gebracht, in dem Vermutungen, Unterstellungen und Behauptungen in Politik und Medien so beständig kolportiert werden, daß sie auch ohne konkrete Nachweise ihren Zweck erfüllen. Beispielsweise wird Rußland für den Abschuß der malaysischen Passagiermaschine MH17 quasi verantwortlich gemacht, obwohl ein offizieller Untersuchungsbericht bis heute ebensowenig öffentlich vorgelegt wurde wie die Flugkommunikation zwischen der Unglücksmaschine und den Fluglotsen, aus der hervorgehen würde, wieso die MH17 entgegen ihrer sonstigen Route in die Kriegszone flog.

Da sich die beteiligten Staaten, zu denen neben den Niederlanden, Australien und Malaysia, die eigene Staatsangehörige unter den 298 Todesopfern zu beklagen haben, auch die Ukraine gehört, darauf verständigt haben, Ermittlungsergebnisse nur im wechselseitigen Einverständnis zu veröffentlichen, besteht, sollte Kiew sein "Veto" einlegen, die Möglichkeit, daß dies nie geschehen wird. Von westlicher Seite wird in dieser Frage kein Druck ausgeübt. Hier scheint der Standpunkt vorzuherrschen, wie es im Spiegel kurz nach der Katastrophe formuliert wurde, daß Rußland "politisch" auch ohne einen "letzten" Beweis für den Tod der 298 Menschen verantwortlich sei, weshalb "harte Sanktionen im Finanz- und Rohstoffbereich" die richtige Antwort wären. [1] Am 31. Juli verhängte die Europäische Union "sektorale Wirtschaftssanktionen" gegen Rußland, was das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) wie folgt begründete [2]:

In Reaktion auf die Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren, insbesondere die ausbleibenden Schritte Russlands, den Zustrom von Waffen, Ausrüstung und Kombattanten über die russisch-ukrainische Grenze zu stoppen, hat die Europäische Union mit Beschluss 2014/512/GASP vom 31.07.2014 ein Waffenembargo sowie Handelsbeschränkungen für Dual-use Güter sowie Ausrüstung für den Energiebereich erlassen. Ferner sieht der Beschluss Beschränkungen des Zugangs zum Kapitalmarkt der Europäischen Union vor. Es handelt sich dabei um Maßnahmen der sog. dritten Sanktionsstufe (sektorale Wirtschaftssanktionen), die der Europäische Rat im März für den Fall fehlender Kooperation von russischer Seite angedroht hatte.

Daß die EU in ihrem Sanktionsbeschluß außer "ausbleibenden Schritten" und "fehlender Kooperation" keine konkreteren "Handlungen Russlands" benennen kann, um ihre Strafmaßnahmen zu begründen, läßt befürchten, daß die westliche Eskalationspolitik keineswegs, wie behauptet, ein wie auch immer geartetes "Einlenken" Rußlands erzwingen, sondern die Eskalation selbst vorantreiben will. Am 6. August erließ der russische Präsident per Dekret gegen all jene westlichen Staaten, die zuvor Sanktionen gegen Rußland verhängt hatten, ein einjähriges Einfuhrverbot für Lebensmittel und weitere Agrarprodukte, wovon die EU-Staaten und die USA, aber auch Länder wie Kanada, Japan und die Schweiz betroffen sind. Die Frage, ob seitens des Westens darauf spekuliert wurde, mit den eigenen Sanktionen Gegenreaktionen auszulösen, die in Rußland zu Versorgungsengpässen führen würden, die wiederum die russische Bevölkerung dazu veranlassen, gegen ihre Regierung vorzugehen, erweist sich als irrelevant.

Eine Mangelversorgung der russischen Bevölkerung steht derzeit - je nach Standpunkt - nicht zu erwarten bzw. zu befürchten. Unmittelbar nach Bekanntwerden des russischen Dekrets haben zahlreiche Staaten anderer Regionen ihre Bereitschaft bekundet, möglicherweise entstehende Handelslücken durch eine Steigerung eigener Exporte nach Rußland zu kompensieren. Bereits im Juli hatte Präsident Putin bei seiner Lateinamerika-Reise die Beziehungen Rußlands zu dieser Region intensiviert und am Gipfeltreffen der BRICS-Staaten, zu denen neben Rußland Brasilien, Indien, China und Südafrika gehören, teilgenommen. Die fünf Staatschefs dieser sogenannten Schwellenländer eint das gemeinsame Bestreben, sich gegenüber westlichen Vormachtsansprüchen durch einen eigenständigen Zusammenschluß zu behaupten.

Konkret vereinbart wurde eine Intensivierung der Handelsbeziehungen innerhalb der BRICS-Staaten. Nicht nur für Rußland erweisen sich diese Kooperationsabkommen schneller als erwartet als äußerst nützlich. "Dies ist eine Revolution für den brasilianischen Export von Fleisch, Mais und Soja", frohlockte der Staatssekretär im Agrarministerium Brasiliens, Seneri Paludo, Anfang August. "Wir können innerhalb eines kurzen Zeitraums die Produktion erhöhen, ohne den einheimischen Markt zu vernachlässigen", erklärte der Vizepräsident des brasilianischen Verbands für Tierproteine, Ricardo Santin. Im vergangenen Jahr war Brasilien mit einer Lebensmittelausfuhr in Höhe von 2,41 Milliarden US-Dollar hinter Weißrußland zweitstärkster Nahrungslieferant Rußlands gewesen, nun soll beispielsweise die Ausfuhr von Geflügelfleisch von 60.000 auf 150.000 Tonnen angehoben werden. So und ähnlich sieht es im Agrar- und Nahrungsbereich in den Handelsbeziehungen Rußlands zu weiteren Staaten aus. Die Aufforderung Moskaus, die Exporte nach Rußland zu erhöhen, ist auch in Ländern wie Argentinien, Chile, Ecuador, Paraguay und Uruguay auf ein Entgegenkommen bei Unternehmen wie Regierungen gestoßen.

Für die USA bricht der russische Agrarmarkt durch das nun verhängte Importverbot, von dem sich Washington unbeeindruckt zeigt, vollständig weg. 2013 waren US-Lebensmittel und Agrarprodukte in einem Umfang von 1,3 Milliarden Dollar nach Rußland geliefert worden. Eine Sprecherin des Weißen Hauses erklärte, daß Moskau mit diesem Schritt nur der eigenen Wirtschaft schaden und die Isolation Rußlands vorantreiben würde. In Hinsicht auf eine Regierung, die seit geraumer Zeit die ihr drohende Zahlungsunfähigkeit nur hinauszögern kann, indem sie die Verschuldungsobergrenzen immer wieder noch oben verschiebt, ist die Annahme, daß die gegen Rußland gerichteten Handelssanktionen sich nicht auch auf die eigene Wirtschaft negativ auswirkten, wenig überzeugend.

Für die EU-Staaten berechnete das niederländische Finanzkonzern ING Groep N.V. die durch das russische Importverbot erwachsenen Mehrkosten und Schäden auf insgesamt 6,7 Milliarden Euro und prognostizierte, daß in den 28 EU-Staaten 130.000 Arbeitsplätze gefährdet werden, wobei Produzenten wie auch Speditionen und Großhändler berücksichtigt wurden. Bei den von den niederländischen Wirtschaftswissenschaftlern auf ein Jahr - die Dauer des russischen Importverbots - erstellten Prognosen würde Deutschland mit finanziellen Einbußen von 1,3 Milliarden Euro und 21.000 gefährdeten Arbeitsplätzen den größten Schaden erleiden. Die Frage, ob und in welchem Rahmen es den westlichen Staaten einerseits und Rußland andererseits gelingen könnte, sanktionsbedingte Schäden der eigenen Wirtschaft zu kompensieren, entzieht sich jeder seriösen Prognose.

Offenbar ist es Rußland bereits gelungen, seine Handelsbeziehungen nicht nur zu den lateinamerikanischen Staaten, sondern auch zu China, Ägypten, Marokko und Israel sowie einigen ehemaligen Sowjetrepubliken zu intensivieren. Aufschlußreich sind die Brüsseler Reaktionen gegenüber dritten Staaten, die in dieser Situation bereit sind, ihre Nahrungsexporte nach Rußland zu intensivieren. Laut Süddeutscher Zeitung [3] seien die Beamten in Brüssel "sauer", weil keine 24 Stunden nach dem von Putin verhängten Dekret manche Länder sogar Schlange stünden, um die Importlücke zu füllen. Man sei geneigt, von "Kriegsgewinnlerei" zu sprechen, wurde ein grantelnder Brüsseler Beamter zitiert. Bedeutet dies, daß sich die westlichen Staaten bereits mit Rußland im Krieg stehend sehen?

Eine legale Handhabe gegen die Lieferungen anderer Staaten nach Rußland gibt es dem SZ-Bericht zufolge nicht. Der EU-Kommission seien "die Hände gebunden", und wer ehrlich sei, würde anerkennen, daß europäische Unternehmen ebenfalls zugeschlagen hätten, wären beispielsweise brasilianische Produkte von einem Importverbot betroffen. Nichtsdestotrotz versucht die EU, andere, ihre Rußlandpolitik offenbar nicht mittragende Staaten unter Druck zu setzen. Die eigenen Sanktionen als Folge der nach Ansicht der EU völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und einer Destabilisierung der Region durch Rußland darstellend, versuche die EU, die übrigen Staaten für ihre Position "zu sensibilisieren". In Brüssel werde gesagt, daß es, milde gesagt, nicht freundlich sei, wenn "die Lateinamerikaner den Lockrufen Rußlands erliegen sollten". [3]

Derartige Versuche der EU, außereuropäische Staaten in ihre Sanktions- und Eskalationspolitik gegenüber Rußland einzubinden, scheinen jedoch nur zu äußerst mäßigen, um nicht zu sagen gegenläufigen Resultaten geführt zu haben. Rafael Correa, der Präsident Ecuadors, wurde deutlich: "Wir werden nicht um Erlaubnis fragen, ob wir einem befreundeten Land Lebensmittel liefern können." [3] Der spanischen Zeitung El País zufolge sollen schon mehrere Staaten, unter ihnen auch China, von der EU "gewarnt" worden sein. Ihnen wurden Konsequenzen angedroht und erklärt, sie würden langfristige Beziehungen für kurzfristige Gewinne opfern. Laut European Voice erklärte ein Brüsseler Beamter, es sei "von einem politischen Standpunkt aus schwer zu rechtfertigen", für den Ausfall (Rußlands) einzuspringen. [4] Offenbar ist die Brüsseler Administration verärgert darüber, daß ihr aus Kontinenten wie Lateinamerika ein ihr unbequemes Selbstbewußtsein entgegenschlägt, und sie ist undiplomatisch genug, dies auch zum Ausdruck zu bringen: "Wir können verstehen, wenn Produzenten, Exporteure und private Unternehmen neue Möglichkeiten suchen, doch was wir nicht teilen, ist, dass Regierungen dahinter stehen." [4]

Allem Anschein nach hat Rußland in diesen Kontinenten einen besseren Stand. Im März 2012 hatte Wladimir Putin die Stärkung der Handels- und Wirtschaftskooperationen sowie die Umsetzung gemeinsamer Projekte mit afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten als Schlüsselaufgaben der Zukunft bezeichnet und mit Blick auf die BRICS-Staaten von dem Übergang "von einer monopolaren zu einer gerechteren Weltordnung" gesprochen. [5] Europa, die "frühere Oase von Stabilität und Ordnung", sei ein wichtiger Handelspartner Rußlands, weshalb die Euro-Krise die Interessen Rußlands berühre. Putin hatte eine "harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok" vorgeschlagen, die seiner Auffassung nach gleichermaßen im europäischen wie russischen Interesse läge.

Die Partnerschaft mit den USA bezeichnete der heutige russische Präsident als instabil, wobei das größte Problem darin bestünde, daß sich die politische Zusammenarbeit mit Washington nicht auf eine "feste Wirtschaftsbasis" stütze. Putin sprach sich für eine Verbesserung der Beziehungen im Sinne einer gleichberechtigten und gegenseitig respektvollen Partnerschaft aus und erklärte: "Wir sind bereit für eine sachliche und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit, für einen offenen Dialog mit allen ausländischen Partnern. Wir streben danach, die Interessen unserer Partner zu verstehen und zu berücksichtigen, bitten aber, auch unsere zu respektieren." [5]

Wer all dies ohne nähere Prüfung als rhetorische Meisterleistung bzw. ein weiteres Beispiel Putin'scher Doppelzüngigkeit zu bezeichnen bereit ist, wäre gut beraten, nicht minder kritisch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, seitens der westlichen Regierungen und ihnen zuarbeitender Medien einer Informations- und Meinungsbildungspolitik ausgesetzt zu sein, die es in höchstem Grade wert wäre, auf die tatsächlich mit ihr verfolgten Absichten hin analysiert zu werden. Wer sich daran zu erinnern bereit ist, mit welcher Unverfrorenheit die Kriege der jüngeren Vergangenheit (beispielsweise gegen den Irak Saddam Husseins) herbeigelogen und pseudolegitimiert wurden, wird sich das Mißtrauen gegenüber (unbewiesenen) Behauptungen, die das Potential in sich tragen, im Rahmen einer umfassenden Eskalationsstrategie ein anderes Land bzw. dessen Regierung zu dämonisieren bzw. zu einem Gegner aufzubauen, gegen den im so-und-so-vielten Schritt sogar militärisch zu Felde gezogen werden müßte, nicht ausreden lassen.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/wirtschaft/mh17-malaysian-airlines-und-der-konflikt-mit-russland-a-982061.html

[2] http://www.bafa.de/ausfuhrkontrolle/de/embargos/russland/index.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/russischer-importstopp-fuer-eu-lebensmittel-bananen-aus-weissrussland-1.2088482

[4] http://www.heise.de/tp/artikel/42/42523/1.html

[5] Barrieren überwinden. Position: Rußland und die Welt im Wandel (Teil II). Von Wladimir Putin. In deutscher Übersetzung veröffentlicht in junge Welt, 02.03.2012, S. 10


27. August 2014