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DILJA/1421: Daten sammeln, Füße fesseln, Präventivkontrolle ... (SB)


Auf dem Weg zur Verdachtshaft?

Scheinbegründungen für bundesweites Gefährder-Früherkennungssystem


Bislang stießen Pressemeldungen über die von deutschen Sicherheitsbehörden geplante Einführung eines neuen Computersystems namens "RADAR-iTE" in Medien und Öffentlichkeit auf eine eher geringe Resonanz. Es soll zunächst in den Bundesländern eingesetzt werden, in denen es viele sogenannte "Gefährder" gibt, und ab Sommer bundesweit. Das am 2. Februar der Öffentlichkeit vom Bundeskriminalamt als Risikobewertungsinstrument vorgestellte System ("RADAR-iTE" steht einer BKA-Pressemitteilung zufolge für eine "regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus" [1]) wurde im September 2016 fertiggestellt. Die angesichts des Berliner Anschlags vom Dezember vielleicht naheliegende Vermutung, hier sei in denkbar kürzester Zeit auf einen in diesem Zusammenhang festgestellten Mißstand reagiert worden, kann insofern verneint werden.

Laut BKA greift die Software, die in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz entwickelt wurde, "auf bereits vorliegende Daten des beobachteten Verhaltens bekannter Islamisten zu und bewertet das Risiko, ob sie eine 'schwere Gewalttat' begehen könnten". Nach "festgelegten Regeln" werde die "bewertete Person" einer dreistufigen Risikoskala, die zwischen einem hohen, einem auffälligen und einem moderaten Risiko unterscheidet, zugeordnet. [1] Daß RADAR-iTE, gefüttert mit allen Informationen, die vor dem Anschlagstag über Anis Amri vorlagen, diesen umgehend als hochgefährlich eingestuft haben soll, ist insofern nicht überraschend, als der mutmaßliche spätere Attentäter mehrfach gegenüber Informanten seine Absicht, in Deutschland einen schweren Anschlag zu begehen, geäußert haben soll.

Von dem neuen Computersystem wird behauptet, es könne, basierend auf behördlichen Erkenntnissen über die Vorgehensweise von 30 Attentätern, 30 Gefährdern sowie relevanten Personen, worunter im Sprachgebrauch der Sicherheitsbehörden potentielle Terrorhelfer zu verstehen sind, "gefährliche Gefährder" früher und besser erkennen und die Bewertung des Gefahrenpotentials objektivieren. [1] Die Frage, ob der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt hätte verhindert werden können, wäre "RADAR-iTE" zuvor schon im Einsatz gewesen, läßt sich weder bestätigen noch widerlegen. Ebensogut könnte auch vermutet werden, daß die im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) vertretenen Polizei- und Geheimdienstbehörden in den Monaten vor dem Anschlag aufgrund des damaligen Informationsstands auch ohne ein solches System zu der Einschätzung hätten kommen können, daß die Überwachung des Tunesiers, der bereits im Februar 2015 von den nordrhein-westfälischen Behörden als Gefährder eingestuft worden war, fortgesetzt werden müsse.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) räumte inzwischen ein, daß den Behörden im Fall Amri Fehler unterlaufen seien. Dieser Anschlag sei von einem Mann verübt wurde, so Jäger, über den "die Sicherheitsbehörden bundesweit sehr viel wußten". Aufgrund eines achtstufigen, internen Prognose-Modells des Bundeskriminalamtes sei Amri auf Stufe 5 eingeordnet worden, was bedeutet habe, daß der "Eintritt eines gefährdenden Ereignisses eher unwahrscheinlich" sei. [2] Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärte unterdessen im Bundestag, alle Maßnahmen der Sicherheitsbehörden hätten nicht ausgereicht, um Amri zu stoppen und den Anschlag zu verhindern. Ein etwaiges Behördenversagen scheint er schon zum jetzigen Zeitpunkt auf angebliche Gesetzeslücken zurückzuführen. Wie er ankündigte, soll mit einem neuen Gesetz Abschiebehaft für "Gefährder" erleichtert und für eine bessere Überwachung gesorgt werden, Aufenthaltserlaubnisse sollen räumlich stärker eingrenzt werden können. [3]

Doch wie ist es um die Aufklärung der Frage, ob und inwiefern es im Fall Amri staatliches Versagen gegeben habe, bestellt? Im Bundestag wird es kurz vor Ende der Legislaturperiode keinen Untersuchungsausschuß zu diesem Fall geben. Nach Angaben des SPD-Abgeordneten Burkhard Lischka will die Regierungskoalition die im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) eingerichtete Task Force mit der Aufklärung betrauen, was der Opposition jedoch nicht genüge. Da dieses Gremium für die Geheimdienste, aber nicht für die Polizei zuständig sei, könne nur der Innenausschuß des Bundestages für eine transparente Aufklärung sorgen, so zumindest die Auffassung des Linksabgeordneten und stellvertretenden Ausschußvorsitzenden Frank Tempel.

Doch auch dazu wird es aller Voraussicht nach nicht kommen. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion und Obfrau im Innenausschuß, warf den CDU/CSU-Ausschußmitgliedern eine Blockadehaltung vor, weil sie die von der Linken vorgeschlagenen Sondersitzungen ausbremsten. [4] Es müsse insbesondere geklärt werden, so Jelpke, warum nie versucht wurde, Amri wegen seiner zahlreichen Straftaten in Untersuchungshaft zu bringen. In einem Meinungsbeitrag äußerte sie aber auch grundsätzliche Kritik an der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Geheimdiensten im GTAZ. Ob diese aus grundrechtlicher Sicht zulässig ist, sei "extrem fraglich". Zur Begründung führte sie die unterschiedlichen Aufgabenbereiche von Polizei und Geheimdiensten an: [5]

Geheimdienste sind nicht zur Verbrechensbekämpfung da, und diese liegt auch nicht in ihrem Interesse. Wenn sie im Umfeld krimineller Gruppierungen tätig sind, dann wollen sie in erster Linie Kenntnisse über Strukturen und Hintermänner erlangen. Es gibt ernste Hinweise, dass sich diese Logik im Fall Anis Amri extrem schädlich ausgewirkt hat, weil der Verfassungsschutz oder ausländische Geheimdienste mehr daran interessiert waren, so lange wie möglich Informationen zu gewinnen, als einen zu befürchtenden Anschlag zu verhindern. Die Bekämpfung von Verbrechen muss wieder eindeutig Sache der Polizei werden.

Problemstellungen dieser Art scheinen die aktuellen Pläne, zur angeblich besseren und schnelleren Gefährdererkennung ein neues Computersystem einzusetzen, nicht beeinträchtigt zu haben. Eher trifft wohl das Gegenteil zu, da die ohnehin höchst unumstrittene Zusammenarbeit zwischen Polizei und Geheimdiensten aller Voraussicht nach noch fester institutionell eingebunden und in der bundesdeutschen Sicherheitsstruktur verankert werden wird.

Nach Vorstellungen der Bundesregierung sollen ausreisepflichtige Ausländer, die als Gefährder gelten, in Haft genommen werden können, auch wenn ihre Abschiebung absehbar nicht durchzuführen ist. Einer solchen Gefährderhaft erteilte Ulla Jelpke eine klare Absage. In einem Rechtsstaat dürfe es ohne ausreichende, dringende Verdachtsgründe keine Inhaftierung geben, so ihre Begründung. Wenn die Polizei mit "Prognosen" und "Annahmen" Personen in Haft bringen könne, werde die Grenze zur Willkür schnell überschritten, schrieb die Linkspolitikerin. Jemanden einzusperren, um ein Verbrechen zu verhindern, das sich noch nicht einmal im Vorbereitungsstadium befindet, würde das Ende des Rechtsstaates bedeuten. [5]

Mit dieser Kritik steht Jelpke nicht allein. Der Jurist und Politologe Jannik Rienhoff monierte schon im vergangenen Oktober, daß der Gefährder-Begriff im Polizei- und Ordnungsrecht auftauche, aber nicht "legaldefiniert" - also gesetzlich bestimmt - sei. Eine solche Kritik könnte allerdings zu einem anderen als dem offenbar intendierten Zweck, nämlich eine Inhaftierung aufgrund bloßer Verdächtigungen durch Polizei oder sogar Geheimdienste zu verhindern, führen. Würde beispielsweise die Formulierung des früheren Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich (CSU, 2011-2013), daß "Gefährder" Personen seien, "bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie erhebliche Straftaten begehen könnten", in Gesetzesform gegossen und noch dazu als Haftgrund etabliert werden, hätte dies einen Dammbruch zur Folge.

Im Zuge des Falles Amri scheint die Perforierung oder Aufhebung des Verfassungsprinzips, daß es keine Inhaftierung ohne konkreten Verdacht geben dürfe, bereits näher gerückt zu sein. Offenbar steht die Aufhebung der - rechtsstaatlich gebotenen, wenn auch faktisch längst ausgehöhlten - Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten weitaus länger auf der Agenda sogenannter Sicherheitsexperten, als es die sich nach dem Dezember-Anschlag scheinbar überschlagenden Ereignisse vermuten lassen könnten. Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, hatte sich in seinem im August 2016 Jahres erschienenen Buch dafür ausgesprochen, die Sicherheitsbehörden zu zentralisieren und ihre Kompetenzen auszuweiten. Konkret habe er die Einrichtung eines "ständigen Nationalen Sicherheitsrates" vorgeschlagen, der die Koordination von Polizei und Geheimdiensten übernehmen solle und in der Lage sein müsse, "strategische Überlegungen" anzustellen und "politische Entscheidungen" unabhängig von "irgendeiner Landtagswahl oder Koalitionskrise" zu treffen. [6]

Unterdessen mehren sich die Bemühungen, den Gefährderbegriff rechtlich zu definieren. Am 30. Januar stellten der niedersächsische SPD-Innenminister Boris Pistorius und die grüne Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz ein gemeinsames Eckpunktepapier zu Maßnahmen vor, die terroristischen Anschlägen vorbeugen sollen. Was unter einer "terroristischen Straftat" zu verstehen sei, solle demnach gesetzlich definiert werden, um auf der Basis einer solchen Definition den rechtlich indifferentem Gefährderbegriff klar zu definieren, damit dann, wenn belastbare Erkenntnisse vorlägen, daß eine terroristische Straftat geplant werde, neue Maßnahmen wie beispielsweise die elektronische Fußfessel angewandt werden könnten.

Auch in der Bundespolitik ist die Etablierung der Fußfessel für Menschen, denen "überhaupt keine Straftat vorgeworfen wird", wie Ulla Jelpke am 1. Februar betonte, ein großes Stück vorangekommen. Anlaß ist die Entscheidung des Bundeskabinetts, den Vorschlag des Bundeskriminalamtes, ins BKA-Gesetz die Option aufzunehmen, sogenannten islamistischen Gefährdern eine elektronische Fußfessel anzulegen, was bislang nur bei verurteilten Straftätern möglich war, zu beschließen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärte, Fußfesseln seien ein wichtiges Instrument zur Personenüberwachung, und forderte die Länder auf, für vergleichbare Befugnisse zu sorgen, damit es eine bundesweit einheitliche Regelung gäbe.

Auf diese Neuregelung hätten sich de Maizière und Justizminister Heiko Maas nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verständigt. Der damit angedeutete Kausalzusammenhang ist keineswegs plausibel, weshalb die Linkspolitikerin Ulla Jelpke anmerkte, Amri hätte den Lkw auch mit Fußfesseln fahren können. Der polizeiliche Begriff eines "Gefährders", der der Öffentlichkeit bereits mit dem neuen Computersystem "RADAR-iTE" als (pseudo-) wissenschaftlich fundiert präsentiert wird, da mit diesem System angeblich objektivierte Risikoabwägungen vorgenommen werden können, erhält durch den aktuellen Kabinettsbeschluß, "islamistischen Gefährdern" Fußfesseln anzulegen, scheinbar weitere Substanz und rechtliche Relevanz.

Der springende Punkt, daß es sich in jedem Fall um eine Prognose handelt, die ihrer Natur nach gar nicht anders als hypothetisch sein kann, wird auf diesen Wegen mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Ist der Gefährder-Begriff erst einmal in Gesetzesformulierungen präsent wie auch in Politik, Medien und Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert, obwohl es sich um eine reine Mutmaßung polizeilicher oder geheimdienstlicher Behörden handelt darüber, was ein Mensch möglicherweise zu tun beabsichtigt, könnte der nächste Schritt nicht weit sein. Ist ein über die bisherigen Repressionsoptionen hinausgehender Abbau rechtsstaatlicher Schranken zu befürchten, wie er in Gestalt einer dauerhaften straftatlosen Gefährderinhaftierung auf der Agenda sogenannter Sicherheitsexperten und -politiker möglicherweise schon seit längerem steht?


Fußnoten:

[1] https://www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2017/Presse2017/170202_Radar.html

[2] http://www.dnn.de/Nachrichten/Politik/Anschlagsrisiko-galt-als-eher-unwahrscheinlich

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/innenausschuss-zu-fall-anis-amri-drei-islamistische-gefaehrder-sind-vom-radar-verschwunden-1.3338648

[4] https://www.jungewelt.de/2017/01-26/043.php

[5] https://www.jungewelt.de/2017/01-28/134.php

[6] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59510

3. Februar 2017


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